Der anarchische Proto-Föderalismus der 1990er Jahre ist endgültig Geschichte. Stattdessen ist in Russland ein zentralisierter Staat entstanden, in dem die 89 so genannten „Subjekte“ der Föderation nur noch geringe Machtbefugnisse haben.
Das sowjetische Erbe und das Jahrzehnt der Regionen
Mit dem Kontrollverlust der KPdSU rissen zum Ende der Sowjetunion lokale Eliten die Macht in den Regionen an sich. In Moskau übertraf man sich indes gegenseitig dabei, den Provinzen Zugeständnisse zu machen. Zunächst war damit vor allem Souveränität gemeint. In der sogenannten „Parade der Souveränitäten” erklärten sich zwischen 1988 und 1991 nicht nur die Teilrepubliken der Sowjetunion, sondern auch 24 autonome Republiken und Kreise Russlands zu souveränen Staaten. Manchmal war es der sowjetische Präsident, Michail Gorbatschow, manchmal der russische Präsident, Boris Jelzin, der sie dabei unterstützte. Da regionale Eliten auch an der Ausarbeitung der russischen Souveränitätserklärung beteiligt waren, ist es wenig verwunderlich, dass sie diese Erklärung im Anschluss als Modell übernahmen. Jelzin selbst erklärte bei einem Besuch in Kasan, der Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan, dass die tatarische Führung doch „so viel Unabhängigkeit wie sie nur schlucken könnte“ für sich reklamieren solle.
Im nun folgenden „Krieg der Gesetze“ widersprachen 19 von 21 neu aufgesetzten Verfassungen in den autonomen Regionen der Verfassung der Russischen Föderation. Bereits die Tatsache, dass die autonomen Gebiete darauf bestanden, sich selbst eine Verfassung zu geben sowie „Präsidenten“ zu wählen, zeigt einen Teil des Problems. In den ethnisch definierten autonomen Republiken – etwa Tatarstan oder Baschkortostan – war eine auf „nationale Selbstbestimmung“ ausgerichtete Politik zunächst bestimmend: die regionalen Parlamente waren von den jeweiligen Titularnationen dominiert, und in Schulen wurde verstärkt in den Regionalsprachen unterrichtet. Dass in Kasan die größte Moschee Russlands unweit des Präsidentenpalasts errichtet und nach dem letzten Imam des Kasaner Khanats (1552 unterworfen) benannt wurde, unterstrich das neue Selbstverständnis.
Zugleich übernahmen zunehmend die Exekutiven die Kontrolle. Parlamente wurden mit Funktionären gefüllt, bei Wahlen gab es selten eine wirkliche Opposition, und die lokalen Medien waren von den Machthabern abhängig. In etlichen Republiken kristallisierten sich familiäre Netzwerke heraus, die die Politik bestimmten und zugleich den führenden Wirtschaftsunternehmen vorstanden. So entwickelten sich etliche Regionen zu semi-feudalen Lehnsgütern. Der tatarische Präsident Mintimer Schaimiew wurde mehrfach ohne Gegenkandidatur als Präsident wiedergewählt.
Die Verfassung stellte alle Subjekte der Föderation formell gleich; doch viele Details blieben ungeklärt, was den Weg für bilaterale Verträge freimachte. 1994 setzte daher das ein, was als „Parade der Verträge“ bekannt werden sollte. Im Kern war dies eine Regionalisierung jenseits der Verfassung. Regionen, die erfolgreich verhandelten, erlangten Privilegien und Ausnahmeregelungen. Der russische Föderalismus entstand somit nicht aus einer ausgewogenen Diskussion, sondern aus der hilflosen Akzeptanz der politischen Realität. Insgesamt schlossen 46 der 89 Subjekte der Föderation bilaterale Verträge mit Moskau. Tatarstan war die erste Republik, die ein solches Abkommen unterzeichnete. Von Anfang an jedoch besaßen diese Verträge ein Legitimationsdefizit, da sie nur von Exekutiven bestätigt, nicht aber von Parlamenten ratifiziert wurden. Als Abkommen auf Zeit waren sie von persönlichen Vereinbarungen abhängig.
Putins „Diktatur des Rechts“
Nach Putins Amtsantritt im Jahr 2000 entwickelte sich eine Kampagne, die Putin selbst als „Diktatur des Rechts“ bezeichnete. Die Macht der Republiken sollte gebrochen werden. Zwischen 2005 und 2012 wurden die Gouverneure nicht mehr gewählt, sondern ernannt. Vor allem aber bedeutete Putins Kampagne das Aus für all jene republikanische Gesetze, die den Bundesgesetzen widersprachen. Für die nach Autonomie strebenden Regionen rächte sich nun die Tatsache, dass die mit Moskau abgeschlossenen Verträge, konkrete Vereinbarungen nur für ein paar Jahre getroffen hatten. Die zunehmende Stärke des Zentrums bedeutete, dass die Regionen bei jedem neuen Vertrag frühere Privilegien aufgeben mussten. Entscheidungen des russischen Verfassungsgerichts, dass republikanische Verfassungen in Einklang mit der Bundesverfassung zu bringen seien, beschleunigten den Bedeutungsverlust der bilateralen Verträge.
Da Anweisungen von Kommissionen und Gerichten in Tatarstan wirkungslos geblieben waren, war es erst ein Gespräch zwischen Schaimiew und Putin, dass den Weg zur tatarischen Verfassung von 2002 freigab. Eine begrenzte Souveränität der Republik konnte der tatarische Präsident noch heraus handeln; die meisten Ansprüche jedoch, etwa die höhere Wertigkeit von tatarischen Gesetzen, der internationale Status der Republik und das rein assoziative Verhältnis mit Russland, mussten aufgegeben werden.
Tatarstan war in der Behandlung dennoch insofern privilegiert, als Schaimiew Einfluss und Respekt in Moskau genoss. Starke regionale Machthaber waren dem Kreml jedoch zunehmend ein Dorn im Auge. Es ist kein Zufall, dass im Jahr 2010 nicht nur Schaimiev, sondern auch die ähnlich mächtigen Präsidenten Murtasa Rachimow (Baschkortostan) und Kirsan Iljumschinow (Kalmückien) ankündigten, sich zurückzuziehen. Alle drei waren zu diesem Zeitpunkt bereits 15 bis 20 Jahre im Amt.
Mit dem Erstarken des Zentrums haben sich die republikanischen Spielräume stark reduziert. Das zeigt sich auch in der Bildungspolitik. Wie zu Sowjetzeiten kann man zwischen Schulen, in denen auf Russisch, und Schulen, in denen in Lokalsprachen unterrichtet wird, wählen. In Tatarstan stieg die Nachfrage nach tatarischsprachigem Unterricht in den 90er Jahren stark an. Die Betonung der ethnischen Identität stand jedoch im Widerspruch zum all-russischen Patriotismus der unter Putin gefördert wurde. So wurden die seit 1992 im Lehrplan verankerten ethno-regionalen Komponenten 2010 wieder abgeschafft. Die Unterweisung in tatarischer Sprache, Literatur und Geschichte erfolgt seitdem in verkürzter Form. Überdies wurde 2009 die auf Russisch abzulegende „Vereinheitlichte staatliche Prüfung“ in allen Schulen Russlands eingeführt. In Tatarstan hat diese Maßnahme die Nachfrage nach tatarischsprachigen Schulen nachhaltig reduziert.
Die Unabhängigkeitsrhetorik ist in Kasan weitgehend verstummt. Die Wolgarepublik hat sich von einer Bastion gegen das Zentrum zu einer Art Musterschüler gewandelt. Doch das tatarische Beispiel zeigt auch die Möglichkeiten der Regionen. Öl- und Gasreserven erklären die günstige ökonomische Lage Tatarstans nur zum Teil. Kaum einer anderen Republik gelingt es derart beständig, Fördergelder des Bundes zu gewinnen. Das von regionalen Eliten initiierte Projekt der Jugendolympiade 2013 ließ über 2 Milliarden US-Dollar für den Bau von Straßen, Sportzentren und Wohngebieten von Moskau nach Kasan fließen. Die Finanzierung weiterer Großereignisse folgte. Diese Erfolge haben weniger mit den Launen der Zentralregierung und mehr mit akribischer Lobbyarbeit und der politischen Verlässlichkeit Tatarstans zu tun. Auch der neue tatarische Präsident Rustam Minnikhanov spielt als Kopf einer muslimisch geprägten Region eine Rolle im strategischen Kalkül des Kreml, zuletzt bei Verhandlungen mit krimtatarischen Delegationen 2014.
Und dennoch: Von den unter Jelzin ausgehandelten Privilegien ist wenig übrig geblieben. Im Juli 2017 lief auch Kasans bilaterales Abkommen mit Moskau aus. Tatarstan war die letzte Republik, die noch ein solches Abkommen besessen hatte. Zwar sieht es so aus, als dürfte die Region weiterhin „Republik“ und ihr Kopf weiterhin „Präsident“ heißen; doch sind dies eher symbolische Zugeständnisse. Im autoritären Föderalismus der Regierung Putin sind die einst mächtigen Regionen nicht nur de iure „Subjekte“ der Föderation, sie sind es nun auch de facto.