von Jakob Saß

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20. Juni 2022

Geschichte erlebbar zu machen, war lange Zeit nicht leicht in der Corona-Pandemie: Museen waren geschlossen, Reisen zu historischen Orten außerhalb Deutschlands kaum möglich, das Homeschooling kam nur langsam in Schwung. Das interaktive Lernspiel des Videospieleentwicklers Ubisoft versuchte hier Abhilfe zu schaffen. Die „Discovery Tour: Das antike Griechenland“ bietet seit Ende 2019 mit einer riesigen, detaillierten und frei begehbaren Welt die Möglichkeit, nicht nur virtuell den eigenen vier Wänden zu entfliehen, sondern auch spielerisch etwas über die Geschichte und Kultur der Hellenen zu lernen. Davon war 2020 auch die Fach- und Kinderjury des Deutschen Kindersoftwarepreises Tommi überzeugt und vergab den ersten Preis in der Kategorie Bildung an die Entwickler*innen der "Discovery Tour".[1]

Wie der ebenfalls preisgekrönte Vorgänger zum alten Ägypten (2018) basiert auch die aktuelle „Discovery Tour“ auf dem Konzept der erfolgreichen Ubisoft-Spielereihe von „Assassin’s Creed“ – kommt aber ohne jede Gewaltdarstellung aus. Mit der Expertise von namhaften Altertumswissenschaftler*innen wie Olivier Picard oder Evangeline Markou sind 30 kurzweilige Touren zu Themen wie Politik, Philosophie, Architektur, Alltag, Krieg, Kunst und Religion entstanden. Warum sich ein Besuch im „lebendigen Museum“ lohnt, aber auch welche Grenzen es hat, erzählt der verantwortliche Ubisoft-Historiker Maxime Durand im Gespräch.

 

 

Herr Durand, Sie haben Ihre Arbeit bei Ubisoft oft mit der eines vermittelnden Lehrers verglichen. Welche Aufgaben hat ein*e Historiker*in in einem Spieleentwicklerstudio?

Maxime Durand: Als Historiker ist es mein Job, das Team zu inspirieren. Ich möchte natürlich immer mehr historische Genauigkeit, weiß aber mittlerweile auch genau, was ein Spiel braucht, um zu funktionieren. Auch wenn die Realität vielleicht anders aussah, muss eine Straße im Spiel etwa breit genug sein für Passanten, Pferde oder Kutschen, um dort langfahren zu können. Es gibt aber keinen Freibrief. Wir sind im Team in einem ständigen Dialog. Und ich als Historiker versuche dabei verständlich zu machen, dass einige Dinge wie historische Persönlichkeiten oder Ereignisse respektiert werden müssen, während mit anderen Dingen durchaus gespielt werden kann, zum Beispiel mit Farben, Größen oder Entfernungen. Die Archäologie hat leider auch nicht immer eine Antwort darauf, wie Straßen verliefen oder die Umgebung eines Tempels aussah.

Die neue „Discovery Tour“ basiert auf der Welt des Videospiels „Assassin’s Creed: Odyssey“. Es gibt aber große Unterschiede: Im Spiel selbst kämpft man gleich zu Anfang als spartanischer König Leonidas in der Schlacht bei den Thermopylen (480 v. Chr.) gegen die Perser samt dem populär gewordenen Spartiatentritt – die Szene erinnert deutlich an den Film „300“. In der „Discovery Tour“ erzählt Leonidas jedoch nur nüchtern vom Kampf. Es spritzt kein Blut, die Soldaten werden durch Banner dargestellt. Warum gibt es in der „Discovery Tour“ keine sichtbare Gewalt, obwohl die griechische Antike ja keineswegs eine friedvolle Zeit war?

Keine Gewalt zu zeigen, war eine bewusste Entscheidung, um möglichst viele Altersgruppen anzusprechen. Seit es „Assassin’s Creed“ gibt, haben Lehrer*innen die Spiele immer wieder im Unterricht verwendet. Aber sie haben sich alle über eines beschwert: Sie konnten im Spiel keine sichere, gewaltfreie Umgebung für das Klassenzimmer schaffen. Das ist mit der „Discovery Tour“ nun möglich. Aber ich stimme natürlich zu: Es waren sehr gewaltvolle Zeiten.

Gewalt gab es nicht nur im Kampf, sie gehörte schließlich auch zum Alltag, etwa gegen Frauen, Sklaven oder Kinder in der militärischen Ausbildung. Tauchen diese Themen auf?

Ja. Die Tour „Spartas soziale Klassen“ behandelt z.B. eingehend das Leben der Heloten, also der Staatssklaven in Sparta. Die Sklaven erkennt man an ihrer Kleidung und sieht sie auch häufig sowohl im Hauptspiel als auch in der „Discovery Tour“ während der „Arbeit“ – allerdings ohne Peitschenhiebe. Es geht uns darum, solche kritischen Themen in den Touren anzusprechen, ohne dabei Gewalt zu zeigen. Genau hier wünschen wir uns, dass Lehrer*innen Diskussionen darüber anregen, was nicht gezeigt oder nur angedeutet wird. Wir bieten daher Seminare für Lehrer*innen an, damit sie die „Discovery Tour“ im Unterricht einsetzen können.

 

 

Neu an der zweiten „Discovery Tour“ ist, dass die insgesamt dreißig Touren von insgesamt fünf Fremdenführer*innen geleitet werden. Warum genau diese?

Im Grunde standen alle Charaktere zur Auswahl, die im Hauptspiel vorkommen. Unser Budget war jedoch begrenzt. Wir konnten also nicht allzu viele Schauspieler*innen für die Umsetzung der „Discovery Tour“ engagieren, um die neuen Szenen einzuspielen.

Denn für die Dialogszenen haben Sie wie in animierten Filmen die aufwendige Motion-Capture-Technik mit echten Schauspielern verwendet?

Genau. Also wählten wir vor allem ikonische historische Persönlichkeiten des alten Griechenlands aus, die glaubhaft die Touren geben konnten. Herodot, als „Vater der Geschichtsschreibung“, musste natürlich dabei sein, ebenso der Spartanerkönig Leonidas. Für die Tour durch Athen wählten wir Aspasia, die zweite Frau des Perikles.

Warum seine Frau und nicht Perikles selbst?

Perikles war zwar mit seinen demokratischen Reformen damals wohl die wichtigste Figur in Athen, allerdings durch seine wachsende Macht auch schon unter den Zeitgenossen sehr umstritten. Seine Frau Aspasia, eine einflussreiche Philosophin, bot uns dagegen einen neutraleren Blick von außen, der uns interessant erschien. Zusätzlich zu ihr, Leonidas und Herodot wählten wir noch zwei fiktive Figuren, die die Touren mit Witz auflockern.

Das sind der leichtlebige Händler Markos und der erfahrene Seemann Barnabas – wiederum aber männliche Figuren. Warum ist nur eine Frau unter den fünf Tour-Guides?

Die „Discovery Tour“ basiert, wie gesagt, auf dem Spiel. Und dort ist Aspasia die einzige weibliche historische Persönlichkeit. Das ist natürlich schade. Es ist generell eine große Herausforderung, historische Persönlichkeiten akkurat in digitale Spiele einzubauen. Und Frauen kamen nun einmal in der Geschichtsschreibung lange zu kurz. Als Ausgleich spielt Aspasia in der „Discovery Tour“ eine wichtige Rolle, weil sie die meisten Touren leitet, also ein Drittel von insgesamt dreißig. In einer davon widmet sie sich auch dem täglichen Leben der Frauen und erzählt zum Beispiel, dass Heiraten eher ein Akt der Pflicht war und nicht der Liebe.

 …die Ausnahme soll die Liebesbeziehung zwischen Aspasia und Perikles gewesen sein, wie etwa Plutarch berichtet. Seit der ersten „Discovery Tour“ betonen Sie, dass Sie durch solche Themen das kritische Denken anregen wollen.

Ja, aber nicht nur durch die Themen. Sowohl bei der ersten „Discovery Tour“ zum alten Ägypten als auch bei der zu Griechenland stößt der Reisende auf „Behind the Scenes“-Momente. Diese Fotos und Videos erlauben es einem, zu verstehen, dass das auf dem Bildschirm nur eine historische Rekonstruktion ist. Wir zeigen, dass wir die Welt von „Assassin’s Creed“ auf der Grundlage von archäologischen und historischen Recherchen gebaut haben, aber auch mit einigen Freiheiten. Wir bieten bewusst Möglichkeiten für Lehrende, Lernende und andere, Fragen zu stellen, die historischen Darstellungen zu kritisieren und dadurch mehr zu lernen.

Ein Beispiel?

In der Tour „Die Akropolis von Athen“ steht man etwa vor der großen goldenen Statue der Athena. In der Tour heißt es, sie sei zehn Meter hoch gewesen. Im Spiel und in der „Discovery Tour“ wirkt sie aber deutlich größer, man sieht sie von weitem über der Akropolis aufragen. Wir wollten nicht zu sehr auf diesen Widerspruch hindeuten, hoffen aber, dass die Spielenden es bemerken und hinterfragen. Wir versuchen, zwischen einer spannenden Erzählung und Anreizen zum kritischen Denken eine gute Balance zu halten. Je nachdem, wie das Feedback zur neuen „Discovery Tour“ ausfällt, werden wir das Verhältnis bei der nächsten Tour anpassen.

Die goldene Statue der Athena auf der Akropolis. Screenshot aus der „Discovery Tour: Das Antike Griechenland“. © Ubisoft.

Wie sind denn die bisherigen Reaktionen, vor allem bei den Jüngeren?

Bevor die „Discovery Tour“ im September 2019 herauskam, haben wir einige Tests in Schulen gemacht. Die Schüler*innen fragten tatsächlich meist immer: „Warum kann ich niemanden töten?“

Weil sie die „Assassin’s Creed“-Spiele kennen, bei denen Auftragsmorde dazu gehören?

Genau. Aber als diese Schüler mit den Touren angefangen haben, waren sie sehr schnell begeistert, vor allem im Alter ab 12 oder 14. Jüngere erkunden meist nur die Umgebung, für sie sind die Inhalte der Touren meist noch zu komplex. Dieses Feedback war uns von Anfang an sehr wichtig. Tausende Schüler*innen haben weltweit die erste „Discovery Tour“ getestet. Einige sagten damals, das wäre der beste Schultag ihres Lebens gewesen.

Was ist das Besondere an der „Discovery Tour“ im Vergleich zu traditionellen Lernmethoden?

Die Interaktivität, also das Erleben von Geschichte. Unsere Touren sind narrativ gestaltet, man muss also zuhören. Aber gleichzeitig kann man seinen Avatar kontrollieren, frei entscheiden, welche historischen Orte man sieht, und in der eigenen Geschwindigkeit lernen. Das ist ein großer Unterschied zum traditionellen Geschichtsunterricht.

Kann dieser durch die „Discovery Tour“ ersetzt werden?

Nein. Das ist auch nicht unser Ziel. Die „Discovery Tour“ ist nicht perfekt. Sie ist eine Ergänzung zur Erfahrung von Geschichte in der Schule. Die Schüler*innen sehen das übrigens genauso. Bald werden weitere Studien veröffentlicht. Ein Ergebnis gibt es aber bereits: Die „Discovery Tour“ regt das Interesse der Schüler*innen für antike Geschichte an. Trotzdem wollen sie, dass die Lehrer*innen dabei sind. Neben den historischen Tour-Guides wollen sie einen weiteren, der ihnen verstehen hilft, was wahr ist und was nicht.

  

Die „Discovery Tour: Das Antike Griechenland“ wurde in Deutschland als Lehrprogramm eingestuft und steht allen Besitzer*innen von „Assassin's Creed: Odyssey“ für Konsole oder PC in deutscher Sprache als kostenloser Download zur Verfügung. Es kann auch eine eigenständige digitale Version erworben werden. Ubisoft stellt zudem für Lehrer*innen Begleitmaterial bereit (allerdings nur auf Englisch und Französisch). Ende 2021 erschien der Nachfolger „Discovery Tour: Viking Age“ über das Zeitalter der Wikinger in Skandinavien und England.


 

[1] Vgl. Votum der Jury des Deutschen Kindersoftwarepreises.