zeitgeschichte|online: Seit dem Sommersemester haben Sie die Professur für “Digital History” am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Dabei handelt es sich um einen Lehrstuhl, der gerade erst im Aufbau ist. Ihr erstes Semester verlief ausschließlich digital. Wie war das für Sie? Fühlten Sie sich ins kalte Wasser geworfen – oder waren Sie aufgrund Ihrer Erfahrungen gut vorbereitet?
Torsten Hiltmann (TH): Wie Sie sich denken können, hatte ich mir meinen Einstieg an der HU etwas anders vorgestellt. Ich hätte es mir sehr gewünscht, die Studierenden direkt kennenzulernen und mit ihnen gemeinsam in einem Raum zu arbeiten. Stattdessen konnte ich nicht einmal über Videokonferenzen lehren, da wir zum Lockdown, als auch die Gebäude der Universität geschlossen waren, noch im Münsterland wohnten, mit einer wirklich schlechten Internetverbindung. Ich hatte schon einmal ein einzelnes Seminar vorwiegend digital durchgeführt, wodurch ich wusste, dass digitale Lehre bzw. Distanzlehre deutlich aufwändiger ist als Präsenzlehre. Aber der Umstand, alle Lehrveranstaltungen nicht nur digital sondern auch noch asynchron anzubieten, war doch sehr fordernd. Für das jetzige Wintersemester ist die digitale Lehre zwar immer noch herausfordernd, aber durch die veränderten Rahmenbedingungen doch erheblich einfacher. Mit einem angemessenen Internetzugang und entsprechender Technik kann ich jetzt viel mehr ausprobieren und muss nicht mehr warten, bis meine PDF endlich hochgeladen ist. Das ist für mich eine sehr wichtige Veränderung. Aber ich weiß auch, dass das nicht für alle Kolleg*innen und v.a. auch nicht für alle Studierenden gilt, worauf wir unbedingt Rücksicht nehmen sollten.
z|o: Welche Vorerfahrungen hatten Sie mit digitalen Lehrangeboten?
TH: Vor einigen Semestern hatte ich gemeinsam mit meinem Münsteraner Kollegen Jan Keupp ein webbasiertes Seminar zu mittelalterlichen Turnieren veranstaltet. Wir wollten damals gern wissen, ob das funktioniert und was sich ändert. Dabei hatten wir rasch gelernt, was geht und was nicht. Die Veranstaltung war damals asynchron geplant, was gar nicht so einfach war. So stellte sich relativ schnell die Frage, welche Formate für online-Präsentationen tatsächlich funktionieren oder auch, wie man eine asynchron geführte Diskussion organisieren kann. Ziemlich rasch ist uns auch deutlich geworden, dass mit Distanzlehre und insbesondere mit der asynchronen Lehre auf Distanz auch ein deutlich höherer Zeitaufwand verbunden ist, während es deutlich schwieriger ist, direkt mit den Studierenden zu arbeiten und sie alle in der gleichen Weise über das gesamte Seminar hinweg zur Mitwirkung zu motivieren.
Ansonsten habe ich meinen Kursen, auch denen zur mittelalterlichen Geschichte, schon immer mit verschiedenen Onlinetools gearbeitet. So haben wir in den Gruppenarbeiten statt Plakaten Online-Präsentationen erarbeitet. Aber es ist natürlich etwas anderes, in der Präsenzlehre Online-Präsentationen erarbeiten zu lassen, als im Rahmen von Videokonferenzen.
Im letzten Semester und v.a. über den Sommer habe ich jedoch noch einmal eine ganze Reihe weiterer Tools kennengelernt, welche die Distanzlehre noch einmal deutlich vereinfachen. Dazu zählen vor allem wonder.me und Miro, mit denen ich gerade herumexperimentiere. Wonder.me ist ein Videokonferenzservice, er auf einem virtuellen Raum basiert, in dem man sich frei bewegen und in unterschiedlichen Konstellationen miteinander unterhalten kann, sei es zu zweit oder in Kleingruppen. Zugleich kann man aber auch Vorträge und Präsentationen teilen, denen dann alle gemeinsam folgen können. Das bringt noch einmal eine ganz andere soziale Komponente mit ins Spiel, die zum Beispiel bei Zoom häufiger vermisst wird. Miro wiederum erlaubt es, gleichzeitig kollaborativ an Mindmaps und anderen Formen von Visualisierungen zu arbeiten, wobei man immer auch sieht, wo die anderen sind und was sie da machen, so dass man sein Vorgehen sehr gut über eine gleichzeitige Videokonferenz absprechen kann. Das öffnet den Studierenden noch einmal neue Formen der direkten Zusammenarbeit und sozialen Interaktion, die in der Distanzlehre bisweilen schon einmal abhanden kommen.
z|o: Kamen viele Anfragen von anderen Lehrstühlen an Sie, mit der Bitte um Unterstützung?
TH: Dadurch, dass die Fakultät und das Institut für Geschichtswissenschaften (IfG) sehr schnell reagierten und entsprechende Arbeitsgruppen einsetzten, die eine hervorragende Arbeit geleistet haben, kam es gar nicht so weit. Alle haben sehr schnell reagiert und wir haben in der Gruppe die unterschiedlichen Erfahrungen und Informationen zusammengetragen, aufbereitet und allen Lehrenden am IfG zur Verfügung gestellt. Gerade der Mittelbau, aber auch die Historische Fachinformatik mit Rüdiger Hohls und Thomas Meyer waren hier sehr aktiv. Sie haben viel dazu beigetragen, dass die wesentlichen Fragen rasch beantwortet wurden und es immer Ansprechpartner gab.
z|o: Wie hat die Universität Sie in der Durchführung der digitalen Lehre unterstützt?
TH: Ich fand, dass die HU sehr rasch und sehr substantiell noch fehlende Ressourcen aufgebaut hat. Einerseits gab es sehr schnell eine eigene Zoom-Instanz, aber auch Lizenzen für Camtasia und vor allem eine sehr gute Unterstützung bei der Nutzung von Moodle als Lernplattform. Hier gab es noch zusätzliche Weiterbildungsangebote, bei denen ich zum Beispiel H5P kennengelernt habe, das sich wunderbar für eine abwechslungsreiche, multimodale asynchrone Lehre eignet und das ich dann auch gleich in meiner Lehre einsetzen konnte. An anderen, spezifischeren Anforderungen arbeiten wir noch, wie z.B. an einem gemeinsamen JupyterHUB für unsere Programmierkurse. Dann bräuchten die Studierenden nicht erst langwierig Software auf ihren Rechnern installieren, was nie ohne größere Probleme vonstatten geht. Stattdessen können sie direkt im Netz an ihrem Code arbeiten und ihn dort auch ausführen, während wir als Lehrende wiederum viel einfacher Material bereitstellen und z.T. auch direkt sehen können, was sie machen und mit ihnen darüber sprechen. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir das auch bald schaffen.
z|o: Wie beurteilen Sie ganz allgemein die Praxis des digitalen Semesters? Sehen Sie Vorteile darin gegenüber den ausschließlich analog angebotenen Lehrveranstaltungen?
TH: Naja, wir haben uns das ja leider nicht auswählen können. Mir fehlt die Präsenzlehre tatsächlich sehr. Der Austausch mit den Studierenden ist noch einmal ein ganz anderer. Und spätestens, wenn es um praktische Übungen geht, macht die Distanzlehre das Ganze doch schwieriger. Aber natürlich gibt es auch Vorteile. Der größte Vorteil ist sicherlich, dass wir damit deutlich flexibler geworden sind und unser Methodenrepertoire für die Lehre deutlich erweitern konnten. Wir mussten alle neue Formate kennenlernen und Neues ausprobieren und ich bin sicher, dass das eine oder andere auch über die – hoffentlich bald endende – Coronazeit Bestand haben wird.
z|o: Wie stehen Sie zum offenen Brief zur Verteidigung der Präsenzlehre?
TH: Für mich, das sollte deutlich geworden sein, hat die Präsenzlehre einen sehr hohen Stellenwert. Den Austausch vor Ort, das gemeinsame Gespräch, und die Treffen auch jenseits der Lehre selbst sind für Studierende wie für Lehrende sehr wichtig und lassen sich digital nur schwer reproduzieren. Aktuell sind wir aber in einer besonderen Situation. Hier geht für mich die Sicherheit vor. Natürlich würde ich mir wünschen, zumindest einen Teil meiner Lehre analog durchführen zu können. Doch sollten wir hierbei schauen, dass wir niemanden gefährden oder ausschließen, etwa weil er oder sie zur Risikogruppe zählt. Davon abgesehen denke ich aber, dass digitale Hilfsmittel in der Lehre eine große Bereicherung sind. Sei es bei der Organisation der Lehrveranstaltungen über entsprechende Plattformen, der Bereitstellung weiterer Vertiefungsangebote, oder aber bei der Vermittlung und Ergebnissicherung in den Veranstaltungen selbst, wo digitale Hilfsmittel gerade dazu beitragen können, den angesprochenen Austausch und Diskurs weiter zu dynamisieren und zu verbessern, was Lehrenden wie Studierenden neue Möglichkeiten eröffnet. Digitale Lehre und die Universität als sozialer Ort schließen sich nicht aus. Meines Erachtens sollte es vielmehr darum gehen, die mit der digitalen Lehre verbundenen Möglichkeiten in die Universität als sozialem Ort zu integrieren.
z|o: Jenseits gegenwärtiger Pandemie-Bedingungen, was fehlt unseren Universitäten im digitalen Bereich? Gibt es Beispiele in anderen Ländern, wie etwa Luxemburg, von denen wir lernen können?
TH: Das ist eine ziemlich komplexe Frage, die man sicherlich von Universität zu Universität anders beantworten muss. Aber eine nachhaltige Integration beispielsweise von Data Literacy in die Lehre, auch in den Geisteswissenschaften, zählt dazu, wie auch die notwendigen Strukturen und vor allem das IT-Personal, um die immer größer werdende digitale Infrastruktur sicher betreiben zu können. Gleiches gilt für entsprechende Angebote im Forschungsdatenmanagement und perspektivisch auch für ein die Forschung unterstützendes Research Software Engineering.
z|o: Es gibt seit vielen Jahren in den Geschichtswissenschaften Diskussionen darüber, ob Qualifikationsarbeiten im Online- bzw. Printbereich gleichermaßen zu bewerten sind. Wobei Online-Veröffentlichungen nicht wenigen etablierten Geisteswissenschaftler*innen noch immer nicht als gleichwertig gelten. Werden die digitalen Semester (denn das WS 20/21 wird sicher auch überwiegend digital durchgeführt) daran etwas ändern? Wird es, Ihrer Meinung nach vielleicht einen Schub und eine Aufwertung, digital darstellbarer Forschungsergebnisse bringen?
TH: Wenn es um den Unterschied zwischen rein digital und im Druck erschienenen Arbeiten geht, so hoffe ich zumindest, dass durch die aktuellen Erfahrungen sich einiges ändern und dass digital publizierte Forschung in gleicher Weise als seriös verstanden wird wie in print erschienene Forschung. Vielleicht haben sich ja mit der Coronakrise und den unzugänglichen Bibliotheksbeständen bisweilen auch die Lese- und Rezeptionsgewohnheiten geändert. Für mich stellt sich darüber hinaus auch die Frage, ob nicht nur das digitale Medium mehr Anerkennung finde müsste, sondern auch neue Formen genuin digitaler Forschungspublikationen entstehen müssen. Nämlich solche, welche die bearbeiteten Quellen als Daten und auch deren Verarbeitung etwa in Form dynamischer Inhalte und ausführbarer Codes mit beinhalten sollten. Letztlich ist es doch schwer vorstellbar, über genuin digitale Quellen zu arbeiten, und diese allein als Text- oder Bildausschnitt zu zitieren.