Dabei unterschied man in den DDR-Statistiken zwischen den „Erstzuziehenden“ und den „Rückkehrern“. Bei den „Erstzuziehenden“ handelte es sich um Bürger der Bundesrepublik, die zum ersten Mal in die DDR kamen - allerdings für einen längerfristigen Aufenthalt. Als „Rückkehrer“ wurden jene DDR-Bürger bezeichnet, die aus der DDR in die Bundesrepublik geflohen waren und jetzt zurück wollten.[2]
Die Rückkehrer machten zwei Drittel der Gesamtzahl der Übersiedler aus. Viele von ihnen verspürten Heimweh, konnten sich in die westdeutsche Gesellschaft nicht integrieren, waren in ihren Erwartungen enttäuscht oder blieben bei der Arbeitssuche erfolglos und gingen deshalb zurück. In der Heimat dagegen wurden sie als „gescheiterte Existenzen“ empfangen, durften nur wenig qualifizierte Arbeiten verrichten und wurden von der Volkspolizei besonders intensiv kontrolliert. Nicht selten kam es zur erneuten Abwanderung in den Westen.[3]
Politische Motive spielten bei der West-Ost-Wanderung eine geringere Rolle, als es sich die DDR-Führung gewünscht hätte. So waren es in den 50er Jahren bei 35,5 Prozent aller Auswanderer familiäre und private Beweggründe, 55,7 Prozent wanderten aus wirtschaftlichen Gründen aus. Bei 24 Prozent war es die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, die zur Ausreise in die DDR zwang, 7,1 Prozent kamen infolge gezielter Abwanderungskampagnen in die DDR und lediglich bei 1,7 Prozent waren politische Motive im Spiel.[4]
In den DDR-Statistiken traten dagegen die familiär-persönlichen Gründe in den Hintergrund, dafür wurden die wirtschaftlichen und politischen Gründe für die Ausreise aus der Bundesrepublik hervorgehoben. Nach 1960 wurden familiäre Beweggründe, die den Ausschlag zur Migration gaben, in den DDR-Statistiken nicht mehr aufgeführt.[5]
Die SED-Führung verhielt sich gegenüber den Rückkehrern stets ambivalent. Republikflucht galt als „Landesverrat“ und wurde seit 1950 strafrechtlich verfolgt. In den Medien wurden die Flüchtlinge aufs Schärfste verurteilt. In den Betrieben waren kollektive Verurteilungen der geflüchteten Kollegen an der Tagesordnung. Auf Plakaten, in Gedichten und Zeitungsartikeln wurden sie als „Landesverräter“ und „Diebe“ diffamiert. So erschien etwa im „Forum“, einer „Zeitung der Studenten und der jungen Intelligenz“, ein Gedicht mit dem Titel „Du, Doktor!“ von Horst Salamon, der die Flucht der Akademiker an den Pranger stellte:
Du bist nach dem Westen gegangen. Du danktest dem Arbeiterstaat für Stipendien, Gehälter und Spesen mit feigem, gemeinem Verrat. Du bist zur Uni gegangen, wurdest ein feiner Pinkel; hast uns von "oben" betrachtet, umnebelt von Standesdünkel. Du hast unser Geld genommen wie eine Hure - gewissenlos - dir fiel durch unsere Arbeit dein Studium in den Schoß.[6]
Im Rahmen der Politik des „Neuen Kurses“ nach den Protesten im Juni 1953 und auf Drängen der sowjetischen Führung sah sich die SED-Führung zu einer Änderung ihrer Aufnahmepolitik von Übersiedlern aus dem Westen und auch bei der Behandlung der Rückkehrer genötigt.[7] Bis etwa 1952 waren Übersiedler aufgrund der Ressourcenknappheit in der DDR nicht willkommen. Gleichzeitig behinderte die Abwanderung der jungen Arbeitskräfte die Durchsetzung der Fünfjahrespläne und zeichnete ein negatives Bild der noch jungen DDR.
Im Januar 1953 wurde beim Presseamt des Ministerrats eine Kommission für die propagandistische Arbeit gegen die „Republikflucht“ eingesetzt. Auftrag dieser Kommission war es, Material über die „menschenunwürdigen Zustände“ im „goldenen“ Westen zu sammeln und der Öffentlichkeit „wirkungsvoll“ zu präsentieren. Auf den Straßen wurden „Schaukästen“ aufgestellt, die Information über die „Abwerbung von Bürgern der DDR“ lieferten. Die Abwanderung vor allem der jüngeren DDR-Bürger wurde auf die „Hetze des Westens“ und seine gezielten Abwerbekampagnen zurückgeführt. Zum Thema „Abwerbung“ wurden wissenschaftliche Arbeiten verfasst. Die organisierte Republikflucht wurde als „staatsfeindlicher Menschenhandel“ bezeichnet.[8] Zeitgleich wurden Komitees zur Rückführung der Republikflüchtigen ins Leben gerufen. Der gewünschte Erfolg dieser Maßnahmen blieb jedoch aus.[9]
Die DDR-Führung versuchte, in der Presse, im Radio und in Wochenschauen durch zahlreiche Interviews mit Rückkehrern aus dem Westen ein düsteres Bild des bundesdeutschen Alltags zu zeichnen. Der Öffentlichkeit wurden reumütige Rückkehrer präsentiert, die, „geblendet“ durch die Westpropaganda, durch die „Lügenhetze des westdeutschen Lügensenders“ in den „goldenen“ Westen gegangen waren und schließlich voller Enttäuschung in die Heimat zurückkehrten. Im Jahr 1953 erschien eine illustrierte Broschüre mit dem Titel „Vom goldenen Westen geheilt“ und 1955 das Heft „Wir kamen aus dem ‚goldenen’ Westen“ worin die Rückkehrer über ihre schlechten Erfahrungen unter dem „Adenauer-Kriegsregime“ berichten.[10]
Die Texte ähnelten sich. „Enttäuscht“ über die Arbeitslosigkeit, hohe Lebenskosten und die politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik, sagen die Rückkehrer: „Deshalb bin ich glücklich, wieder in der Heimat zu sein und als Hochschullehrer in unserem Arbeiter- und Bauernstaat wirken zu können ..."[11] oder: „Ich bin aus dem Deutschland der Lüge ins Deutschland der Wahrheit gegangen.“[12]
Übersiedler mussten auf internationalen Konferenzen auftreten, um ein positives Bild von der DDR zu vermitteln.[13]
Um den Bevölkerungsverlust auszugleichen, versuchte die SED-Führung, Bundesbürger und „Republikflüchtlinge“ mittels finanzieller Unterstützungen, sozialer Leistungen, erleichterter Kreditvergabe, Wohnungs- und Arbeitszuweisungen ins Land zu locken. Den Rückkehrern wurde außerdem die Rückgabe ihres Eigentums garantiert. War dies nicht möglich, sollten sie einen Ersatz oder zumindest verbilligte Kredite erhalten. Straffreiheit wurde zudem garantiert.
Die Jahre 1954 und 1957 gelten als Hochphase der West-Ost-Wanderung: Die Zahl der Zuwanderer verdoppelte sich 1954 (nach den DDR-Statistiken) gegenüber dem Vorjahr von 31.792 auf 75.867 und erreichte 1957 den Höchststand mit 77.952 Personen.[14] Mit dem Erlass eines neuen Passgesetzes am 11. Dezember 1957 änderte sich die Lage schlagartig. Von nun an waren nicht nur die Flucht selbst, sondern auch „Vorbereitung und Versuch“ strafbar. Bereits im darauffolgenden Jahr wurden 10.000 Verfahren wegen „Republikflucht“ eingeleitet. Mit diesem Gesetz wollte die SED-Führung den permanenten Verlust von Arbeitskräften stoppen. In erster Linie sollte diese Maßnahme abschreckend auf die Bevölkerung wirken, gleichzeitig aber verminderte sie die Rückkehrwilligkeit der Menschen, die bereits Richtung Westen geflohen waren.
Im Zeitraum von 1957 bis 1961 sank die Zahl derer, die in die DDR übersiedelten. Rund 43.000 waren es 1960. Viele Einreiseanträge wurden von den DDR-Behörden aus „Sicherheitsgründen“ abgewiesen. Ehemalige Republikflüchtlinge und jetzt Rückkehrwillige galten als „unzuverlässige Elemente“, und jeder, der kam, wurde auf seine Loyalität zur sozialistischen Gesellschaftsordnung geprüft. Um die Übersiedler aus dem Westen besser zu kontrollieren und das Einschleusen von „Westagenten“ und „kriminellen Elementen“ zu vermeiden, wurden in der DDR ab 1953 ebenfalls „Notaufnahmelager“ eingerichtet. Allerdings wurde im offiziellen Gebrauch das Wort „Lager“ vermieden, um Parallelen mit der NS-Zeit oder der Praxis der Notaufnahmelager im Westen nicht aufkommen zu lassen. Man bevorzugte die Begriffe „Heim“ oder „Unterkunftsstelle“.[15]
Die ersten Lager entstanden 1953 in Eisenach, Bützow, Frankfurt an der Oder und Fürstenwalde, in den nächsten Jahren kamen aufgrund steigender Übersiedlerzahlen „Verteilerstellen“ in Schönebeck, Barby, Rudolstadt und Blankenfelde hinzu. Zwischen 1954 und 1957 durchliefen solche Auffangstellen nur 6,4 bis 10,8 Prozent aller West-Ost-Migranten (4.727 bis 8.664 Personen), in den Jahren 1960 und 1961 mussten sich bereits 96,9 Prozent aller Zuziehender einer eingehender Prüfung in einem Aufnahmeheim unterziehen. 1960 waren es 41.609 und 1961 32.975 Menschen.[16]
Die Inszenierung einer Referenzgesellschaft: Die DDR als „antifaschistischer“ und „friedliebender“ Staat
Die DDR-Regierung war vor allem am Zuzug von jungen Westdeutschen, an qualifizierten Arbeitern und an Akademikern interessiert. In Erwartung, dass viele Ärzte, Ingenieure und Juristen in die DDR kommen, wurde 1957 das sogenannte „Intelligenzheim“ in Ferch in der Nähe von Potsdam eingerichtet. Das Heim hatte allerdings nur zwanzig Plätze und wurde bereits im Jahr 1962 geschlossen.[17]
Um die erwünschten Gruppen zu werben, wurde 1957 vom Ausschuss für deutsche Einheit eine Broschüre unter dem Titel „Die DDR und Du“ veröffentlicht, die speziell für Bundesbürger gedacht war und die mit den „gesellschaftlichen und sozialen Errungenschaften“ in der DDR warb. Hervorgehoben wurde unter anderem, dass es in der DDR „keine allgemeine Wehrpflicht“, „keine Faschisten im Staatsapparat“ gab und dass niemand „militärische Organisationen gründen“, „zum Kriege hetzen und sich an Rüstungsaufträgen bereichern“ kann. Denselben Zweck verfolgte die Herausgabe des Buches „Start ins Leben“, das ebenfalls für potenzielle Übersiedler verfasst worden war und in dem Wohn- und Arbeitsverhältnisse, Mieten und Löhne in beiden deutschen Staaten verglichen wurden.[18]
Die Einführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik im Jahr 1956 und der NATO-Beitritt 1955 bot Anlass für eine weitere Kampagne, die westdeutsche Jugendliche dazu bringen sollte, in die DDR zu „flüchten“, um somit dem Wehrdienst zu entgehen. Als in der Bundesrepublik die Wiederbewaffnungsdebatte (1955) in vollem Gange war, veröffentlicht die Volkskammer den Beschluss „Zum Schutze der friedliebenden Jugend Westdeutschlands“. Hierin hieß es: „Alle Jugendlichen, die in Westdeutschland gegen die Militarisierung kämpfen und sich gegen die drohende Rekrutierung zur Wehr setzen und unter Missachtung der persönlichen Freiheiten der demokratischen Rechte der Verfolgung durch die Adenauer-Behörden ausgesetzt sind, werden, wenn sie es wünschen, in der Deutschen Demokratischen Republik aufgenommen.“[19]
Das „Neue Deutschland“ frohlockte bereits im Juli 1956: „Jetzt stimmen die westdeutschen Jugendlichen mit den Füßen ab, indem sie in die DDR kommen. Unsere deutsche Jugend soll nicht für Krupp sterben, sondern für sich, für ganz Deutschland leben,“ triumphierte „Neues Deutschland“ im Juli 1956.[20]Auch die Wochenschauen dieser Zeit widmeten sich dem Thema. Wiederholt wurden Flüchtlinge interviewt, deren Übersiedlungsmotiv vor allem in der Wiederaufrüstungspolitik der Bundesrepublik lag.[21]
In einer DEFA-Sendung von 1958 über die Pressekonferenz im Aufnahmeheim Schönebeck, auf der die Übersiedler aus dem Westen zu Wort kamen hieß es: „Täglich wächst der Strom der Übersiedler, bereits 2.000.000 BRD-Bürger haben „den richtigen Weg gewählt“, den westdeutschen Staat verlassen und in die DDR übergesiedelt, die eine „friedliche Zukunft“ und „soziale Sicherheit“ garantiert.[22]
Nach außen wurden die Kampagnen weitergeführt, intern versuchte man vergeblich, Maßnahmen gegen die Republikflucht effektiver zu gestalten. Es wurden Strafverfahren gegen die „Abwerber“ eingeleitet. Wobei der Begriff „Abwerber“ sehr breit ausgelegt wurde. Danach sollte jeder, der die „Verhältnisse in Westdeutschland verherrlicht und dadurch die Republikflucht oder die Absicht der Republikflucht hervorruft, […] als Abwerber zur Verantwortung gezogen werden, gleich ob er bewußt oder unbewußt dazu beigetragen hat.“ [23]
Die DDR-Führung erkannte jedoch durchaus die Anziehungskraft des Westens. Deutlich wird dies in einem Schreiben Walter Ulbrichts an Bulganin und Chruschtschow vom 17.12.1955: „Warum wandern diese Kräfte ab? Zum Teil sind sie angeworben. Die Konjunktur in Westdeutschland ist verlockend. […] sie können Dinge, die bei uns knapp und teuer sind […] kaufen, wie Motorräder, Möbel, Kühlschränke, Bekleidung guter Qualität […] und anderes mehr. Außerdem ist die Versorgung mit Genussmitteln wie Kaffee, Tee, Kakao, Schokolade und Südfrüchten unvergleichlich besser als bei uns“[24].
Die West-Ost Migration in den 1960er und 1980er Jahren
Nach dem Mauerbau 1961 nahm die Zahl der Übersiedler von West nach Ost rapide ab. Waren es 1961 noch 34.039 Menschen, die in die DDR kamen, verringerte sich deren Zahl im darauffolgenden Jahr auf weniger als die Hälfte (14.472). Ab 1963 wurden noch 7.000 Zuzügler pro Jahr registriert. Nach 1966 sank die Zahl der Übersiedler weiter und 1968 waren es nur noch etwa 2000 Personen.[25]
Vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges und der Studentenproteste der 1960er Jahre, erschien die DDR Manchem als Alternative. Der „antifaschistische“ Gründungsmythos der DDR wirkte umso stärker, als in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit verstärkt kommuniziert wurde, wie viele durch die Nazi-Vergangenheit vorbelastete Personen in führende Positionen der Justiz, in Ministerien und Unternehmen aufgestiegen waren.
Einer derjenigen, die 1968 aus Protest gegen die westdeutsche Gesellschaft in die DDR übersiedelten, war der Schauspieler Wolfgang Kieling. Empört über die einseitige Berichterstattung der westdeutschen Medien und „den Verfall des westdeutschen Kulturbetriebes durch Manipulation und Bevormundung“, gab er den Filmpreis „Goldene Kamera“ der Fernsehzeitschrift „Hör zu“ zurück, mit der Begründung, diese gehöre dem Axel-Springer-Verlag, der in seiner Berichterstattung über den Vietnamkrieg den realen Ereignissen nicht gerecht würde. Später ließ er seine Filmpreis, das „Filmband in Gold“ zur Unterstützung der vietnamesischen Befreiungsbewegung versteigern.[26]
Kieling wurde in der DDR euphorisch empfangen. Die DDR-Presse instrumentalisierte die Übersiedlung Kielings und sah in dem Entschluss des Schriftstellers ein „Bekenntnis zur Humanität“, so die „Berliner Zeitung“. Das „Neue Deutschland“ sprach in diesem Zusammenhang von der „Abscheu vor der alten Welt“. Die Karl-Marx-Städter „Freie Presse“ schrieb: „Als Künstler konnte er nicht schweigen“, und in den „Norddeutschen Neuesten Nachrichten“ aus Rostock hieß es: „Er wählte den Weg ins Leben“.[27]
Seit den frühen 1970er Jahren existierte der Begriff „Antrag“ im Sprachgebrauch der DDR-Bevölkerung. Der „Antrag“ umschrieb die Möglichkeit, die DDR auf legalem Weg zu verlassen. Offiziell galten die Anträge jedoch als „rechtswidrige Übersiedlungsgesuche“, und in den Behörden hieß es auf Nachfrage, dass es derartige Vorgänge nicht gebe. Dennoch sickerten Gerüchte über jene durch, die mittels Antrag in die Bundesrepublik ausgereist waren.
Im Jahre 1984 wurde insgesamt 30 000 DDR-Bürgern die Ausreise in die Bundesrepublik genehmigt.[28] Im Jahr darauf startete die SED eine Kampagne gegen den Bevölkerungsschwund. In der Presse erschienen zahlreiche Artikel und Interviews, in denen ehemalige Republikflüchtlinge über die Gründe ihrer Rückkehr in die Heimat berichten. Die negativen Berichte sollten den Ansturm der Antragsteller eindämmen und zur Rücknahme der Ausreiseanträge bewegen.
Das Neue Deutschland titelte im März 1985: „Über 20 000 wollen zurück“. Viele seien nach der Ankunft im Westen „enttäuscht von sozialen Verhältnissen“ und von „schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen“ und führten drüben „das Leben unter dem Existenzminimum“, so das ND. Betroffen von der Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit, waren sie „Fremde in einer fremden Welt“, und ihr Leben im „goldenen Westen“, wie sie es sich zunächst vorgestellt hatten, entpuppte sich als ein „unmenschlicher Lebenskampf“.[29]
Dabei war die Zahl „20 000“ übertrieben. Das Statistische Jahrbuch der DDR registrierte für das Jahr 1985 311 Zuziehende und Rückkehrer, im Jahr 1986 waren es 260 Personen.[30] Die Ambivalenz der Gefühle und die nicht selten enttäuschten Hoffnungen junger Ausreisender macht ein Spiegel-Interview aus dem Jahr 1984 deutlich. So gesteht einer der Interviewten im Nachdenken über sein Leben im Westen ein: „Also die positive Einstellung zum Westen hat sich jeändert, uff jeden Fall. Da is man in’ Osten ziemlich jeblendet, und wenn man denn hier ankommt, kricht man ’n janz schönen Schreck. Der rosarote Westen und so – det sieht man aus’n Osten nicht so richtig, ebn nur in Fernsehn…“ Und die Empfehlung an andere Ausreisewillige: „Ick würde den’ sagn, die solln sich det erst ma richtich übalegn, bevor se ausreisn.“[31]
Unter dem Titel „Nicht nur Heimweh. Interviews mit Enttäuschten“ drehen der Journalist und Mitarbeiter der Staatssicherheit Gernot Krüger und Fernsehmoderator Ulrich Makosch 1985 ein Film über die Rückkehrer in die DDR. Dabei sollten jene im Fokus stehen, die ihre Flucht in den Westen bereuten. Ziel war es, „etwas gegen die Westpropaganda“ zu unternehmen, die behauptete, „dass alle angeblich nach drüben wollen“. Mit einem solchen Film könnte die Öffentlichkeit etwas „aus erster Hand über das wahre Gesicht des Kapitalismus“ erfahren. Die Betroffenen sollten über ihre „schlechten Erfahrungen im Westen“ berichten und ihren Entschluss, in den Westen zu „türmen“, als „Irrweg“ und „Irrtum“ bezeichnen. Ende 1986 beschließt das Ministerium für Staatssicherheit, den Film doch nicht auszustrahlen.[32]
Ein besonderes Kapitel der West-Ost-Wanderung stellt die Übersiedlung der zehn RAF-Mitglieder dar, die seit den 1980er Jahren unter geänderten Namen und erfundenen Lebensgeschichten an verschiedenen Orten in der DDR den Unterschlupf fanden. Zu ihrer Enttarnung kam es erst 1990.[33]
Im September 1989 kehrte der Schriftsteller Ronald M. Schernikau der Bundesrepublik den Rücken, um dem dort herrschenden „Terrorismus des Pluralismus“ zu entkommen.[34] Die Tragik Schernikaus bestand darin, dass sich der Staat seiner Wahl in den kommenden Wochen auflösen sollte. Schernikau war der letzte Bundesbürger, den die Deutsche Demokratische Republik einbürgerte.[35]
In den Jahren 1964 bis1984 übersiedelten rund 48.000 Menschen aus der Bundesrepublik in den ostdeutschen Staat.[36] Von den vielen Aufnahmeheimen, die in der DDR in Erwartung eines „Flüchtlingsstroms“ aus dem Westen errichtet worden waren, blieb bis Ende der 80er Jahre nur das Lager in Röntgenthal (bei Berlin) übrig, alle anderen wurden wegen mangelnder Nachfrage nach und nach geschlossen. Das Zentrale Aufnahmeheim (ZAH) in Röntgenthal blieb bis 1989 bestehen. Heute befindet sich dort ein Seniorenheim.
[1] Vgl. Schmelz, Andrea, Migration und Politik im geteilten Deutschland während des Kalten Krieges. Die West-Ost-Migration in die DDR in den 1950er und 1960er Jahren, Opladen 2002, S. 39.
[2] Vgl. Röhlke, Claudia, Entscheidung für den Osten. Die West-Ost-Migration, in: Effner, Bettina, Heidemeyer, Helge(Hg.), Flucht im geteilten Deutschland. Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Berlin-Brandenburg 2005, S. 98.
[3] Vgl. Schmelz, Migration, S. 297.
[4] Vgl. Schmelz, Migration und Politik, S. 45.
[5] Röhlke, Entscheidung für den Osten, S. 106.
[6] „Wurdest ein feiner Pinkel“, in: Der Spiegel, 25/1958, S. 27.
[7] Vgl. Vgl. Bispinck, Henrik, „Republikflucht“: Flucht und Ausreise als Problem für die DDR-Führung, in: Hoffmann, Dierk, Schwartz, Michael, Wentker (Hg.), Vor dem Mauerbau. Politik und Gesellschaft in der DDR der fünfziger Jahre, Oldenbourg 2003, S. 293.
[8] Vgl. Schmelz, Migration und Politik, S. 172.
[9] Vgl. Schmelz, Migration und Politik, S. 127.
[10] Vgl. Stöver, Bernd, Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler, München 2009, S. 74.
[11] „Das wahre Vaterland“, in: Der Spiegel, 20/1956, S. 17.
[12] „Die DDR – das Vaterland aller guten Deutschen“, in: Neues Deutschland vom 18. August 1961.
[13] Vgl. Bispinck, Henrik, „Republikflucht“, S. 294.
[14] Vgl. Schmelz, Migration und Politik, S. 39.
[15] Vgl. Schmelz, Migration und Politik, S. 216.
[16] Vgl. Schmelz, Migration und Politik, S. 218.
[17] Vgl. Stöver, Zuflucht DDR, S. 113.
[18] Die DDR und Du, in: Stöver, Zuflucht DDR, S. 55 und S. 71.
[19] Zit. nach: Schmelz, Migration und Politik, S. 123.
[20] Neues Deutschland vom 14.07.1956, S. 1.
[21] Vgl. etwa die DDR-Wochenschauen vom 28. Juli 1959 und vom 4. November 1958.
[22] DDR-Wochenschau, 1958, zu sehen in der Erinnerungsstätte Marienfelde.
[23] Zit. nach Schmelz, Migration und Politik, S. 148 ff.
[24] Zit. nach Schmelz, Migration und Politik, S. 146-147.
[25] Vgl. Schmelz, Migration und Politik, S. 39.
[26] Vgl. Röhlke, S. 107.
[27] Vgl. Schenk, Ralf, Der Mann, der durch die Mauer ging, in: Berliner Zeitung vom 29.03.2008.
[28] Vgl. Wolle, Stefan, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 – 1989, Bonn 1999, S. 285.
[29] „Über 20 000 wollen zurück“, in: Neues Deutschland vom 6. März 1985, S. 3.
[30] Vgl. Stoll, Einmal Freiheit, S. 16.
[31] Vgl. „Nur Knete im Kopp“, in: Der Spiegel, 14/1984, S. 25.
[32] Vgl. Stoll, Einmal Freiheit und zurück, S. 141f und 152f.
[33] Vgl. Küpper, Mechthild, Die RAF in der DDR. „Wie kann man mit dieser Vergangenheit leben?“, in: FAZ.net vom 12.06.2007, abgerufen am 17.03.2012.
[34] Oehmke, Philipp, Zwischen den Welten, in: Der Spiegel, 10/2009, S. 152.
[35] Zu diesem Thema empfehlenswert: Frings, Matthias, Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau, Berlin 2009.
[36] Vgl. Wunschik, Tobias, Migrationspolitische Hypertrophien: Aufnahme und Überwachung von Zuwanderern aus der Bundesrepublik Deutschland in der DDR, in: IMIS-Beiträge, Heft 32, 2007, S. 33.