von Ulli Engst

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23. Juni 2022

Welche Faktoren sind für den Verlauf der Geschichte ausschlaggebend? Welche Rolle spielen etwa Wissenschaft, Religion oder Krieg? Normalerweise ist es die Geschichtswissenschaft, die Antworten auf solche Fragen zu finden versucht. Doch auch Medien der Populärkultur beteiligen sich – manchmal implizit, manchmal explizit – an derartigen Diskursen. Digitale Spiele nehmen dabei eine besondere Rolle ein, da sie den Spieler*innen nicht nur ein bestimmtes historisches Narrativ zur Rezeption vorlegen, sondern ihnen zusätzlich Mitwirkung daran einräumen. Diese Zuweisung von Agency, sprich der Fähigkeit, selbstbestimmt Entscheidungen in der digitalen Welt zu treffen, unterscheidet sie in hohem Maße von anderen Medien.

Der Kultur- und Medienwissenschaftler Adam Chapman hat sich mit der Rolle der Spieler*innen bei der Erschaffung historischer Narrative in digitalen Spielen auseinandergesetzt. Er betont, dass die Vorstellungen von Geschichte, die ein digitales Spiel präsentiert, immer ein Zusammenspiel ist aus dem, was die Entwickler*innen als Rahmen festlegen, und dem, wie die Spieler*innen mit dem Gegebenen interagieren. Dadurch ergibt sich eine geteilte Autor*innenschaft, welche von Spiel zu Spiel unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann.[1] Chapman entwickelt hierfür die Konzepte developer-historian und player-historian.[2] Je nachdem, wie viel Handlungsmöglichkeiten digitale Spiel respektive die Entwickler*innen den Nutzer*innen einräumen, desto stärker können letztere auch am historischen Narrativ darin mitwirken.[3]

Um dies zu verdeutlichen, lohnt sich ein exemplarischer Blick auf einen konkreten Spieletitel. Sehr prominente digitale Spiele mit historischen Inhalten sind die seit 1991 erscheinenden Titel der Sid Meier’s Civilization-Reihe. Sie gilt mit mehr als 33 Millionen verkauften Exemplaren als eine der erfolgreichsten Spieleserien aller Zeiten. Seit 2016 ist Sid Meier’s Civilization VI als aktuellster Vertreter auf dem Markt, wobei im Juni 2021 eine Anthology-Version dieses Spiels erschien. In ihr finden sich alle für diesen Titel verfügbaren Inhalte.[4]

Die Spieler*innen haben in diesem rundenbasierten Globalstrategiespiel die Aufgabe, eine von über 50 „Zivilisationen“ von der Sesshaftwerdung des Menschen bis in die Zukunft zu führen. Dabei gründen sie Städte, erforschen neue Technologien und führen Krieg mit anderen Zivilisationen. Da sich der vom Spiel abgedeckte Zeitraum über mehrere Jahrtausende erstreckt, bietet Civilization VI seinen Rezipient*innen Erklärungen dazu an, nach welchen Regeln grundsätzliche historische Prozesse ablaufen und welche Faktoren im Laufe der Menschheitsgeschichte für Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen verantwortlich waren. Welche dies letztlich sind, entscheiden die Spieler*innen wie im Folgenden beispielhaft beschrieben durch ihre Entscheidungen selbst mit.

Das Spiel ist gewonnen, wenn die Spieler*innen eine von fünf verschiedenen Bedingungen erfüllen. Sie können dabei selbst entscheiden, welche davon sie anstreben möchten. Civilization VI bietet die Wahl zwischen einem „Wissenschafts-“, einem „Kultur-“, einem „Religions-“ sowie einem „Diplomatie-“ und einem „Herrschaftssieg“. Je nachdem, auf welche Art des Gewinnens sich die Spieler*innen festlegen, sollten sie ihre Handlungen und Entscheidungen im Laufe des Spiels entsprechend anpassen. Um beispielsweise einen Kultursieg zu erringen, muss durch den Bau von „Wundern“, die Herstellung von „Großen Werken“ oder die Einrichtung von „Nationalparks“ die eigene Kultur zur dominierenden im Spiel gemacht werden.

Um einen Kultursieg zu erringen, müssen mehr „Auswärtstouristen“ angelockt werden, als alle anderen Zivilisationen „Heimattouristen“ haben. Im vorliegenden Beispiel steht „Kleopatra“ kurz vor dem Sieg, da sie voraussichtlich in vier Runden mehr Auswärtstouristen angelockt haben wird, als „Saladin“ Heimattouristen hat. Andersherum wird Saladin diese Bedingung geschätzt erst in 210 Runden erfüllt haben. Screenshot aus dem Spiel "Civilization VI". Bild:Ulli Engst.

Die Entscheidung für eine Siegmöglichkeit und die entsprechende Spielweise hat bereits starken Einfluss darauf, welches historische Narrativ den Spieler*innen präsentiert wird. Civilization VI vermittelt grundsätzlich ein teleologisches Geschichtsbild, in dem alle historischen Prozesse und Entwicklungen auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet sind. Welches Telos dies aber ist, hier in Form der Entscheidung für eine der Siegmöglichkeiten, legen die Spieler*innen selbst fest. Entsprechend erscheint die Geschichte der Menschheit beispielsweise als eine endlose Aneinanderreihung von Kriegen, als eine Ansammlung großartiger künstlerischer Errungenschaften oder als ein Streben nach stets besseren Technologien.

Ebenso prägend kann die Entscheidung sein, welche Zivilisation unter welchem „Anführer“ die Spieler*innen durch die Jahrtausende führen. Jede*r der fast 60 verschiedenen Anführer*innen im Spiel verfügt über spezielle Boni, genauso wie jede Zivilisation bestimmte Vorteile gewährt. Sie orientieren sich am jeweiligen historischen Vorbild und charakterisieren dadurch die einzelnen Zivilisationen, fördern aber auch einen gewissen Spielstil.

Deutlich wird dies etwa am Beispiel der Zivilisation „Griechenland“. Die Spieler*innen haben hier die Wahl zwischen den Anführer*innen „Perikles“ und „Gorgo“. Beide legen durch ihre zivilisationsspezifischen Eigenschaften einen Kultursieg nahe. Allerdings empfiehlt sich bei Perikles eine friedliche, bei Gorgo eher eine kriegerische Vorgehensweise (siehe Abb. 2 und 3). Der athenische Politiker Perikles (um 490 - 429 v.Chr.) ist historisch eng verbunden mit dem „Goldenen Zeitalter“ der Attischen Demokratie, wohingegen die spartanische Königin Gorgo (um 510 - unbekannt) vor allem mit den Perserkriegen in Verbindung steht. Die durch die Spielmechanik transportierten Darstellungen beider Persönlichkeiten in Civilization VI greifen damit sehr direkt populäre Vorstellungen von „kulturbewussten Athenern“ und „kriegsbegeisterten Spartanern“ auf. So legt auch die Wahl von Zivilisation und Anführer*in in Civilization VI zu einem gewissen Grad fest, mit welchen Erwartungen die Spieler*innen auf die virtuelle Welt und die historischen Inhalte darin blicken.

Im eigentlichen Verlauf des Spiels bietet Civilization VI zahlreiche weitere Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, mit denen die Spieler*innen ihre Agency ausspielen können: Wo sie Städte gründen, welche Ressourcen sie abbauen, welche politische Ausrichtung sie für die eigene Zivilisation festlegen, welche Kultur und Religion sie fördern, ob und in welchem Umfang sie militärische Einheiten ausheben und wie sie mit anderen Zivilisationen in Kontakt treten – all das hat Einfluss darauf, welches historische Gesamtbild das Spiel präsentiert (siehe Abb. 4, 5 und 6).

Civilization VI erzählt dabei nicht die tatsächliche Historie nach, sondern steht in einer Traditionslinie mit seinen Vorgängertiteln, die ebenfalls nicht versucht haben darzustellen, was passiert ist, sondern warum. Das historische Narrativ des Spiels gibt entsprechend nicht konkrete historische Epochen oder Ereignisse wieder, sondern präsentiert Regeln, nach denen Geschichte grundsätzlich verläuft. Dabei bedient es sich wohlgemerkt bei der tatsächlichen Historie und verknüpft Bekanntes auf einer neuen, kontrafaktischen Ebene.[5] Die developer-historians liefern somit eine Auswahl an historischen Versatzstücken, aus denen die player-historians durch ihr Handeln im Spiel ein individuelles historisches Narrativ zusammensetzen.

Die genannten Beispiele aus Civilization VI geben nur einen ersten Einblick, inwiefern die Spieler*innen durch ihre Agency selbst die Geschichtsbilder von digitalen Spielen beeinflussen können. Festzuhalten bleibt zu diesem Zeitpunkt aber, dass diese Möglichkeit der Mitgestaltung nicht automatisch bedeutet, dass die Spieler*innen das dadurch entstandene Geschichtsbild auch wirklich rezipieren. Denn alle Überlegungen zum Thema sind derzeit theoretischer Natur.

Künftige empirische Studien, die sich mit den Auswirkungen der Spieler*innen-Agency auf die wahrgenommenen Vergangenheitsvorstellungen beschäftigen, sind deshalb wünschenswert. Von Interesse könnte hierbei etwa die Frage danach sein, inwiefern ein und dasselbe digitale Spiel bei verschiedenen Spieler*innen unterschiedliche Geschichtsbilder erzeugt – oder warum es dies vielleicht überhaupt nicht tut. Fest steht, dass digitale Spiele ein in höchstem Maße heterogenes Medium darstellen, sodass allgemeingültige Antworten, die für alle Spieletitel gelten, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen, kaum zu erwarten sind.

 


 

[1] Vgl. Adam Chapman: Digital Games as History. How Videogames Represent the Past and Offer Access to Historical Practice. New York, London 2016, S. 30ff.
[2] Vgl. Ebd., S. 232f.
[3] Vgl. Ebd., S. 121ff.
[4] Neben dem Grundspiel Sid Meier’s Civilization VI enthält die Anthology-Version die beiden Erweiterungen Rise and Fall und Gathering Storm, den New Frontier-Pass sowie alle zusätzlich herunterladbaren Zivilisations- und Szenario-DLCs.
[5] Vgl. Stefan Donecker: Civilization und der Geist des Jahres 1991, in: Florian Kerschbaumer, Tobias Winnerling (Hrsg.): Frühe Neuzeit im Videospiel. Geschichtswissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2014, S. 269-288, hier: S. 271f.