„An einem schönen Sommertag, als alles duftete und die Felder, Gärten und Bäume in den Obstgärten erblühten mit ihren schönen Fruchtblüten und die Bewohner dies alles genießen konnten, wenn sie nach draußen gingen, hörte man, wie das Radio den Kriegsausbruch meldete.” Im Schtetl Hoschtsch, unweit von Riwne im Westen der Ukraine, laufen die Menschen an jenem Mittag des 22. Juni 1941 aufgeregt auf die Straße, um zu hören, was da Stalins Stellvertreter Wjatscheslaw Molotow über Lautsprecher verkündet: „Heute um vier Uhr morgens haben deutsche Truppen, ohne Vorwürfe und ohne Kriegserklärung an die Sowjetunion, an mehreren Stellen unser Land überfallen.“
Der jüdische Kaufmann Perets Goldstejn notiert diese Szene auf Jiddisch in seinem Notizbuch. Schöner Sommertag, Radiobotschaft – so in etwa erinnern sich viele Menschen in vielen anderen Ecken der Sowjetunion an den Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges 1941–1945. Was danach folgte waren nicht nur die blutigen Kämpfe zwischen Wehrmacht und der Roten Armee, auf die der Krieg oft reduziert wird, sondern lange Zeit der Besatzung mit Gewalt, Hunger, Ausbeutung und Vernichtung ganzer Ortschaften und ganzer Bevölkerungsgruppen – allen voran Jüdinnen und Juden. Insgesamt wurden schätzungsweise 14 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten ermordet. Viele lange, bevor die Nazis begannen, Jüdinnen und Juden in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern mit Gas zu ersticken. Doch diese Verbrechen gehören immer noch nicht zum Bestandteil der deutschen Erinnerung an die NS-Zeit. Darum geht es, um diese Verbrechen „östlich von Auschwitz”, in dem Projekt „Der Krieg und seine Opfer“, das dekoder.org in Kooperation mit der Professur für Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg seit Frühjahr 2024 umsetzt.
Gesichter des Krieges
Das Schtetl Hoschtsch liegt nicht weit von der neuen Grenze, die 1939 nach der Teilung Polens zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion gezogen wurde. Schon nach wenigen Tagen erreicht der Krieg die Kleinstadt Hoschtsch, das Krachen der Bombeneinschläge dröhnt ihm voraus. Mit ihm kommen die „Todesengel”, wie sie Perets Goldstejn nennt – Mordkommandos der deutschen Besatzungspolizei töten durch lokale Massenerschießungen die jüdische Zivilbevölkerung. Erst im Herbst 1941, dann im Frühjahr 1942 – abschließend im Herbst 1942. Viel mehr Jüdinnen und Juden gab es hier nicht mehr. Von rund 1.000 Menschen aus der jüdischen Gemeinde überlebten die Massaker in etwa 20. Kurze Zeit auch Perets Goldstejn. Er versteckte sich auf dem Dachboden bei einem polnischen Bauern, wo er auch seine Aufzeichnungen über Massenmorde und Repressionen – 150 Seiten auf Jiddisch – verfasste.
Die Geschichte von Perets Goldstejn ist die erste Geschichte in unserer Storytelling-Doku. Goldstejn, Hoschtscha und viele Tausende anderer Orte fehlen bis heute auf der Landkarte der deutschen Erinnerung. Unser Projekt stellt in gewisser Weise eine „Osterweiterung der deutschen Erinnerung“ dar – wir stellen verdrängte und vergessene Orte und Opfer dieser Massenverbrechen in der Ukraine, in Belarus, Russland, dem Baltikum und andernorts in den Vordergrund. Nicht als statistische Masse, sondern als Akteur:innen. Selten passen sie streng ins Täter-Opfer-Schema, folgen stattdessen einer eigenen Agency, entwickeln im Laufe des Krieges eigene Handlungsstrategien. Letztlich sorgen sie selbst auf verschiedene Weise dafür, dass ihre Geschichten den Krieg überdauern sollten.
So war es beispielsweise mit der jungen Lidija Krylowa der Fall, die der Romani Gemeinschaft im westrussischen Dorf Alexandrowka bei Smolensk angehörte. Im April 1942 kann sie gerade noch dem Tod entkommen, als sie schon an der Erschießungsgrube steht – und später in einer sowjetischen Ermittlungskommission das Massaker bezeugen. Oder mit Nadja Sljessarjewa – einem Mädchen aus dem ukrainischen Dnipropetrowsk, das 1943 zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurde. Oder mit Marat Kusnezow – einem neunjährigen Jungen, der im Ferienlager bei Minsk vom Krieg überrascht wurde und zwei Jahre im Kinderheim unter deutscher Besatzung verbringen musste, bis er ebenso zur Zwangsarbeit nach Deutschland abtransportiert wurde wie Nadja Sljessarjewa.
Auf der anderen Seite steht, seit dem ersten Schuss der Deutschen, mitten im Gefecht, der sowjetische Offizier Nikolaj Nowodarow. Er ist seit 1939 im ostpolnischen Łomża stationiert. Offiziell, um „belarussische Brüder” zu verteidigen. Er merkt schnell, dass das nur ein Vorwand für die sowjetische Besatzung war. Doch Widerstand leistet er nicht. Er versteht sich als Sowjetmensch, die Rote Armee ist sein Leben. Und doch wird er im Zweiten Weltkrieg, seiner schwersten Schlacht, kaum kämpfen. Wenige Wochen nach dem Deutschen Überfall wird er von den Deutschen überwältigt. Für ihn beginnt damit eine Odyssee durch Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager. Seine Geschichte kennen wir aus Verhörprotokollen und Nowodarows nie erschienenem autobiografischen Roman.
Die Betroffenen stoßen uns auf Nichtwissen über den Vernichtungskrieg
Unsere Storytelling-Doku hört den genannten und anderen Betroffenen zu und folgt ihren Geschichten durch die brutalen Kriegsjahre. Dabei stoßen wir immer wieder unsanft auf Wissens- und Forschungslücken und große empirische Unklarheiten. Allein die Frage nach der Summe der zivilen Opfer bleibt eine grobe Schätzung, die durch unterschiedliche Berechnungswege entsteht. Insgesamt spricht die Forschung von 27 Millionen sowjetischen Opfern, davon wohl etwa 11 Millionen Rotarmisten aus der Ukraine, Belarus, Russland, und anderen Teilen der Sowjetunion. Für zivile Opfer nennt die aktuelle Forschung etwa 14 Millionen. Mindestens zwei Millionen Menschen sind übrig? Es bleibt eine unvorstellbar große Zahl von Menschen – aus allen Schichten der Bevölkerung und allen Ecken der damaligen Sowjetunion, die vom Krieg betroffen waren. Lückenhaft sind hingegen Daten zu Zwangsarbeit, Kriegsgefangenschaft, Patient:innenmorden… selbst zu deutschen Konzentrationslagern, deren vollständige Liste 2024 immer noch nicht vorhanden ist.
Die Liste der Gräueltaten der deutschen Besatzer gegen die Menschen in der Sowjetunion ist lang. Aber im deutschen Diskurs noch stark unterbelichtet. Das Nichtwissen ist riesig. Das zeigt sich immer wieder in aktuellen Diskussionen, beispielsweise um die Unterstützung der Ukraine gegen Russlands Angriffskrieg, wenn Argumente wie „historische Verantwortung“ aus ihrem Kontext gerissen und zu Propagandazwecken instrumentalisiert werden.
Grausamkeiten – im Online-Format
Länge und Komplexität des Themas sind mit diesen Geschichten die größte Herausforderung. In der „Textwelt“ gab es für uns kaum Formatvorbilder. Aber wie passt Länge zur bekanntermaßen schrumpfenden Aufmerksamkeitsspanne von Internet-Nutzer:innen?
Wir haben als interdisziplinäres und internationales Team ein Format entwickelt, in dem wir den großen Erzählbogen über den Krieg strukturieren. In zehn Folgen, die sich jeweils wiederum in übersichtliche Sequenzen teilen, die auf drei Ebenen stattfinden:
Die Perspektive der Protagonist:innen bewegt sich in Animationen und Zitaten aus Primärquellen.
Drum herum bauen unsere Erzähler:innen – Historiker:innen aus dem deutsch-, russisch- und ukrainischsprachigen Forschungsumfeld mit ihrem wertvollen Kontext- und Detailwissen zusammen mit den Redakteur:innen – das Drehbuch und den Text. Dynamische Karten und Datenvisualisierung betten die Geschichte auf der Meta-Ebene ein in ein europaweit wütendes Vernichtungssystem. Unzählige Orte der Grausamkeit überziehen die Landkarte – sie zeigen das deutsche Lagersystem mit Konzentrations-, Zwangsarbeits- und Kriegsgefangenenlagern, aber auch Kriegsschäden auf Stadtplänen sowie die Gulags in der Sowjetunion.
Weder ein militarisierter Heldenmythos noch ein passives Opferbild finden hier Platz. Wir schaffen Raum für das konkrete Grauen des Krieges, aber auch für individuelles Handeln und Widersprüche, die zum (Über-)Leben unter Krieg, Besatzung und Gewaltregimen gehören.
Die Projektidee entstand 2021, als wir bei dekoder auf das trilaterale Forschungsprojekt „Violence against Civilian Victims on the Eastern Front of World War II“ stießen. Unter Leitung von Professorin Tanja Penter von der Universität Heidelberg haben Wissenschaftler:innen aus Deutschland, der Ukraine und Russland umfassende Forschungsarbeiten zu diesem Thema geleistet. Gemeinsam mit Tanja Penter und dem Forschungsteam entstand im Februar 2022, kurz vor dem großen russischen Angriff auf die Ukraine, das erste Konzept. Es folgten mehrere Überarbeitungen, bis es die heutige Form der Scroll-Doku-Serie angenommen hat. Die Doku-Serie wird zudem in Sprachversionen auf Russisch und Ukrainisch veröffentlicht.
Vermerk:
Das Projekt wird in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.