Die Verwirrung der Behörden war groß. Als Anfang der 1960er Jahre mehrere Tausend PalästinenserInnen aus Jordanien und dem Gazastreifen in die Bundesrepublik kamen, nutzten offizielle Stellen ganz unterschiedliche Bezeichnungen, um diese MigrantInnen einzuordnen: Von „Jordanier“ über „Staatenlose“ bis hin zu „Palästina-Flüchtlinge.“ Allein die Bezeichnung „Palästinenser“ wurde von staatlicher Seite in der Bundesrepublik kaum verwendet. Dies stand im klaren Widerspruch zur Selbstbezeichnung einiger dieser MigrantInnen als PalästinenserInnen.
Die Frage der Beschreibung von palästinensischer Migration in die Bundesrepublik lässt sich bis heute als ein immer wieder aufflackernder Kampf um Sichtbarkeit und Anerkennung beschreiben. So kam es etwa im Frühjahr 2024 an der Universität Magdeburg zum Streit, nachdem die Hochschulleitung palästinensische Studierende darüber informierte, dass sie zukünftig in der Statistik als „staatenlos“ geführt werden.[1] Die umkämpfte Verwendung von Bezeichnungen wie „Palästinenser“ oder „palästinensisch“ stellt auch HistorikerInnen vor Schwierigkeiten. Obwohl MigrationsforscherInnen davon ausgehen, dass heute in Deutschland die größte palästinensische Diaspora Europas lebt, finden sich in staatlichen Archiven nur wenige Dokumente, die sich explizit mit palästinensischer Migration beschäftigen.[2]
Der folgende Beitrag wendet sich vor diesem Hintergrund der Zeitgeschichte der palästinensischen Diaspora in Deutschland zu. Er bietet einen kurzen Abriss zentraler Momente in der Geschichte der palästinensischen Diaspora, von den 1950er-Jahren bis heute. Der Schwerpunkt wird dabei auf die Bundesrepublik gelegt, als dem deutschen Staat, der nummerisch deutlich wichtiger war für palästinensische Migration. Gleichzeitig wird auch ein Blick auf die DDR geworfen, denn die Entwicklung der palästinensischen Diaspora in Deutschland wurde geprägt durch eine deutsch-deutsche Geschichte.
Für Studium und Arbeit in die Bundesrepublik
In Folge der Nakba und der israelischen Staatsgründung von 1948 flüchteten etwa 700.000 PalästinenserInnen in die Nachbarstaaten Israels. Die Geflüchteten hatten mit zahlreichen Problemen zu kämpfen. Zu Flucht, Gewalterfahrungen und dem Verlust von Eigentum kam häufig ein Mangel an Arbeits- und Bildungschancen hinzu. Vor allem junge palästinensische Männer entschieden sich in den folgenden Jahren, in andere Länder auszuwandern. Auch die Bundesrepublik Deutschland wurde zu einem Ziel palästinensischer Migration.
Um 1960 kamen palästinensische MigrantInnen vor allem für Studium und Arbeit nach Westdeutschland. Die Bundesrepublik zeichnete sich aus palästinensischer Perspektive durch verschiedene Vorteile aus. Im Vergleich zu Großbritannien und Frankreich erschien sie nach der Suezkrise von 1956 als politisch weniger belastet. Auch der wirtschaftliche Aufschwung, die Suche westdeutscher Firmen nach ArbeitsmigrantInnen, das Fehlen von Studiengebühren und die niedrigen Lebenshaltungskosten trugen dazu bei, dass die Bundesrepublik zu einem beliebten Einwanderungsland für PalästinenserInnen wurde.
Die Tatsache, dass bundesdeutsche Behörden keine offizielle Kategorie „Palästinenser“ verwendeten, erschwert es, den Umfang dieser Migration zu beziffern. Verschiedene Quellen legen es jedoch nahe, dass bis Mitte der 1960er-Jahre mehrere Tausend arabischsprachige Menschen, die im ehemaligen Völkerbundsmandat für Palästina geboren waren, in die Bundesrepublik einwanderten.[3]
Palästinensische Politik in der Diaspora
Seit Anfang der 1960er-Jahre entwickelte sich Westdeutschland zu einem wichtigen Zentrum für palästinensische Politik. Neue Gruppen der wiederaufstrebenden palästinensischen Nationalbewegung wie die Fatah (gegründet 1958/59) fanden hier Unterstützung.[4] Hierbei spielte das Unwissen gegenüber PalästinenserInnen in der westdeutschen Öffentlichkeit eine Rolle: Es motivierte PalästinenserInnen, sich für eine Anerkennung ihrer Existenz, Politik und Geschichte einzusetzen. Westdeutschland war eines der Länder, in welchen PalästinenserInnen das Bewusstsein einer Nation im Exil entwickelten und sich als Diaspora konstituierten. Die Anthropologin Julie Peteet hat mit dem Begriff „emergent diaspora“ einen passenden Analysebegriff für diese Entwicklung vorgeschlagen.[5]
Der Sechstagekrieg von 1967 und der Anschlag auf die Olympischen Sommerspiele in München am 5. September 1972 waren zentrale Ereignisse für die Entwicklung palästinensischer Politik. In der Bundesrepublik verhalf der Sechstagekrieg den Bemühungen von PalästinenserInnen um öffentliche Anerkennung zum Durchbruch. In den folgenden Jahren entwickelte sich aus der Studentenbewegung und der neuen Linken heraus eine Solidaritätsbewegung mit PalästinenserInnen. Der Anschlag auf die Olympischen Sommerspiele 1972, bei dem die palästinensischen Organisation „Schwarzer September“ elf Mitglieder der israelischen Olympiamannschaft ermordete, brachte PalästinenserInnen dagegen ins Zentrum kontroverser Debatten um Migration und Gewalt in der Bundesrepublik. Als Reaktion auf den Anschlag wiesen deutsche Behörden etwa 200 Staatsbürger arabischer Staaten aus und verboten die Generalunion Palästinensischer Studenten (GUPS) und die Generalunion Palästinensischer Arbeiter (GUPA).[6]
West-Berlin und der Bürgerkrieg im Libanon
Im Zuge des libanesischen Bürgerkriegs (1975-90) nahm palästinensische Migration in die Bundesrepublik eine neue Dynamik an. Das sogenannte „Berliner Loch“ erlaubte es tausenden PalästinenserInnen, vor dem Bürgerkrieg im Libanon nach West-Berlin zu fliehen. Über eine Direktverbindung der Interflug gelangten sie von Beirut nach Schönefeld. Mit einem DDR-Transitvisum ausgestattet konnten sie anschließend via Bahnhof Friedrichstraße in den Westteil der Stadt fahren. Fehlende Grenzkontrollen auf westlicher Seite erleichterten die Einreise.[7] Damit veränderte sich die Zusammensetzung der palästinensischen Diaspora in Westdeutschland. Während in den 1960er-Jahren noch vor allem junge Männer für Studium und Arbeit eingewandert waren, kamen nun auch Frauen, Kinder und Familien.
Auch die späten 1970er- und 1980er-Jahre waren geprägt von einer mangelnden Sichtbarkeit und Anerkennung dieser Migration. Das Bundesinnenministerium beschloss beispielsweise 1985, dass die Staatsangehörigkeit von geflüchteten PalästinenserInnen aus dem Libanon einheitlich als „ungeklärt“ erfasst werden sollte. Gleichzeitig war der rechtliche Status von aus dem Libanon geflüchteten PalästinenserInnen äußerst prekär. Sie erhielten in der Regel in der Bundesrepublik kein Asyl, sondern wurden lediglich aus humanitären Gründen „geduldet“. Über die Jahre entwickelte sich daraus die sogenannte „Kettenduldung“, die immer das Damoklesschwert der drohenden Ausweisung miteinschloss, sollten die humanitären Gründe für die Duldung aberkannt werden.[8]
Eine deutsch-deutsche Geschichte
Noch bis in die späten 1960er-Jahre bestimmte auf Seite der DDR ein großes Misstrauen das Verhältnis zu palästinensischen Gruppen. Die 1970er-Jahre markierten hingegen eine Blütezeit dieser Beziehung.[9] Nicht zufällig fällt in dieses Jahrzehnt der ikonische Auftritt Jassir Arafats auf den Weltfestspielen der Jugend in Ost-Berlin im Sommer 1973. PalästinenserInnen wie der bekannte Künstler Ismail Shammout wanderten auch in die DDR aus. Ähnlich wie in der Bundesrepublik war hier häufig das Studium ein wichtiger Faktor. Der palästinensische Fotograf Mahmoud Dabdoub, der selbst in Leipzig studierte, hat den Alltag arabischer Studierender in der DDR während der 1980er Jahre eindrücklich dokumentiert.[10] Obgleich auch in der DDR genaue Statistiken zu palästinensischer Migration fehlten, kann man davon ausgehen, dass die Zahlen deutlich geringer ausfielen als im Fall der Bundesrepublik.
Das „Berliner Loch“ und die Interflug-Verbindung Beirut-Schönefeld weisen auf eine weitere Tatsache hin: Die Geschichte palästinensischer Migration nach West-Berlin war ganz wesentlich mit der DDR verbunden. Auch die Ausweisungen aus Westdeutschland nach dem Anschlag auf die Olympischen Sommerspiele von 1972 zeigen eine Verflechtungsgeschichte. 29 aus der Bundesrepublik ausgewiesenen PalästinenserInnen konnten ihr Studium auf Einladung der SED-Regierung in der DDR fortsetzen. Die Geschichte der palästinensischen Diaspora ist damit auch eine deutsch-deutsche Geschichte.
Nicht abgeschlossene Vergangenheit
Im Zuge des Oslo-Friedensprozesses und der Entwicklung hin zu einem palästinensischen Staat kam es in den 1990er-Jahren zu einer stärkeren offiziellen Anerkennung von PalästinenserInnen. Mit der erneuten Eskalation des Nahostkonflikts in den 2000er-Jahren rückten wieder Fragen von Sichtbarkeit und Anerkennung in den Vordergrund. Wie die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Sarah El-Bulbeisi gezeigt hat, beschäftigen diese Fragen auch eine zweite Generation von palästinensischen Deutschen.[11]
Seit dem 7. Oktober 2023 und dem Krieg in Gaza hat sich die Wahrnehmung einer Nichtanerkennung durch die deutsche Öffentlichkeit radikal zugespitzt. Zahlreiche Texte, Interviews und Reportagen formulieren insbesondere den Vorwurf einer Ignoranz gegenüber dem Leid von PalästinenserInnen. Neben dem Kampf um Sichtbarkeit und Anerkennung, der die Geschichte von PalästinenserInnen in Deutschland seit über sechzig Jahren geprägt hat, betonen palästinensische Deutsche nun verstärkt eine andere Entwicklung: Die Geschichte einer zunehmenden Entfremdung.[12]
[1] Alexander Walter, Uni Magdeburg entschuldigt sich bei Studenten aus Palästina, in: Volksstimme, 2. Mai 2024.
[2] Vgl. Abbas Shiblak, Reflections on the Palestinian Diaspora in Europe, in: Abbas Shiblak (Hg.), The Palestinian Diaspora in Europe: Challenges of Dual Identity and Adaption, Beirut 2005, S. 7-18.
[3] Joseph Ben Prestel, A Diaspora Moment: Writing Global History Through Palestinian-West German Ties, in: American Historical Review 127.3 (2022), S. 1190-1221.
[4] Vgl. Mjriam Abu Samra, The Palestinian Transnational Student Movement 1948-1982: A Study on Popular Organization and Transnational Mobilization, Dissertation Universität Oxford, 2020.
[5] Julie Peteet, Problematizing a Palestinian Diaspora, in: International Journal of Middle East Studies 39.4 (2007), S. 627–46.
[6] Quinn Slobodian, The Borders of the Rechtsstaat in the Arab Autumn: Deportation and Law in West Germany, 1972/73, in: German History 31.2 (2013), S. 204-24.
[7] Lauren K. Stokes, Honeckers fliegender Teppich, in: Die Zeit, 1. August 2020.
[8] Vgl. Ralph Ghadban, Die Libanon-Flüchtlinge in Berlin. Zur Integration ethnischer Minderheiten, Berlin 2000.
[9] Vgl. Lutz Maeke, DDR und PLO. Die Palästinapolitik des SED-Staates, Berlin 2017.
[10] https://nahostud.hypotheses.org/175, abgerufen am 30.9.2024.
[11] Sarah El Bulbeisi, Tabu, Trauma und Identität. Subjektkonstruktionen von PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz, 1960-2015, Bielefeld 2020.
[12] Vgl. etwa: Daniel Bax und Lisa Schneider, Palästinenser in Deutschland: An der Seitenlinie, in: taz, 13.5.2024; Daniel Bax, Sawsan Chebli über den Gaza-Krieg: „Ich war eine stolze Deutsche“, in: taz, 29.6.2024; Adania Shibli, Once the Monster was so kind, in: Berlin Review 1 (2024).