von Alexandra Oberländer

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17. März 2018

Shuttle-Busse zur Arbeit? Mittagessen in der firmeneigenen Kantine? Zwischendurch zum Friseur auf dem Firmengelände, abends in den Fitnessklub oder ins Kino – ebenfalls bei der Firma angesiedelt? Die Tischtennisplatte, daneben der Lounge-Sessel?

Das ist die moderne und viel gepriesene Arbeitswelt, bei der noch allen klar ist, wo sie Zuhause ist: In den großen kapitalistischen Tech-Unternehmen im Silicon Valley und ihren weltweiten Ablegern – wo sonst? Wenn allerdings Feuilletonist*innen heutzutage glauben, dass sei eine aktuelle Entwicklung, ein Beitrag zu einer post-fordistischen und innovativen Unternehmenskultur, so sei ihnen angeraten einen kurzen Blick in die Geschichte der sowjetischen Arbeitswelt zu werfen.

Was High-Tech-Unternehmen heute wahr machen, ist im Grunde wenig anderes als integraler Bestandteil des sowjetischen Traums von einer sogenannten kommunistischen Gesellschaft, in der die Firma deutlich mehr sein sollte als nur der Ort zum Gelderwerb. Entsprechend wurden Kitaplätze und Wohnungen durch den Betrieb gestellt, die Ferien im Sanatorium über die Zugehörigkeit zu einem Arbeitskollektiv geregelt, Kolleg*innen waren Freund*innen, mit denen Geburtstage und Hochzeiten gefeiert wurden. Kurzum: Das Leben des sowjetischen Menschen spielte sich idealerweise im Betrieb ab – und dieser wurde als verlängertes Zuhause der Sowjetbürger*innen entworfen. Die sowjetische Utopie entdeckte in der Arbeit das „erste Lebensbedürfnis des Menschen“ (so das Parteiprogramm der KPdSU von 1961). Doch in der Praxis musste dieser Wille zur Arbeit betreut, verwaltet und gepflegt werden. Denn darauf, dass sowjetische Bürger*innen freiwillig arbeiten gehen würden, verließ sich die Partei der Bolschewiki nicht. Vielmehr machte sie Arbeit zur Pflicht. Und wer sich dieser Pflicht entzog, konnte strafrechtlich verfolgt werden – ein entsprechendes Gesetz wurde in den frühen 1960er Jahren erlassen.

Pflicht zur Arbeit hin oder her: Auch in der Sowjetunion war Arbeit bis zu einem gewissen Grad schlicht Lohnarbeit. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied zum kapitalistischen Westen: Für Geld konnte man in der Sowjetunion keineswegs alles kaufen; die Eigentümlichkeiten der sowjetischen „Planwirtschaft“ sorgten dafür, dass Geld nur eingeschränkt als allgemeines Äquivalent funktionierte. Weil weder Pflicht noch Geld verlässliche Motivationsfaktoren waren, spielte die emotionale Bindung an die Arbeit eine umso wichtigere Rolle. Eine Eigentümlichkeit der sowjetischen Arbeitswelt bestand allerdings darin, dass man der emotionalen oder moralischen Betreuung ihrer Arbeiter*innen nur wenig vertraute und daher beständig zwischen der Motivation durch Geld und ideellen Anreize schwankte. Diverse Heldentitel und Auszeichnungen waren die Folge, Stolz auf die eigenen Leistungen wurde gefördert, Neid und Missgunst unter Kolleg*innen damit allerdings auch.

Wie haben Menschen in der Sowjetunion ihre Arbeit erlebt und erfahren? Welche Rolle spielte Arbeit im Leben des/der einzelnen? Wie beeinflusste Arbeit Identität und Selbstwahrnehmung? Welche Rolle spielte Arbeit bei der Ausbildung gesellschaftlicher Hierarchien? Wie konstituierten sich soziale Beziehungen durch Arbeit? Und nicht zuletzt: Was galt als Arbeit und was wurde als Arbeit empfunden? Dies sind die leitenden Fragen in meinem Forschungsprojekt zu einer Kulturgeschichte der Arbeit in der späten Sowjetunion, das davon ausgeht, dass die Teilhabe am sowjetischen Projekt entlang der Kategorie Arbeit entschieden wurde. Die Arbeit vermittelte nicht nur Bürger*innen und Staat zueinander, sondern auch die Bürger*innen untereinander. Der Arbeitsplatz war ein Ort „intensiver Vergesellschaftung“.[1]

Zu jener intensiven Vergesellschaftung gehörte auch eine bestimmte Form der Selbstreflexion und Wahrnehmung der anderen. Der Beruf eines Menschen sagte viel über die Person aus, die Identifikation mit dem Arbeitsplatz wurde erwartet. Identitätsstiftung über Arbeit war zudem eine emotionale Angelegenheit. Arbeit in der Sowjetunion sollte mehr sein als nur der Ort des Lebenserwerbs, die Arbeit sollte der Selbstverwirklichung dienen. In der Tat hatten sehr viele Menschen einen ausgesprochen positiven Bezug zu ihrer Lohnarbeit im Sozialismus. Anders als in vielen kapitalistischen Staaten der 1960er und 1970er Jahre, in denen vor allem schlecht verdienende Menschen einen rein instrumentellen Bezug zur Arbeit hatten, waren sich sowjetische Bürger*innen – egal auf welcher Stufenleiter der gesellschaftlichen Jobhierarchie – ihres Beitrags bewusst, den sie zum Gelingen des sozialistischen Experiments leisteten. Selbst erwiesene Gegner*innen des Sozialismus legten in der Regel eine ausgesprochen hohe Arbeitsmoral an den Tag und wollten in der Arbeit mehr als die reine Pflichterfüllung entdecken. So berichtete Viktor Zoi, der wie viele andere Musiker*innen oder Künstler*innen zum Mindestlohn in einem Leningrader Heizungskeller arbeitete, in einem Interview über seine Zufriedenheit und Stolz darüber, dass seine Arbeit einen unmittelbaren Nutzen für andere hatte.

Der Auftrag, Freude an der Arbeit zu empfinden und sich in seiner Arbeit zu verwirklichen, sie eben nicht als ein lästiges Übel zu begreifen, das allein dem Gelderwerb dient, diesen Auftrag teilen industrialisierte Gesellschaften seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert. Welche Konsequenzen diese Anforderungen im heutigen Alltag haben, lässt sich an den nicht enden-wollenden Diskussionen über work-life-balance oder der Zunahme psychologischer Erkrankungen wie dem Burn-out ablesen. In kapitalistischen Gesellschaften dient die Arbeit vermeintlich dem individuellen Wohlempfinden und der persönlichen Weiterentwicklung, tatsächlich aber der Effizienz-und Leistungssteigerung. Wofür und wie sowjetische Menschen arbeiteten, inwiefern es der Sowjetunion gelungen ist, Arbeit tatsächlich zum „ersten Lebensbedürfnis des Menschen“ zu machen, gilt es noch zu untersuchen. Nur so viel sei schon jetzt verraten: Wenn am 18. März 2018 ein nicht unwesentlicher Teil russischer Bürger*innen Putin wählt, dann ist dies mit der Sehnsucht nach einem Arbeitsplatz verbunden, der mit dem Untergang der Sowjetunion unwiederbringlich verloren gegangen ist und sich nicht in Shuttle-Bussen oder Tischtennisplatten erschöpft.

 

[1] Ulf Brunnbauer, Der Mythos vom Rückzug ins Private, in: Nada Boškovska, Angelika Strobel und Daniel Ursprung (Hg.), „Entwickelter Sozialismus“ in Osteuropa: Arbeit, Konsum und Öffentlichkeit, Berlin 2016, S. 41.