von Moritz Florin

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21. April 2022

Wie aus einer anderen Ära wirken meine Aufzeichnungen und Fotos von Reisen nach Russland und Zentralasien, die ich in diesen Tagen durchgehe. Sie erinnern mich etwa an eine Konferenz der Central Eurasian Studies Society im Sommer 2016, in einer Zeit des sorglosen Reisens, noch vor den Jahren der Pandemie und des aktuellen Krieges. In Kazan, inmitten jener Stadt, mit deren Eroberung im Jahr 1552 das Russische Imperium Gestalt angenommen hatte, trafen sich im Sommer 2016 Wissenschafter:innen und Aktivist:innen aus der Russischen Föderation, Tadschikistan, Kirgistan, Usbekistan, Kasachstan, Polen und Tschechien, aus dem Iran, Indien, den USA, Japan, Deutschland, Frankreich und Italien. Das schöne Wetter, die Ausflüge nach Svijažsk und Bolgar und die Kneipenabende vermittelten den Eindruck von Normalität, vielleicht gar eines Aufbruchs. Dennoch: Wir Teilnehmer:innen wurden das Gefühl nicht los, dass unsere Gespräche in englischer Sprache vor Ort kaum wahrgenommen wurden. Auch damals schon durchzog der Krieg in der Ukraine die Diskussionen. Es fühlte sich falsch an, diese Konferenz in einem Staat durchzuführen, der seit zwei Jahren einen Teil des Nachbarlandes besetzt hatte. Ich selbst hielt einen Vortrag auf einem Panel, das von der Diskriminierung von Tschetschenen und Krimtataren innerhalb der Russischen Föderation und auf der soeben besetzten Krim handelte, doch niemand aus der Stadt, in der wir uns befanden, hörte uns zu.

Welches war also unsere Rolle als Wissenschaftler:innen in diesem Staat, in dem muslimische Migrant:innen aus Zentralasien wie Angehörige einer niederen Kaste behandelt wurden, dessen Einwohner:innen sich angesichts der Besetzung der Krim von einem neuen Hurrapatriotismus hatten mitreißen lassen und in dem kürzlich ein Politiker wie Boris Nemcov, der sich offen gegen die Politik Putins gewandt hatte, ermordet worden war?

Der im Februar 2022 begonnene Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die bereits damals wahrnehmbare Sinnkrise unter jenen, die sich mit der Geschichte und Gegenwart des russischen Imperiums auseinandersetzen, noch verschärft. Angesichts der Gewalt des russischen Staates macht sich ein Gefühl des Scheiterns breit. „Einer der Gründe dafür, dass das möglich geworden ist, was jetzt geschehen ist, liegt in dem unverarbeiteten Thema der russischen (Post/De)Kolonialität“, schrieb kürzlich der Historiker und Ethnologe Sergei Abashin auf Facebook. Georgij Mamedov, einer der Mitbegründer des queer-feministischen Projekts „Štab“, im kirgisischen Bischkek pflichtet ihm bei. Bereits vor dem Krieg sei das Fehlen einer postkolonialen Reflexivität selbst unter russischsprachigen Akademiker:innen, Feminist:innen, Künstler:innen, LGBT-Aktivist:innen in der Kommunikation problematisch gewesen. Doch würden sich diese Risse nun zu einer moralischen und epistemologischen Kluft auswachsen, die kaum noch zu überwinden sei. Und die Historikerin Marina Mogilner befragt uns alle, die wir uns seit Jahren mit der der Geschichte des Russischen Reichs beschäftigen: „How many of us took the ‘decolonizing’ claim as an epistemological challenge to go beyond sporadic inclusions of ‘imperial peripheries’ in mainstream teaching and research?”[1]

Gerade diejenigen, die sich seit Jahren für eine Dekolonisierung des Denkens in der postsowjetischen Welt engagieren, sind nicht nur desillusioniert, sondern am Boden zerstört. Dennoch: Ich bin weiterhin überzeugt davon, dass – wie auch etwa der Münchner Osteuropahistoriker Martin Schulze-Wessel kürzlich in der FAZ schrieb – die Antwort auf Putins Projekt der Rekolonisierung Osteuropas allein in einer konsequenten Dekolonisierung unseres Denkens liegen kann.[2] Wir müssen gerade jetzt diejenigen Stimmen vernehmen, die sich bereits seit Jahren für eine dekoloniale Perspektive auf die Geschichte Osteuropas einsetzen. Es gibt solche Stimmen in der neueren Forschung zu Ostmitteleuropa, zu Polen, der Ukraine oder Belarus. Besonders zahlreich sind sie jedoch in der Forschung zu Zentralasien und dem Kaukasus. Dies mag daran liegen, dass die zentralasiatischen Republiken bereits in der Sowjetzeit in die Debatten über das Ende der Imperien und des Kolonialismus eingebunden waren.[3] Hinzu kam die kulturelle, sprachliche und religiöse Kluft zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Herrschern in Moskau, zwischen Zentrum und Peripherie. Diese Differenzen sind fraglos auch im Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine vorhanden, in der Auseinandersetzung mit Zentralasien werden sie jedoch besonders deutlich sichtbar.[4]

Aus russischer Sicht mag das, was im Verlauf des Krieges in der Ukraine in Zentralasien oder dem Transkaukasus geschieht, zweitrangig erscheinen. Doch können an den vermeintlichen Peripherien auch neue Verbindungen und Ideen entstehen. Zentralasien, Armenien oder Georgien entwickeln sich seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine zu Orten des Rückzugs und der Zuflucht. Die Zensur bleibt in diesen postsowjetischen Staaten, im Vergleich, zu Russland bislang mild. Es ist kaum verwunderlich, dass bereits jetzt russische Propagandisten zentralasiatische Blogger dafür kritisieren, die ukrainische Seite zu unterstützen und – so wörtlich – das „Gift des Pazifismus“ zu versprühen. Gleichzeitig werden die Staaten Zentralasiens und des Kaukasus zum Rückzugsort für all jene in Russland, die mit dem Krieg nicht einverstanden sind und die sich dem Zugriff des russischen Staates zu entziehen suchen. Es mehren sich die Berichte über russische IT-Spezialist:innen und junge Intellektuelle, die kurz nach Ausbruch des Krieges nach Bischkek, Osch oder auch nach Jerewan und Tiflis geflohen sind.[5] Denkbar ist, dass hier, jenseits des normativen Eurozentrismus, ein antiimperialer und postkolonialer Diskursraum erhalten bleibt, der langfristig auch wieder auf das Zentrum zurückwirken wird.

 

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Den Historikern Jan Jansen und Jürgen Osterhammel zufolge bezeichnet der Begriff der Dekolonisation nicht weniger als „die historisch einmalige und voraussichtlich unumkehrbare Delegitimierung jeglicher Herrschaft, die als ein Untertanenverhältnis zu Fremden empfunden wird“.[6] Dies ist ein großer, ja utopischer Anspruch, der in seiner letzten Konsequenz immer nur ein Projekt bleiben kann. Denn das, was als Fremdherrschaft „empfunden“ wird, ist ein weites Feld. Aus historischer Perspektive ist zudem zu bedenken, dass der Prozess der Dekolonisation in Osteuropa einige Besonderheiten aufweist. Jansen und Osterhammel schreiben hierzu:

"In der Verselbständigung der nicht-russischen Sowjetrepubliken fallen […] eher die Unterschiede [zur Dekolonisation] auf. Sie war nicht Teil einer weltweiten Bewegung und profitierte nicht von länger andauernder internationaler Unterstützung; der ‚Entspannungsprozess‘ der 1970er Jahre zielte eher auf Liberalisierung in den ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten als auf die Zerstörung der UdSSR selbst. Das Motiv des Rassismus spielte so gut wie keine Rolle, der Faktor Religion dafür – besonders in Mittelasien – eine umso größere. Die Sowjetunion war durch die unionsweite Organisation der Kommunistischen Partei auf der Elitenebene stärker integriert, als die westeuropäischen Kolonialreiche es jemals gewesen waren; die ‚Indigenisierung‘ der Herrschaftsapparate in den Republiken war ungleich stärker entwickelt als in irgendeinem der Überseereiche: eine wichtige Voraussetzung für die relativ glatte Verselbständigung."[7]

Diese Überlegungen bleiben bedenkenswert. So ist sicher richtig, dass die so genannte "Indigenisierung" auch den nationalen Minderheiten der Sowjetunion Bildungs- und Aufstiegschancen eröffnete. Der sowjetische Staat investierte auch an seinen Peripherien in den Staudammbau, die Stromnetze, den Wohnungsbau, in die Versorgungsinfrastruktur, in Schulen und Universitäten. Dieser Teil des sowjetischen Projekts war für viele Menschen attraktiv, erhielten sie dadurch doch eine Funktion innerhalb des Staatsapparats und im Bildungswesen. Dies galt auch für viele Frauen, die in einer Region ohne eigene starke Arbeiterbewegung auch als eine Art Ersatzproletariat galten.[8] Das sowjetische Projekt war so gesehen inklusiv. Insbesondere Sowjetbürger:innen aus Zentralasien verteidigten die sozialistische Moderne auch gegenüber der Dritten Welt, sie wurden im Kalten Krieg zu Botschafter:innen eines sowjetischen Entwicklungsmodells. In Interviews und Gesprächen, die ich seit 2010 in Kirgistan geführt habe, wurde deutlich, dass gerade bei der älteren Generation dieses Projekt einer sowjetischen Entwicklung auch ein Anker für die Identifikation mit der Sowjetunion war.[9]

Bis heute ist Sowjetnostalgie – nicht nur in Zentralasien – weit verbreitet. Dies liegt auch daran, dass der Zerfall der Sowjetunion wirtschaftlich katastrophale Auswirkungen hatte. Tadschikistan versank in einem Bürgerkrieg, in Kirgistan kam es zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch, Usbekistan, Kasachstan und Turkmenistan dagegen entwickelten sich zu autoritären Staaten, die angeführt wurden von ehemaligen Parteifunktionären. Auch aufgrund der Enttäuschungen, die die Unabhängigkeit brachte, bleibt die Sowjetunion ein wichtiger Bezugspunkt. Bis heute, so schrieb die kirgisische Sozialwissenschaftlerin Asel Doolotkeldieva nach dem Angriff auf die Ukraine, würden viele, der von ihr befragten Menschen keine Handlungsoptionen außerhalb des von Russland vorgegebenen Rahmens sehen. Insbesondere die ältere Generation binde die Sowjetnostalgie an Russland. Ein Anti- oder Postkolonialismus erscheint vor diesem Hintergrund wenig attraktiv, würde er doch unvermeidbar zu neuen, potentiell unlösbaren Konflikten führen.

Doch im Lichte des russischen Angriffskriegs in der Ukraine wird wieder verstärkt sichtbar, wovon sich die sowjetischen Republiken im Jahr 1991, als sie für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion votierten, abwandten. Imperialismus und Eurozentrismus waren und sind dem russischen und sowjetischen imperialen Projekt eingeschrieben, das jetzt Putin in der Ukraine mit Gewalt zu erneuern sucht. Besonders sichtbar wird dies in Zentralasien: Der Historiker Alexander Morrison etwa zeigt in seinem jüngsten Buch, dass es verharmlosend wäre, den russischen Imperialismus als "mildere" Variante des Kolonialismus des Westens zu beschreiben. Das Projekt der Herrschaft über Zentralasien war im späten 19. Jahrhundert durchzogen von Begriffen der europäischen kulturellen und rassischen Überlegenheit.[10]  Angesichts der geringen Zahl der Kolonisatoren kam es immer wieder zu Bestrafungsaktionen, die der Verbreitung von Angst und Schrecken dienten und damit den Widerstand brechen sollten. Die russische und sowjetische Herrschaft ging auch im 20. Jahrhundert mit Massengewalt einher, sie führte im Jahr 1916 zu Flucht und Vertreibung hunderttausender Menschen aus Zentralasien, später dann zu Gewalt und Massenterror in der gesamten Sowjetunion. Besonders katastrophal waren die Auswirkungen der Hungersnot an den Peripherien des Imperiums, in Kasachstan und der Ukraine. Mit Gewalt wurde die Bevölkerung gezwungen, die Herrschaft zunächst des russländischen, später des sowjetischen Staates hinzunehmen. Dabei war das zivilisatorische Denken nicht unbedingt Ursache der Gewalt. Doch hat insbesondere die Forschung zu Vertreibungen und zur Hungersnot in Zentralasien gezeigt, dass die Idee der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit den Machthabern dabei half, die von ihnen angerichtete Zerstörung zu rechtfertigen.[11]

Die stalinistische Gewalt richtete sich auch gegen diejenigen, die die antiimperialistische Rhetorik Lenins zu wörtlich genommen hatten. Mit dem Terror gegen nationale Eliten in den Teilrepubliken ging die Rehabilitierung des großrussischen Imperialismus einher. Die Bolschewiki und an erster Stelle die russische Nation galten wieder als Überbringer zivilisatorischer Errungenschaften. Der Zweite Weltkrieg beförderte den Mythos des Sowjetvolkes, vergangene Konflikte wurden durch das Narrativ der „Großen Freundschaft“ zwischen den Völkern überdeckt.[12] Angeblich waren alle Nationen der Sowjetunion bereits dem Russischen Reich, später dann der Sowjetunion freiwillig beigetreten, weil sie Schutz suchten, aber auch weil sie sich dem sozialistischen Fortschritt anschließen wollten. Zwar gab es auch in Zentralasien eine Phase des Tauwetters, in der die alte Frage nach dem Verhältnis zu Russland neu gestellt wurde.[13] Doch die dominante Erzählung der sowjetischen Herrschaft insbesondere in Zentralasien blieb bis zuletzt die des zivilisatorischen Fortschritts, der den Menschen durch Russland überbracht worden sei.

Die intellektuelle Kolonisierung des (post)sowjetischen Denkens zeigt sich besonders drastisch in dem Versuch, ein koloniales Projekt als ein antikoloniales auszugeben (ganz vergleichbar im Übrigen mit dem gegenwärtigen Versuch, das strukturell faschistische Regime in Moskau als antifaschistisch zu deklarieren). Das sowjetische Projekt war durchzogen von einer antikolonialen Rhetorik, die jegliches dagegen gerichtete kritische anti- oder postkoloniale Denken erstickte. Fraglos entsprach diese Rhetorik in vielen Fällen der Überzeugung derjenigen Eliten, die ihre eigene gesellschaftliche Stellung dem sowjetischen Projekt verdankten. Doch mindestens ebenso oft handelte es sich um ein Narrativ, das dazu diente, die imperiale Machtpolitik des Kalten Krieges zu kaschieren.

 

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Der neuen Imperialgeschichte wurde zuletzt vorgeworfen, sie habe ein zu idealisierendes Bild des Russischen Reiches entworfen. Toleranz und Multikulturalität würden oft unreflektiert dem Imperium zugeschrieben, der Nation dagegen ein Hang zu Eindeutigkeit und Homogenität.[14] Ich sehe jedoch noch ein anderes Problem: Gerade in Deutschland wurde die Debatte über das Imperium dominiert durch manch undifferenzierte, dafür aber breit rezipierte Einlassung. Bestes Beispiel hierfür sind die Texte Jörg Baberowskis. In seiner Habilitationsschrift über Aserbaidschan vertrat er noch die These der Unvereinbarkeit zwischen islamischer Kultur – die Rede war auch von "orientalischer Despotie" – und europäischem Fortschrittsdenken. Der Mangel an Verständnis für die kulturelle Andersartigkeit der Muslime habe den Stalinismus erst hervorgebracht.[15] Später dann behauptete er, die Rückständigkeit selbst bringe die Gewalt hervor. Erst in "staatsfernen, vormodernen Gewalträumen" könne sie gedeihen.[16] Zuletzt, insbesondere im Kontext einiger Texte zur Ukraine, idealisierte Baberowski das Imperium als Raum der Multikulturalität. Die ukrainischen Nationalisten hingegen wollten „trennen“, was der sowjetische Mythos "integrieren" wollte.[17] Trotz derartiger Widersprüche und Pauschalisierungen erfuhren Baberowskis Arbeiten eine breite Resonanz. Аufgrund ihrer Sprachgewalt prägen seine Arbeiten Vorstellungen des Russischen Reichs und der Sowjetunion als Imperien auch über die Forschung hinaus.

Doch nicht nur in der deutsch-, sondern auch in der englischsprachigen Forschung kam es in der Vergangenheit, gerade auch in der Auseinandersetzung mit Zentralasien, zu problematischen Projektionen. Botakoz Kassymbekova und Aminat Chokobaeva haben der Forschung jüngst vorgeworfen, die sowjetische Vergangenheit normalisiert oder gar idealisiert zu haben. Den sowjetischen Antiimperialismus hätten auch Größen des Fachs allzu oft beim Wort genommen, anstatt ihn als ein weiteres Machtmittel zu begreifen, das über koloniale Realitäten hinwegtäuschte. Dies sei auch deshalb geschehen, weil Khalid und andere im sowjetischen Modell eine Alternative zum westlichen Kapitalismus und Imperialismus sehen wollten, die es so aber kaum je gegeben habe. Denn gerade das sowjetische System habe die lokale agency radikal eingeschränkt. Zwischen selbst- und fremdbestimmtem Handeln zu unterscheiden, falle unter diesen Umständen besonders schwer. Besonders problematisch sei auch, dass – ähnlich wie auch im Falle der Ukraine und des Holodomor – Stimmen aus der Region selbst, die bereits seit langem auf die kolonialen Aspekte der sowjetischen Vergangenheit hinweisen, regelmäßig als nationalistisch abgetan würden.[18]

Dabei würde auch ich diesen Überlegungen insoweit zustimmen, als Teile der Forschung ein idealisierendes Bild der sowjetischen Herrschaft in Zentralasien gezeichnet haben. Die Suche nach lokaler agency führte in manchen viel rezipierten Arbeiten dazu, dass der machtbefrachtete, gewaltsame Charakter sowjetischer Herrschaft kaum noch beachtet wurde.[19] Dennoch bleibt es – auch und gerade in der Gegenwart eines neuen imperialistischen Krieges – wichtig zu differenzieren. Es besteht ansonsten die Gefahr, dass auch im Kern emanzipatorische, anti- oder dekoloniale Ansätze der Forschung in die Erzählung eines rein nationalen Opfergangs münden.[20] Entscheidend wird es auch in Zukunft bleiben, denjenigen Stimmen Raum zu verleihen, die sich um Differenzierung bemühen und auch Ambivalenzen und Widersprüche zulassen. Es gibt diese Stimmen, gerade auch in der Forschung zu Zentralasien. Sie alle hier aufzuzählen, wäre müßig, ein paar höchst subjektive Hinweise auf bislang zu wenig rezipierte Werke ergänze ich jedoch in der folgenden Fußnote.[21]

Besonders erwähnen möchte ich an dieser Stelle lediglich die für mich größte Offenbarung der letzten Jahre, namentlich die Arbeiten des Sozialanthropologen Sergei Abashin. Abashins Leistung ist meines Erachtens vergleichbar mit jener, die postkoloniale Theoretiker:innen für Indien erbracht haben. In seinem opus magnum, dem Buch "Sovetskij kišlak", beschreibt er über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren die Geschichte einer zentralasiatischen Siedlung. Er widmet sich den Narrativen der Eroberung aus imperialer, nationaler und lokaler Sicht, den Aktivitäten und Zielen bewaffneter Banden, dem Wandel religiöser und medizinischer Praktiken sowie der Geschlechterbeziehungen. Die Perspektiven, die er damit sichtbar macht, sind zugleich Ergebnis und Ursache immer neuer Auseinandersetzungen vor Ort. Die Narrative schwanken zwischen antikolonialen und kolonialen, lokalen und universalisierenden Deutungsangeboten. Sie entziehen sich damit jeglicher Eindeutigkeit der Nation, der Ethnie, der Religion, des Imperiums oder des Marxismus-Leninismus. Gerade in ihrer Ambivalenz und Vielschichtigkeit liegt ihr emanzipatorisches Potenzial.[22]

 

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Auf den ersten Blick mag es tatsächlich so scheinen, als habe sich Putins Russland mit diesem Krieg endgültig vom Westen verabschiedet. Die Rede von "gayropa" und dem "verweichlichten Westen" klingen eindeutig. Putin modelliert damit das postsowjetische Russland als einen Emotionsraum, der von einem Gefühl der tiefen Kränkung dominiert wird, so schrieb Riccardo Niccolosi kürzlich.[23] Doch bezieht sich diese Kränkung immer auf den Westen, von dem Putin sich gedemütigt zeigt, auf dessen Anerkennung und Respekt er aber zugleich hofft. Das, was etwa der mächtige Nachbar China oder gar die Menschen in Zentralasien denken, ist in dieser strukturell eurozentrischen Denkfigur irrelevant. Letztlich geht es Putin um die Rückkehr in eine Welt, in der sich europäische Großmächte, geprägt durch vermeintlich starke Männer, die Welt aufteilten. Die Auflösung der Imperien als ein welthistorisch bedeutsamer Moment interpretiert er dagegen als Anzeichen von Schwäche. So gesehen richtet sich der Angriff auf die Ukraine nicht allein gegen Europa, sondern gegen ein postkoloniales und emanzipatorisches Projekt, das auf einer kritischen Auseinandersetzung mit jeglicher Form von Fremdherrschaft und Rassismus aufbaut. Und in diesem Kontext sitzt nicht allein Europa mit der Ukraine in einem gemeinsamen Boot, sondern vor allem die postsowjetischen Republiken Zentralasiens oder des (Trans)kaukasus.

Vor allem zeigt sich jetzt, in Gegenwart des Hagels russischer Bomben auf Mariupol oder Charkiw, deutlicher denn je, dass der Prozess, den Jansen und Osterhammel noch als "relativ glatt" (sie meinten wohl: friedlich) beschrieben, vorhandene Spannungen lediglich überdeckte. Dieser Krieg wird das Narrativ von einem welthistorisch einzigartigen Moment der Befreiung und friedlichen Revolutionen der Jahre 1989-1991 erschüttern, denn er ist auch eine Folge einer nicht verarbeiteten kolonialen Vergangenheit. Was der Krieg aus einer postimperialen Perspektive bedeutete, erkannte im Übrigen als einer der Ersten der kenianische Botschafter bei der UN. Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges warnte er vor Nostalgie für eine imperiale Vergangenheit und er betonte, dass in einer postimperialen Welt allein die Regeln der Charta der Vereinten Nationen und die Anerkennung bestehender Grenzen den Frieden sichern könnten. Und er kritisierte die Rückkehr des Imperialismus, vorangetrieben durch einen Angriffskrieg Russlands.

Wie kann also die Dekolonisierung der Osteuropaforschung in Zukunft gelingen?
Drei Schritte werden hierfür entscheidend sein:

Auch in Zukunft wird es erforderlich sein, die Perspektiven der Marginalisierten und Unterdrückten ernst zu nehmen. Auch wenn Putin sich mit dem Krieg gerade selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat, müssen wir in Zukunft denjenigen zuhören, die nicht seine Entscheidungsmacht haben.

Zweitens ist es wichtig, den strukturellen Eurozentrismus unseres Denkens über Osteuropa zu überwinden. In Teilen der Presse klang es zuletzt so, als werde Europa heute nicht mehr am Hindukusch, sondern in Mariupol und Kiew verteidigt.[24] Das ist falsch, denn es geht eigentlich um mehr: Um Prinzipien der Selbstbestimmung und Emanzipation, die gerade diejenigen betreffen, die in der Vergangenheit unter dem Expansionsstreben der europäischen Großmächte gelitten haben.

Drittens jedoch gilt es, die Geschichte Osteuropas nicht mehr als Sonderfall innerhalb einer Globalgeschichte der Dekolonisation zu bewerten, sondern in diese zu integrieren. Denn nicht zuletzt vom Ausgang des Krieges in der Ukraine hängt die Zukunft des Projekts einer Dekolonisation ab, welches auf der Delegitimierung jeglicher Herrschaft aufbaut, die als ein Untertanenverhältnis zu Fremden empfunden wird.

 


 

[1] Marina Mogilner: There Can Be No “Vne”, in: Slavic Review, [30.3.2022].
[2] Martin Schulze-Wessel: Die Ukraine ist längst eine Nation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.3.2022.
[3] Siehe etwa: Moritz Florin: Das Ende der Sowjetunion und die Globalgeschichte der Dekolonisation. Eine Annäherung, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2019), S. 67–81.
[4] Vgl.: Moritz Florin: Beyond Colonialism? Agency, Power and the Making of Soviet Central Asia, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 4 (2017), S. 791–805.
[5] Siehe etwa: Ayzirek Imanaliyeva: Kyrgyzstan joins the list of countries favored by Russia’s emigres, in: eurasianet 18.3.2022.
[6] Jan Jansen/Jürgen Osterhammel: Dekolonisation. Das Ende der Imperien, München 2013, S. 7.
[7] Ebd., S. 18.
[8] Massell, Gregory: The Surriogate Proletariat. Moslem Women and Revolutionary Strategies in Soviet Central Asia, 1919-1020, Princeton 1974. Kritisch dazu auch: Marianne Kamp: The New Woman in Uzbekistan. Islam, Modernity and Unveiling under Communism, Seattle 2006.
[9] Moritz Florin: Kirgistan und die sowjetische Moderne, 1941–1991, Göttingen 2015 (= Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas 3).
[10] Alexander Morrison: The Russian Conquest of Central Asia. A Study in Imperial Expansion, 1914-1914, Cambridge 2021, S. 25.
[11] Hierzu auf Deutsch: Jörn Happel: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916, Stuttgart 2010; sowie: Robert Kindler: Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg 2014. Sowie auf Englisch u.a.: Sarah Cameron: The Hungry Steppe. Famine, Violence, and the Making of Soviet Kazakhstan, Ithaca/New York 2018.
[12] David Brandenberger: National Bolshevism. Stalinist Mass Culture and the Formation of Modern Russian national identity, 1931–1956, Cambridge, Mass. 2002.
[13] Vgl.: Moritz Florin: What is Russia to us? Making Sense of Stalinism, Colonialism and Soviet Modernity in Kyrgyzstan, 1956-1965, in: Ab imperio 3 (2016), S. 165–189.
[14] Martin Schulze-Wessel: Die Ukraine ist längst eine Nation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.3.2022.
[15] Jörg Baberowski: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003.
[16] Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012.
[17] Siehe etwa: Jörg Baberowski: Der Westen kapiert es nicht, in: Die ZEIT, 12.3.2015.
[18] Botakoz Kassymbekova und Aminat Chokobaeva: On Writing Soviet History of Central Asia. Fameworks, Challenges, Prospects, in: Central Asian Survey 40/4 (2021), S. 483–503.
[19] Exemplarisch zu nennen wären etwa: Adeeb Khalid: Making Uzbekistan. Nation, Empire, and Revolution in the Early USSR, Ithaca/London 2015; sowie in Teilen auch: Marianna Kamp: the New woman in Uzbekistan. Islam, Modernity, and Unveiling under Communism, Seattle 2008 und auch Artemy Kalinovsky: Laboratory of Socialist Development. Cold War Politics and Decolonization in Soviet Tajikistan, Ithaca/London 2018. Zu Khalid und Kassymbekova siehe auch: Florin: Beyond Colonialism?
[20] Hierzu etwa: Robert Kindler: Opfer ohne Täter. Kasachische und ukrainische Erinnerung an den Hunger 1932/33, in: Osteuropa 62/3 (2012), S. 105–120.
[21] Eine kleine, sehr subjektive Auswahl von Arbeiten, die mir besonders wichtig erscheinen, soll hier genügen: Jeff Sahadeo: Voices from the Soviet Edge. Southern Migrants in Leningrad and Moscow, Ithaca 2019; Madeleine Reeves: Border Work. Spatial Lives of the State in Rural Central Asia, Ithaca 2014; Botakoz Kassymbekova: Despite Cultures. Early Soviet Rule in Tajikistan, Pittsburgh 2016; Negar Elozie Behzadi und Lucia Direnberger: Gender and Ethnicity in the Soviet Muslim Peripheries. A Feminist Postcolonial Geography of Women’s Work in the Tajik SSR (1950–1991), in: Central Asian Survey  39/2 (2020), S. 202–219; Diana Kudaibergenova. Rewriting the Nation in Modern Kazakh Literature. Elites and Narratives, Lanham 2017.
[22] Sergej Abašin: Sovetskij kišlak. Meždu kolonializmom i modernizaciej, Moskau 2015.
[23] Riccardo Niccolosi: Erniedrigte und Beleidigte. Vladimir Putins Affektrhetorik, in: Geschichte der Gegenwart, 23.3.2022.
[24] Siehe etwa exemplarisch: Tobias Rapp: Die Geburt einer europäischen Nation, in: Der Spiegel, 7.3.2022.