von Jasmin Spiegel, Anne-Christin Klotz

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6. Oktober 2024

Fast ein Jahr ist vergangen seit dem 07. Oktober 2023, der seither eine Zäsur innerhalb der jüdischen Geschichtsschreibung markiert. Seit die Terrororganisation Hamas an jenem Tag mehr als 1.200 Menschen ermordete, über 240 weitere als Geiseln nahm und nach Gaza verschleppte und mehrere Tausend Raketen auf Israel abfeuerte, ist für Jüdinnen und Juden weltweit eine neue Qualität von Bedrohung spürbar. Obgleich sich unter den Opfern unter anderem auch arabische Israelis, Arbeitsmigrant:innen und Tourist:innen befanden, handelte es sich bei der übergroßen Mehrzahl der Opfer des von der Hamas und ihren Verbündeten durchgeführten Massakers um jüdische Israelis. Seit dem Holocaust hatte keine antisemitische Gewalttat, kein primär gegen Jüdinnen und Juden gerichteter Akt des Terrors, mehr Opfer gefordert. Während in den internationalen Medien in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober das Massaker und das Leid der Opfer dominierten, verschob sich die mediale Aufmerksamkeit schon bald in Richtung Gaza und auf die Situation der dortigen palästinensischen Zivilbevölkerung, die durch die anhaltenden israelischen Angriffe erhebliches Leid erfahren hat und noch immer erfährt.

Während und infolgedessen kam es in der gesamten westlichen Welt zu einem sprunghaften Anstieg antisemitischer Gewalttaten. Dies gilt auch und insbesondere für Deutschland. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS e.V. 2023) sprach in einer ersten Erhebung vom 9. November 2023 von einem Anstieg von über 320 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In absoluten Zahlen ausgedrückt, entspricht das einem Anstieg von rund sieben auf 29 antisemitische Vorfälle pro Tag. Auch zehn Monate später zeigt sich, dass antisemitische Gewalt, physisch und/oder psychisch, sich immer weiter verschärft. (RIAS e.V. 2024). Antisemitismus tritt in verschiedenen Formen zutage und reicht von Sachbeschädigungen über verbale Bedrohungen bis hin zu körperlicher Gewalt und (versuchten) Brandanschlägen. Dass sich Jüdinnen und Juden durch antisemitische Angriffe bedroht fühlen und sich ihr Alltag seit dem 7. Oktober massiv verändert hat, belegen ferner die ebenfalls sprunghaft angestiegene Zahl der Anfragen, die die Beratungsstelle OFEK e.V., die von Antisemitismus Betroffenen psychologische Beratung bietet, erreichen. Auch in zahlreichen Zeitungsartikeln und Dokumentationen berichten die primär in der Öffentlichkeit stehenden Jüdinnen und Juden stellvertretend für die jüdische Community von ihrem veränderten Alltag in Deutschland.

Während es mit RIAS e.V. zwar eine Dokumentationsstelle für Antisemitismus in Deutschland gibt, fehlt es bisher jedoch an einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit jüdischen Stimmen und ihren Perspektiven auf und das Erleben von Antisemitismus seit dem 07. Oktober 2023 in Deutschland.[1] Ähnlich zu Dokumentations- und Oral History Projekten in Israel und den USA, die damit begonnen haben, das Massaker vom 07. Oktober systematisch zu dokumentieren und die Stimmen der Opfer zu sammeln, geht es uns um die systematische Sammlung, Dokumentation und Auswertung der Erfahrungen von Jüdinnen und Juden auf den sich seit dem 07. Oktober ausbreitenden Antisemitismus in Deutschland.

Das Sammeln und Dokumentieren antisemitischer Gewalt durch eine explizit jüdische Perspektive verweist auf eine lange Tradition. Schon während des Pogroms von Kishinev im Jahr 1903 machte es sich eine Gruppe jüdischer Schriftsteller:innen, Journalist:innen und Wissenschaftler:innen zur Aufgabe, Dokumente, die den Antisemitismus belegen, zu sammeln. Auch die Opfer der antisemitischen Gewalt selbst, also Jüdinnen und Juden, wurden interviewt und dazu ermutigt, ihre Erfahrungen zu protokollieren. Das gesammelte Material sollte später der eigenen Geschichtsschreibung dienen, aber auch im Rahmen von Gerichtsprozessen verwendet werden können sowie zur Aufklärung der nicht-jüdischen Bevölkerung beitragen. Ähnliche Dokumentationsprojekte gab es später anlässlich weiterer Pogrome in der Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg sowie insbesondere vor, während und nach der Shoah. Neben dem bekannten Ringelblum-Archiv im Untergrund des Warschauer Ghettos, zählen dazu auch die zahlreichen jüdischen Historiker Kommissionen, die sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in ganz Europa gründeten und systematisch jüdische Erlebnis- und Augenzeugenberichte protokollierten und schließlich auch wissenschaftlich auswerteten. Nicht selten wurden diese auch zur Beweisführung in den verschiedenen Gerichtsprozessen der Nachkriegszeit herangezogen. (für diesen Absatz vgl. u.a. Jockusch, 2012; Schulz, 2016; Klotz, 2022) Auch Hannah Arendt war 1933 dabei, antisemitische Äußerungen in der deutschen Öffentlichkeit zu dokumentieren, bevor sie verhaftet wurde und kurz darauf nach Frankreich flüchtete. Ebenfalls sah sich die Gruppe um Alfred Wiener, dem späteren Begründer der heute in London ansässigen Wiener Library, dazu berufen ab 1928 systematisch Beweise über antisemitische Gewalt im Deutschen Reich zu sammeln. Inspiriert wurde er dabei von den jüdischen Dokumentationsprojekten Osteuropas. (Barkai 2002) Das heute wohl größte Dokumentationsprojekt jüdischer Stimmen stellt die 1994 von Steven Spielberg gegründete Survivors of the Shoah Visual History Foundation (Shoah Foundation) dar, die weltweit die Erlebnisse von Holocaustüberlebenden in Form von Videointerviews sammelt, um sie nachfolgenden Generationen im Rahmen von Bildungs- und Forschungsprojekten zugänglich zu machen.  

 

Ziel der Studie

Obwohl der “emotional turn”, der die Geschichts- und Kulturwissenschaften und seit einiger Zeit hier auch explizit die Holocaust Studies, erfasst hat, zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Psychologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften einlädt, ist eine direkte Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler:innen immer noch selten. Unser Forschungsprojekt möchte daher zunächst an die Tradition der Oral History und dem Konzept der Zeug:innenschaft anknüpfen, die aus der Erforschung des Holocaust erwachsen ist. (Reichwald et al., 2024)

Während der Shoah war jedes Dokument als Widerstand gegen die Auslöschung wichtig. Der Drang, Informationen zu übermitteln, diente auch dazu, die Geschichtsschreibung nicht einzig den Täter:innen zu überlassen. Die jüdischen Überlebenden der Shoah wollten sicherstellen, dass wenigstens ihre Erfahrungen und Erinnerungen an die Zeit vor und während der Shoah, die Namen und Gesichter ihrer ermordeten Liebsten, ihre Trauer und Wut, aber auch ihre Resilienz und Hoffnung die genozidale Gewalt überlebten. Das Schreiben der Geschichte aus einer explizit jüdischen Perspektive führte ferner dazu, dass die spezifische Rolle, die der Antisemitismus als ideologisches Kernelement in der Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialist:innen spielte, nicht aus der Forschung und in dem Sprechen über die Shoah verschwand. Mit der Zeugenschaft und der Dokumentation von Antisemitismus ist schließlich auch die Anerkennung von jüdischer Identität verknüpft.

Wir haben es uns zum Ziel gesetzt, innerhalb des deutschen Kontexts jüdische Perspektiven auf und Erfahrungen mit Antisemitismus nach dem Massaker vom 7. Oktober zu sammeln, zu erfassen und zu bezeugen. Während die psychologischen und emotionalen Auswirkungen des Antisemitismus auf Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus, der Shoah und der unmittelbaren Nachkriegszeit sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der Psychologie umfassend untersucht worden sind, fehlt es an aktueller Forschung zur individuellen wie kollektiven Wirkmächtigkeit von Antisemitismus heute. Die Antisemitismusforschung in Deutschland beschreibt und beforscht zwar zu Recht das Phänomen Antisemitismus als ein Problem der Mehrheitsgesellschaft, allerdings fallen dabei die Erfahrungen der von Antisemitismus direkt Betroffenen, nämlich jene von Jüdinnen und Juden selbst, oftmals heraus (Botsch & Kopke 2012). Dies führt zu einem Ungleichgewicht in der Abbildung und dem Verständnis des Phänomens. Erst mit der Gründung der Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung OFEK e. V. im Jahr 2017 und der damit einsetzenden Forschung über die Wirkung und Prävention von Antisemitismus aus einer vornehmlich jüdischen Perspektive werden nach und nach Studienprojekte durchgeführt, die versuchen die Erfahrung von Jüdinnen und Juden mit Antisemitismus zu erheben und daraus in einem zweiten Schritt Präventionskonzepte für Politik und Gesellschaft zu formulieren. (vgl. insb. Bernstein 2022, Chernivsky & Lorenz-Sinai 2024)

In einem Land wie Deutschland, in dem es bis in die späten 1980er Jahre eine Tradition des Ausschlusses von Jüdinnen und Juden aus Politik und Kultur und Wissenschaft gab, ist ein solcher Ansatz, der auf die gefühlte Lebensrealität von jüdischen Menschen fokussiert, besonders wichtig. (Heim 2015) Obwohl die jüdische Gemeinschaft in Deutschland im Vergleich zu Ländern wie den USA oder Frankreich relativ klein ist (ca. 100.000 Mitglieder, jedoch mit einer der derzeit größten israelischen Gemeinschaften außerhalb Israels), glauben wir, dass sie als Seismograph für ein Gefühl von Bedrohung aufgrund steigenden Antisemitismus in Europa von großer Bedeutung ist. Dies liegt nicht nur daran, dass man in Deutschland, als post-genozidale Gesellschaft, stärker sensibilisiert ist in Bezug auf Antisemitismus und anti-demokratische Entwicklungen und dass Vorfälle dadurch in der Regel schneller skandalisiert werden. Sondern auch daran, dass im europäischen Durchschnitt in Deutschland deutlich mehr personelle Kapazitäten und mehr Gelder für die Entwicklung und Durchführung von Programmen wie Antisemitismusprävention oder Holocaust Education ausgegeben werden und dies, schon lange vor dem 7. Oktober.

In einem Land, das ein noch immer (un)bequemes Verhältnis zur eigenen Geschichte sowie zur eigenen jüdischen Community hat und sich viele Jahrzehnte vorrangig mit toten Jüdinnen und Juden befasst hat, möchten wir durch unsere Dokumentation und Hörbarmachung jüdischer Stimmen auch zu einem vielfältigeren Verständnis und Sichtbarkeit jüdischen Lebens in Deutschland beitragen. So versammeln wir in unserem Projekt Stimmen aus deutschen, amerikanischen, russischen und ukrainischen (sowjetischen) sowie israelischen (Mizrahi wie Ashkenasi) Perspektiven mit unterschiedlichen Altersgruppen, politischen und sozialen Hintergründen sowie Lebenserfahrungen.

 

Die Studie

Zwischen Februar und August 2024 führten wir 40 leitfadengestützte Interviews mit Jüdinnen und Juden mit unterschiedlichen sozialen, geographischen (wie Argentinien, Sowjetunion/Ukraine, USA, Israel, Deutschland) sowie generationalen Hintergründen (Altersspanne ca. 20-89 Jahre) aus Deutschland durch und werten diese aktuell aus.[2] Unsere Hypothese ist explorativ und fragt zunächst nach einem Bruch-Erleben des 7. Oktober 2023, der das Zeit- und Gefühlserleben von einem “Davor” zu einem “Danach” trennt. Auch setzten wir keine Antisemitismusdefinition voraus, sondern fragten explizit nach dem persönlichen Erleben von Antisemitismus vor und nach dem 07. Oktober. Das heißt, dass wir die Definition dessen, was Antisemitismus ist oder was als antisemitisch erfahren wird, den Interviewten selbst überlassen. Die leitfadengestützten Interviews teilten sich in sieben Hauptthemen auf, die hier mittels Zitate (anonymisiert) aus den Interviews illustriert sind:

 

  1. Das persönliche Erleben des 7. Oktober 2023 und dessen unmittelbare Nachwirkungen

    “War ich nicht mehr in meinem Alltag drin? Ich zitterte. Ähnlich wie wenn einem nahen Angehörigen etwas passiert, war ich nicht mehr in meinem Alltag drin. Ich war vollkommen draußen und ich war fokussiert auf die Nachrichten. Ich konnte nicht mehr aufhören, die ständig zu gucken. Der 07.10. war wie eine Eisenbahnspur, die sich in zwei teilt, also es trennten sich mein emotionaler Weg und der Weg der Anteilnahme von dem meiner Umgebung.”[3]

     

    1. Persönliche Erfahrungen mit Antisemitismus vor und nach dem 7. Oktober 2023

    “Dieses Entziehen von Räumen, also dass es immer weniger Räume gibt, wo man sich als jüdische Person, also wo ich mich als jüdische Person sicher fühlen würde, also beispielsweise in aktivistischen Kreisen, politischen Kreisen, wie auch immer, irgendwelchen Kreisen, Bars, Kneipen, Clubs zum Beispiel, wo man jetzt irgendwie gerne hingehen würde, aber jetzt einfach nicht mehr hingehen kann, weil man halt weiß, die Leute dahinter dem Laden oder Organisatoren von irgendwelchen Gruppen, Parteien oder whatever, sich dazu geäußert haben und nicht so geäußert haben, dass es halt irgendwie ein sicheres Gefühl gibt.”

     

    1. Auswirkungen auf jüdisch-nichtjüdische Beziehungen sowie die eigene jüdische Identität

    “Also es hat schon am 8. Oktober angefangen, dass dann so Sprüche kamen von Leuten in meinem Freundeskreis und Freunde von Freunden und dann ist alles so klein geredet worden. Es gibt kein Verständnis. Ich habe sehr viele Freunde verloren, mit denen ich nicht mehr reden kann. Teilweise wurde ich geblockt. Andererseits habe ich dann blockiert auf sozialen Medien, wenn ich auf etwas hingewiesen habe.“

    “Aber seitdem fühle ich mich jüdischer und ja, ich habe schon irgendwie das Gefühl, dass da auch eben zwei Welten aufeinanderprallen. Das hätte ich nicht so gedacht. Und das kommt eben auf diese Überschrift, ich habe mich noch nie so jüdisch gefühlt wie im Moment. Also das, ja, sehr extrem, muss ich sagen.“

     

    1. Mögliche Bewältigungsstrategien im Umgang mit Antisemitismus

    “Ja, also ich versuche, mich mit jüdischen Menschen zu verbinden. Und ... ja, das ist einfach sehr gut. Einfach ...  mal auszusprechen, was man für Zweifel hat und was für Fragen. Und auch mal wütend sein zu können oder enttäuscht oder empört oder so. Das würde ich woanders nirgendwo mehr rauslassen. Und die andere Strategie ist, möglichst äußerlich nicht aufzutreten, also als Jüdin. Das weiß ich aber nicht, da bin ich nicht so sicher, ob das richtig ist, aber im Moment ist das eine Coping-Strategie.”

     

    1. Einschätzung des öffentlichen Diskurses in Deutschland über den 7. Oktober 2023, den Krieg in Israel/Gaza und Antisemitismus

    “Hauptsächlich katastrophal. Viel mit kaltem Herzen. Es gibt immer wieder positive Ausnahmen, aber insgesamt…Also, ich habe jahrelang früher in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit gearbeitet und bin da irgendwann völlig erschöpft und entnervt abgehauen. Ähm ... weil ich das Gefühl habe, dass man eine bestimmte Sorte Jude möchte, mit der man schön die Vergangenheit aufarbeiten kann. Die widersprechen nicht. Bestenfalls leben sie schon gar nicht mehr. Und die anderen sind einfach alte, wackelige, dankbare Menschen, die sich freuen, dass man sie noch mal nach Deutschland einlädt. Sobald irgendetwas da ist, was nicht in diese Projektionsfläche passt, dann ist das zu Ende mit der Empathie.“

     

    1. Auswirkungen der eigenen Biographie in Bezug auf die aktuelle Positionierung im Diskurs

    “Gleichzeitig sehe ich immer noch dieses Bild. So ein Bild in mir. Wasser. Und da ist so ein Riesenbeton reingefallen in das Wasser, und das ist das dritte Reich, das ist, was vor mir geschah. Das plumpste da rein ins Wasser. Und alles, was drunter und dran war, ist schwerst beschädigt. Oder nicht mehr da. Und ich würde sagen, ich als erste Generation danach weiß, wenn ein Beton ins Wasser plumpst, dann kommt ein Ring, ein starker Ring, ein erster Ring. Dann gibt es den zweiten Ring. Das sind unsere Kinder. Die sind da schon ein ganzes Stück weiter weg davon. Was ich mir gewünscht hätte, dass es einen dritten und vierten und fünften Ring geben darf, bis er immer dünner wird dieser Klotz der ins Wasser gefallen ist, immer weniger zu verspüren ist und das finde ich eben zum Beispiel jetzt an dieser 7. Oktober Geschichte so eine Zäsur, das ist, was mich entsetzt, ein neuer Ring.”

     

    1. Einschätzungen und Wünsche zu (möglichen) Maßnahmen zur Prävention von Antisemitismus

“Können wir das ändern? Ja, also ich denke mal insgesamt, also insgesamt, wie das was jetzt so zum Programm geworden ist, so die Demokratie retten und so weiter, das ist jetzt wieder so eine Floskel geworden oder immer schon gewesen, aber ich glaube da nochmal, ja ich sag das immer wieder, so die eigenen wunden Punkte der deutschen Geschichte aufarbeiten. Wo wurden diese Wunden übersehen? Welche Ideale mussten aufgegeben werden? Wo mussten Kompromisse geschlossen werden? Darüber wird halt so wenig gesprochen. Und da entsteht Leidensdruck, der dann sich einen Weg sucht, der dann halt sehr häufig Antisemitismus ist.“

 

Erste Einordnungen und Ausblick

Die ausgewählten Zitate zeigen, dass die inneren Reaktionen und äußeren Lebenserfahrungen von Jüdinnen und Juden in Deutschland auf den zunehmenden Antisemitismus seit dem Massaker vom 7. Oktober und die Entwicklung des noch andauernden Krieges in Israel/Gaza stark miteinander verwoben sind. Es zeigt sich aber auch, dass das eigene Erleben verankert ist in der Geschichte der Shoah, des Antisemitismus und der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen in einer post-genozidalen Gesellschaft wie es in Deutschland der Fall ist. Das Erleben des 7. Oktobers und die Erfahrung mit und Wahrnehmung von Antisemitismus ist dadurch untrennbar mit der deutschen Geschichte und ihren Nachwirkungen verbunden und kann daher durchaus als “Bruch” im Erleben zu verstehen sein.

Diesen “Bruch” verstehen wir interdisziplinär. Zum einen lesen wir den “Bruch” zunächst aus einer psychoanalytischen Perspektive. Fast alle Personen, die wir interviewten, beschrieben das Erleben einer akuten Stressreaktion, wie sie nach traumatischen Ereignissen, die das Ich überwältigen, möglich sind. Traumatisierung bedeutet auch das (unbewusste) Bedienen von psychologischen Abwehrformen wie Verleugnung, Spaltung, Abkapselung und Dissoziation von Gefühlen und Gedanken. Durch die massive Identitätsbedrohung von außen werden sozialpsychologische Abwehrmechanismen wirksam, wie die Orientierung hin zur eigenen identitätsstiftenden Bezugsgruppe bei zeitgleicher gefühlter Isolation und Entfremdung zu einer als feindselig und un-empathisch erlebten andersartigen Gruppe. Ein innerer Rückzug und ein hoher Leidensdruck waren deutlich spürbar. Der traumatische Bruch äußerte sich für die Befragten aber auch als Bruch in den Weltbeziehungen, als gefühlter Vertrauensverlust durch ausbleibende Reaktionen von Empathie und Solidarität, einer zunehmenden Polarisierung und fehlenden Differenzierung der Komplexität des Israel/Gaza-Krieges, des Verlust des “Glaubens an eine gute Welt”, der Bedrohung der eigenen (jüdischen) Identität und letztlich auf einer beschreibbaren Verhaltensebene als Veränderung von Alltagsaktivitäten wie Rückzug, Vermeidungsstrategien, Assimilation oder Isolation und Kontaktabbruch.

Den Bruch lesen wir aber auch auf einer gesellschaftlichen Ebene, eingebettet in den historischen und sozialen Kontext Deutschlands und der deutsch-jüdischen Beziehungen seit 1945. Die in unseren Text eingebetteten letzten drei Interviewausschnitte illustrieren dies auf besondere Art und Weise. Einige der von uns für diesen Text ausgewählten Zitate stammen von Interviews, die wir mit Angehörigen der zweiten Generation, also mit Kindern von Shoah-Überlebenden, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, führten. Bei ihnen wird besonders sichtbar, wie der aktuelle Moment der Krise sich bei ihnen an die inneren Fragmente eines transgenerationalen Traumas und eines “unbewussten unsymbolisierten Geschichtsrest” (Zöchmeister, 2013) andockt, genauer an einen “psychotischen Kosmos” der Shoah (Grubrich-Simitis, 1979) d.h. an die Erfahrungen des Weltuntergangs und die damit verbundenen inneren Bilder und Gefühle, die transgenerational an die nachfolgenden Generationen vermittelt wurden. Dadurch wird der Zusammenhang zwischen den Beziehungserfahrungen der Eltern und den nun eigenen Erfahrungen des Misstrauens gegenüber der deutschen Bevölkerung und der Isolation als jüdische Community besonders deutlich. Die Erfahrungen der Eltern, das Wissen um die Shoah und das Aufwachsen und Leben im Land der Täter:innen hat daher einen immensen Einfluss auf die Gefühls- und Erlebniswelt der Interviewten. Aufgrund dieser historischen und psychologisch wirksamen Kontinuitätslinien von Antisemitismus und genozidaler Gewalt finden wir es passender, von einer massiven Eruption statt von einer einmaligen “Ruptur” oder eines “Bruchs” in Bezug auf den 07. Oktober 2023 zu sprechen. Da die Lesart des 07. Oktober, als eine Ruptur allerdings sehr stark von politischer wie sozialer Identität der Befragten abhängig ist, tendieren wir dazu, zunächst ausschließlich in der Gruppe der Interviewten der in Deutschland lebenden zweiten Generation von einer solchen (traumatischen) Eruption zu sprechen. 

Abschließend bleibt zu sagen, dass wir den Begriff des Traumas als ein “traveling concept” verstehen, der zwischen Disziplinen wie Psychologie, Geschichte (Laub & Felman 1992) und Soziologie (Volkan 2000) wandert. Dadurch möchten wir mit unserem Projekt letztlich auch zur Notwendigkeit eines interdisziplinären Denkens beitragen, was Trauma als Konzept versteht, das vom individuellen Leiden bis zu kollektiven Repräsentationen und Grundlage für Identitätskonfigurationen in sogenannten “superdiversen” (Vertovec 2024) Gesellschaften wie Deutschland reicht. 

 


[1] Kurz nach Beginn unseres Projekts liefen ähnliche Forschungsprojekte an, sodass in den kommenden Jahren mehr Forschung und Dokumentation in diesem Bereich zu erwarten ist. Zu nennen ist insbesondere die Studie von Marina Chernivsky (Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung in Berlin) und Friederike Lorenz-Sinai (FH Potsdam), die im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes seit Februar 2024 eine Studie zu den Wirkungen des Terroranschlags auf die jüdische und israelische Community in Deutschland, durchführen.
[2] Die Teilnehmenden nahmen freiwillig am Projekt teil und fanden zu uns über einen Open Call, den wir im Februar auf verschiedenen Plattformen veröffentlichten. Die Interviews fanden in deutscher, englischer und hebräischer Sprache statt.
[3] Der besseren Lesbarkeit wegen wurden die Zitate sprachlich etwas geglättet.

 

Referenzen

Barkai, A. (2002). Wehr dich! Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893–1938. C. H. Beck, München.

Bernstein J. (2022). Zerspiegelte Welten. Antisemitismus und Sprache aus jüdischen Perspektiven. Weinheim/Basel: Beltz Juventa Verlag.

Botsch, G. & Kopke, Ch. (2012). "Im Grunde genommen sollten wir schweigen..." Jüdische Studien ohne Antisemitismus - Antisemitismusforschung ohne Juden?. " in Botsch, G. & Dieckmann, I. (Hrsg.): “… und handle mit Vernunft": Beiträge zur europäisch-jüdischen Beziehungsgeschichte. Hioldesheim: Olms, S. 303–320.  

Chernivsky, M., Lorenz-Sinai, F. (2024). Der 7. Oktober als Zäsur für jüdische Communities in Deutschland. APuZ - Aus Politik und Zeitgeschichte: Antisemitismus. 74 Jg., 25-26, S. 19–24.

Felman, S., & Laub, D. (1992). Testimony: Crises of witnessing in literature, psychoanalysis, and history. Taylor & Frances/Routledge. 

Fetscher, C. (2020). Ausstellung zu Hannah Arendt im DHM: Nur das Gute ist radikal, Tagesspiegel vom 10. Mai 2020.

Grubrich-Simitis, I. (1979). Extremtraumatisierung als kumulatives Trauma. Psychoanalytische Studien über seelische Nachwirkungen der Konzentrationslagerhaft. Psyche – Z Psychoanal., 33 (11), S. 991–1023.

Heim, S. (2015). Neue Quellen, neue Fragen? Eine Zwischenbilanz des Editionsprojektes »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden«, in: Frank Bajohr/Andrea Löw (Hg.), Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a.M, S. 321–338.

Jockusch, L. (2012). Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe. New York: Oxford.

Klotz, A. (2022). Gemeinsam gegen Deutschland. Warschaus Jiddische Presse im Kampf gegen den Nationalsozialismus (1930–1941). Berlin Boston: De Gruyter Oldenbourg. 

Reichwald, A. et al (2024). Ende der Zeitzeugenschaft? Über den Umgang mit Zeugnissen von Überlebenden der NS-Verfolgung. Göttingen: Wallstein.

Schulz, M. (2016). Der Beginn des Untergangs – Die Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Polen und das Vermächtnis des Wilnaer Komitees. Berlin: Metropol. 

Vertovec, S. (2024). Superdiversität: Migration und soziale Komplexität. Berlin: Suhrkamp.

Volkan, V. (2000). Large group identity and chosen trauma. Psyche – Z Psychoanal., 54(9): 931–953.

Zöchmeister, M. (2013). Vom Leben danach. Gießen: Psychosozial-Verlag.