1.
Nach den heftigen Debatten um das "Zentrum gegen Vertreibungen", die im Sommer und Frühherbst deutsche und polnische Feuilletons bestimmten, ist nun anscheinend wieder Ruhe ins deutsch-polnische Verhältnis eingekehrt. Das Thema ist an seinen Ausgangsort, nach Deutschland, zurückgekehrt, wo weiter über eine eventuelle Neuausrichtung des kollektiven Gedächtnisses sinniert wird. In Polen sind das Zentrum und die mit ihm verbundenen Konflikte weitgehend aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden. Es ist jedoch dies eher eine Ruhe nach dem Sturm, der jederzeit wieder ausbrechen kann, denn zu einer Verständigung oder wenigstens Annäherung der Standpunkte ist es in den erbitterten Auseinandersetzungen des Sommers 2003 nicht gekommen. Ganz im Gegenteil: viel Porzellan ist im seit 1989 sich so viel versprechend entwickelnden deutsch-polnischen Verhältnis zerschlagen worden. Die derzeitige Ruhe gleicht einer selbstverordneten Zwangspause, so als wüssten alle Diskutanten, dass bei einer weiteren Eskalation dem bilateralen Verhältnis nicht wieder gutzumachender Schaden zugefügt werden kann. Es ist daher jetzt vielleicht kein ungeeigneter Zeitpunkt, um ein erstes Resümee der jüngsten Debatte zu ziehen und zu versuchen, diese in den weiteren Kontext der deutsch-polnischen Erinnerung an und Beschäftigung mit der Vertreibung einzuordnen. Dabei soll hier nur die polnische Seite der Debatte in den Blick genommen werden, wobei natürlich immer wieder auf die deutsche Seite und deren Argumentationsstrategien Bezug genommen werden wird.
2.
Um die polnischen Reaktionen auf das geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" zu verstehen, ist es nötig, kurz die Entwicklung der polnischen Auseinandersetzung mit dem Thema der Vertreibung der Deutschen seit dem politischen Umbruch des Jahres 1989 zu skizzieren. Zwar hatten einige polnische Intellektuelle bereits vor jener Zäsur die Notwendigkeit der Beschäftigung mit diesem Aspekt der polnischen Nachkriegsgeschichte erkannt und in unterschiedlicher Form dazu Stellung genommen. Der Oppositionspolitiker Jan Józef Lipski etwa hatte bereits 1981 die Vertreibung der Deutschen als moralisch verwerflich, wenn auch nach den Kriegsereignissen kaum zu vermeiden in der polnischen Exilzeitschrift "Kultura" gebrandmarkt. Und der Publizist Adam Krzemiski bewies schon Mitte der achtziger Jahre ein reges Interesse für die ehemaligen deutschen Bewohner der neuen polnischen Westgebiete und spürte diesen in seinen Reportagen nach. Doch eine breite, weitere Kreise der polnischen Öffentlichkeit umfassende Debatte kam erst nach der Demokratisierung und Pluralisierung des öffentlichen Lebens seit dem Systemwechsel in Gang. Dann allerdings entwickelte sich rasch ein reger Meinungsaustausch über den Stellenwert der Vertreibung der Deutschen in der polnischen Nachkriegsgeschichte. Auslöser für diesen waren mehrere Faktoren. Zum einen ging es um die moralische Dimension der Vertreibung. In der offiziellen Betrachtung der Volksrepublik Polen war die "Zwangsaussiedlung" der Deutschen als ein historisch aus mehreren Gründen unausweichlicher Prozess betrachtet worden. Ein Zusammenleben mit den Deutschen, die sich durch ihre Unterstützung für das nationalsozialistische Regime kollektiv schuldig gemacht hatten, sei den Polen nicht mehr zuzumuten gewesen. Daneben wurde besonders auf die territoriale Neuordnung Ostmitteleuropas nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen, die unter anderem die Westverschiebung Polens zur Folge hatte und somit die Ausweisung der Deutschen schon allein aufgrund alliierter Beschlüsse und der Notwendigkeit, die aus Ostpolen kommenden Polen unterzubringen, unausweichlich gemacht habe. Nach 1989 wollten sich manche Polen mit diesen Erklärungen allein nicht mehr zufrieden geben. Zwar sah man die Westverschiebung Polens als unumkehrbar an und empfand die neuen Westgebiete als einen integralen Bestandteil des polnischen Staates. Doch die Ablehnung jeglicher Verantwortung für das den Deutschen im Zuge der Aussiedlung zugefügte Leid und die generelle Verweigerung von Mitleid mit den deutschen Vertriebenen ließ bei vielen Polen ein Gefühl moralischen Unbehagens aufkommen.
Ein weiteres Motiv für die Beschäftigung mit der Problematik war ein zunehmendes Interesse für die historischen Traditionen der ehemaligen deutschen Ostgebiete. Die kommunistische Diktion, dass Polen nach dem Zweiten Weltkrieg in "uralte polnische Gebiete" zurückgekehrt sei, wurde nach 1989 wie viele andere Propagandafloskeln brüchig. Die polnischen Bewohner in den Westgebieten konnten, wenn sie sich mit offenen Augen umsahen, überall Spuren der alten Bewohner jener Territorien feststellen. Mit der Wahrnehmung dieser Spuren verband sich bei vielen die Frage nach dem Nachkriegsschicksal dieser Menschen. Diesem Informationsbedürfnis kam auch die Geschichtswissenschaft nach, die seit dem Beginn der neunziger Jahre verstärkt begann, die Vertreibung der Deutschen aus den einzelnen Regionen des neuen Polen zu untersuchen. Nicht unwesentlich für dieses Interesse war die Tatsache, dass es auch für die aus den Ostgebieten der polnischen Vorkriegsrepublik vertriebenen Polen erst nach 1989 möglich wurde, öffentlich über ihr Schicksal zu sprechen und anders als nur im Privaten ihrer alten Heimat zu gedenken. Zahlreiche Historiker gingen nun daran, den "Komplex der Vertreibung", über den in kommunistischer Zeit gar nicht oder in vorgestanzten Sprachformen geredet werden durfte, aufzuarbeiten und eine Geschichte der vielfältigen Zwangsmigrationen in, nach und aus Polen nach dem Zweiten Weltkrieg zu schreiben.
3.
Man wird zu Recht sagen können, dass gerade in den ersten Jahren nach dem Systemwechsel der Glaube an eine objektiv arbeitende Geschichtswissenschaft, die in akribischer Quellenarbeit die zur Zeit des kommunistischen Regimes im Geschichtsbild entstandenen "weißen Flecken" zu füllen sich bemühte, besonders groß war. Wenn das Leben in der Volksrepublik Polen ein "Leben in der Unwahrheit" gewesen war, wer war dann berufener als die in Polentraditionell in hohem gesellschaftlichen Ansehen stehenden Historiker, um die Wahrheit wiederherzustellen? Allerdings war das Thema der Vertreibung der Deutschen beileibe nicht das einzige, das es als weißen Fleck zu tilgen galt. Die sowjetischen Verbrechen gegen die Polen im und nach dem Zweiten Weltkrieg, die teilweise gewaltsame Etablierung des kommunistischen Machtapparats sowie die Repressionen vor allem in der stalinistischen Periode der Volksrepublik Polen gegen ihre innenpolitischen Gegner wurden schnell zu Themen, die in weit stärkerem Maße das öffentliche Interesse auf sich zogen, als die in diesen Zusammenhängen doch als relativ marginal empfundene Vertreibung der Deutschen.
Dennoch waren die Jahre von 1990 bis etwa 1998 ein ausgesprochen produktiver Zeitraum für die (wissenschaftliche) Aufarbeitung des "Komplexes Vertreibung". Dazu trug sicher nicht unwesentlich bei, dass mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch das vereinigte Deutschland Rahmenbedingungen geschaffen wurden, in denen eine angstfreie Beschäftigung mit dem Thema möglich wurde. Hierbei gilt zu bedenken, dass die Geschichtspolitik zu Zeiten der Volksrepublik Polen durchaus nicht ohne Wirkung auf die Bevölkerung geblieben war. Die stete Wiederholung der Rede von der Unausweichlichkeit der polnischen Westverschiebung sowie von der "Polnischkeit" der "wiedergewonnenen Gebiete" hatte mit dazu beigetragen, dass diese tatsächlich als unwiederbringlich polnisch angesehen wurden, so dass nun von einer sicheren Grundlage aus argumentiert werden konnte, was die Fähigkeit zu Mitleid mit den Deutschen steigerte. So zeigen etwa Umfragen aus der Mitte der neunziger Jahre, dass die Mehrzahl der Befragten die Vertreibung als ein Resultat der Westverschiebung des polnischen Staates und nicht als notwendig gewordene Bestrafung der Deutschen betrachtete.
Um die Gereiztheiten der Debatte über das "Zentrum gegen Vertreibungen" zu verstehen, gilt es sich unter anderem zu vergegenwärtigen, dass bis Ende der neunziger Jahre sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in der geschichtswissenschaftlichen Arbeit das Thema Vertreibung der Deutschen einen wichtigen Platz einnahm, so dass tatsächlich viele Vorwürfe von deutscher Seite, die Polen hätten sich noch immer nicht diesem Thema gestellt, ins Leere gehen. Ganz im Gegenteil – der Vorwurf kann leicht umgedreht werden, denn die Rezeption der lebhaften polnischen Debatte ging in Deutschland gegen Null, obwohl viele der Stellungnahmen auf Deutsch vorliegen. Darüber hinaus kann man konstatieren, dass die zahlreichen Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung fast ausschließlich von der deutschen Fachhistoriographie rezipiert wurden.
4.
Zwar nicht als deutliche Zäsur zu benennen, doch in ihren Konsequenzen deutlich spürbar war eine Entwicklung, die Ende der neunziger Jahre das deutsch-polnische Verhältnis und das Reden über die Vertreibung zu bestimmen begann. Hier ist die Etablierung einer spezifischen Art von Geschichtspolitik gemeint. Im Laufe der neunziger Jahre hatte ein Wandlungsprozess eingesetzt, der zu einer Neupositionierung der Geschichtswissenschaft, vor allem aber der Geschichte selbst im polnischen politischen Diskurs führte. Während in den ersten Jahren nach der Systemwende die Geschichtswissenschaft vor allem im Dienst der faktographischen und vorgeblich objektiven Erweiterung des Wissen über bislang tabuisierte Themen gesehen wurde, wandelte sich dieses Bild mit der Zeit. In den innenpolitischen Auseinandersetzungen wurde allen beteiligten Kräften zunehmend klar, dass Geschichte oder besser die Deutungsmacht über sie eine beträchtliche Machtressource darstellte. Besonders deutlich wurde dies anhand der Diskussionen über den Charakter der Volksrepublik Polen. Die Bewertung der vierzig Jahre Kommunismus bedeutete auch eine Bewertung der Legitimität postkommunistischer Regierungen bzw. oppositionellen Ethos in der Dritten Republik. Die Einrichtung des Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pamieci Narodowej, IPN) im Jahr 2000 zeigt, wie eng historiographische Aufarbeitung und aktive Geschichtspolitik miteinander verknüpft sind: das Institut ist sowohl als Forschungs- als auch als Strafverfolgungsinstitution tätig. Auch wenn die Klagen über den immer geringeren Stellenwert der Geschichte in einer pluralistischen Öffentlichkeit Legion sind, darf nicht übersehen werden, welche bedeutende Rolle historische Debatten für das Selbstverständnis der Dritten Republik spielten und spielen. Der Streit darum, ob die Volksrepublik Polen ein souveräner Staat war, die Diskussionen um das polnisch-jüdische Verhältnis, die sich an dem Buch von Jan Tomasz Gross über den Mord an den Juden in Jedwabne 1941 entzündeten, oder die Betrachtung des polnisch-ukrainischen Verhältnisses, vor dem Hintergrund des 60. Jahrestages der Massaker, die ukrainische Unabhängigkeitskämpfer im Sommer 1943 an der polnischen Bevölkerung Wolhyniens verübt
hatten, sind integraler Bestandteil der politischen Kultur des Landes. Es verwundert daher auch nicht, dass die Bewertung der Vertreibung der Deutschen und die damit zusammenhängenden juristischen, politischen und moralischen Fragen in einem komplexeren Kontext als dem der reinen faktographischen Aufarbeitung gesehen werden. Die Geschichte, die in Polen lange Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte (wenn man die Zeit der staatlichen Nichtexistenz seit dem späten 18. Jahrhundert mitbedenkt) zur "Erhebung der Herzen" gedient hatte, war damit zu einem handfesten Argument in tagespolitischen Auseinandersetzungen geworden – sei es mit dem parteipolitischen Gegner, mit gesellschaftlichen Interessengruppen oder auf dem Feld der zwischenstaatlichen Beziehungen.
Vor diesem Hintergrund erhält auch die Beschäftigung mit dem Thema Vertreibung eine neue Brisanz. Waren die ersten Jahre nach 1989 eine Hochzeit der rasch so bezeichneten „deutsch-polnischen Interessengemeinschaft“, so brachte die jüngste Vergangenheit zahlreiche Anlässe für handfeste Interessenkonflikte zwischen den beiden Ländern. Diese eigentlich normale Erscheinung bei gleichberechtigten Partnern im internationalen System bzw. künftig in der EU ist im deutsch-polnischen Fall mit historischen Hypotheken belastet, die trotz der Annäherung der letzten Jahre ihre Wirkungskraft behalten haben. Allerdings sind auch die politischen Akteure nicht immer verantwortungsbewusst mit diesen Hypotheken umgegangen. Symptomatisch dafür waren etwa die Bundestagswahlkämpfe der Jahre 1998 und 2002, in deren Verlauf es jeweils zu einer deutlichen Verschlechterung der Beziehungen kam. Auf populistische Wahlkampfmanöver in Deutschland, wie etwa das Aufstellen eines Junktims zwischen dem polnischen EU-Beitritt und der Entschädigung für deutsche Vertriebene im Jahr 1998 oder die Forderung von Kanzlerkandidat Edmund Stoiber nach der Abschaffung der von ihm so bezeichneten "Bierut"-Dekrete (tatsächlich gibt es solche zentralen Dekrete in Polen bereits seit vielen Jahren nicht mehr) im Sommer 2002 reagierte die politische Klasse wie auch die polnische Öffentlichkeit äußerst gereizt. Als eine Folge dieser Zusammenstöße ist eine Neudefinition des Umgangs mit der eigenen Geschichte und vor allem umstrittenen Themen zu beobachten. In letzter Zeit mehrten sich Stimmen, die forderten, dass eine „Versöhnung“ mit Gruppen – seien sie ethnischer oder konfessioneller Prägung –, zu denen die Polen in der Vergangenheit ein konflikthaftes Verhältnis hatten, erst nach einer Konsolidierung des polnischen "nationalen Selbstbildes" wünschenswert sei und dass "nationale Interessen" in Fragen der historischen Aufarbeitung immer mitbedacht werden müssten. Allerdings offenbart sich an diesem Punkt ein bemerkenswerter innerpolnischer Konflikt, der sich vor allem zwischen der älteren und der jüngeren Generation abzuspielen scheint. Während besonders ältere Menschen die historischen Belastungen des deutsch-polnischen Verhältnisses aus der Betrachtung der Gegenwart nicht ausblenden können oder wollen, argumentieren viele Jüngere gegen die immer wiederkehrenden Aufrechnungen, die eine nationalgeschichtliche Perspektive in ihren Augen überstrapazierten und einer zukunftsorientierten Politik im Wege stünden.
5.
In diesen Debattenkontext traf nun der Vorschlag von Erika Steinbach und der von ihr ins Leben gerufenen Stiftung, in Berlin ein "Zentrum gegen Vertreibungen" zu errichten. Dabei ist bemerkenswert, dass die Initiative zunächst in Polen kein Echo hervorrief. Die im Jahr 2000 gegründete Stiftung war den polnischen Feuilletons lange Zeit keinen Artikel wert. Dass in der Bundesrepublik der Vorschlag für das Zentrum kein isolierter Einfall der Vertriebenenverbände war, mit dem sie das Thema Vertreibung einer Musealisierung zuführen wollten, da das Verschwinden der Erlebnisgeneration absehbar ist, machte das rege Interesse deutlich, auf das die Bücher wie Günter Grass' "Im Krebsgang" oder Jörg Friedrichs "Der Brand" stießen, in denen die Perspektive auf die Deutschen als Opfer im Zweiten Weltkrieg gelenkt wurde. Interessanterweise wurde Grass' Buch in Polen zunächst sehr wohlwollend aufgenommen. Der Tenor über das neueste Werk des in Polen sich großer Beliebtheit erfreuenden Nobelpreisträgers war durch freundliches Verständnis gekennzeichnet, dass man sich nun in Deutschland auch dem Schicksal der Vertriebenen zuwende. Im Gegensatz dazu stieß der Vorschlag des SPD-Bundestagsabgeordneten Markus Meckel, ein "Zentrum gegen Vertreibungen" statt in Berlin in Breslau in Kooperation mit polnischen Partnern zu errichten, auf ein eher kühles Echo. Zwar schlossen sich polnische Intellektuelle wie Adam Krzemiski und Adam Michnik diesem Vorschlag an, doch aus Breslau selbst kamen zurückhaltende Reaktionen. Man argumentierte, dass es der heutigen Breslauer Bevölkerung, die selbst zu einem großen Teil Opfer von Vertreibung aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten war, schwer zuzumuten sei, in einer Institution gleichzeitig und gleichberechtigt der Vertreibung der Polen und der Deutschen, die den Krieg und all seine Folgen zu verantworten hätten, zu gedenken. Während Krzeminski und Michnik ihren Vorschlag als einen Schritt auf dem Weg zu einem "europäischen Gedächtnis" sahen, erneuerte Edmund Stoiber im Juni 2002 die Forderung nach einer "nationalen Erinnerungsstätte" in Berlin. Der Beschluss des Bundestages im Juli 2002, ein "Zentrum gegen Vertreibungen" zu errichten – allerdings ohne eine Festlegung auf den Ort – rief in Polen unterschiedliche Reaktionen hervor.
Während von einigen polnischen Historikern und Intellektuellen die Variante eines europäisch ausgerichteten Zentrums favorisiert wurde, das den engen Rahmen der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte verlassen und dem Phänomen „ethnischer Säuberungen“ im Europa des 20. Jahrhunderts in umfassender vergleichender Perspektive Aufmerksamkeit schenken sollte, ließen sich seit dem Sommer 2002 in Polen zunehmend Stimmen vernehmen, die sich generell gegen ein solches Zentrum – wie auch immer konzipiert – aussprachen. Diese Kritiker sahen in den Bemühungen, das Zentrum zu errichten, den Versuch, zu einer generellen Umwertung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs bzw. der gesamten konflikthaften deutsch-polnischen Beziehungen der letzten zweihundert Jahre zu gelangen. Die rein nationalzentrierte Perspektive auf die deutschen Vertreibungsopfer, die dem Projekt Steinbachscher Prägung innewohnt, ließ bei vielen Polen die Alarmglocken schrillen. Man fühlte sich als Zeuge eines generellen Umbaus von der deutschen Täter- zur Opfergesellschaft. Doch auch die weniger stark auf die deutschen Vertreibungsopfer ausgerichtete Variante rief bei etlichen Beobachtern Unbehagen hervor. Zu mächtig ist der Erinnerungsort „Zweiter Weltkrieg“ und das mit ihm assoziierte polnische Leiden, als dass eine Dokumentations- und Forschungsstätte, in der die Deutschen vorrangig als Opfer
dargestellt werden würden, akzeptabel wäre.
Auch bei den gesellschaftlichen Eliten stößt ein solcher Paradigmenwechsel auf Widerstand. Die Aufrichtigkeit ihrer Auseinandersetzung mit der Vertreibung der Deutschen in den letzten Jahren sehen sie nun durch die platte Opferrhetorik der deutschen Vertriebenenverbände, aber auch generell durch den Opferdiskurs in der deutschen Gesellschaft in Frage gestellt. Erstaunliche Ergebnisse haben Meinungsumfragen in jüngster Zeit gezeitigt. Eine Mehrheit der Polen gesteht darin den Deutschen nämlich durchaus zu, auch Opfer im Zweiten Weltkrieg gewesen zu sein. Hier wird ein deutlicher Unterschied in der Wahrnehmung der Erfahrung von Krieg und autoritären Systemen bei den Eliten und der breiten Bevölkerung sichtbar. Während viele Historiker darauf beharren, das jeweilige totalitäre System, die Handlungsmöglichkeiten seiner Akteure und den jeweiligen historischen Kontext in die Analyse auch unter moralischen Gesichtspunkten einzubeziehen, scheint sich bei dem durchschnittlichen Beobachter eine neue Perspektive einzustellen. Da Polen im 20. Jahrhundert sowohl zum Schauplatz faschistischer als auch kommunistischer Verbrechen geworden ist, entsteht ein recht monolithischer Blick auf „den“ Totalitarismus, der ein scheinbar überzeitliches Übel ist und dem eine amorphe Masse von Opfern gegenübergestellt wird. Eine historisch kontextualisierende Zwischenebene zwischen totalitärem System und dem Individuum in der Rolle des Opfers (aber auch in der Rolle des Täters mit durchaus unterschiedlichen Handlungsoptionen und -möglichkeiten) fehlt. Es verwundert daher nicht, dass gerade Historiker die jüngsten Entwicklungen mit Unbehagen betrachten. Weder der Wandel in der deutschen Erinnerungskultur noch die holzschnittartige Betrachtung der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts entspricht dem Forschungsstand, der in den vergangenen Jahren in der regen zeithistorischen Forschung erreicht wurde. Doch scheint hier eine gewisse Art von Zeitgeist wirkungsmächtiger zu sein als eine Handvoll Historiker, die ihre Forschungsergebnisse nicht immer erfolgreich der Öffentlichkeit kommunizieren kann.
Die Empathie mit deutschen Opfern des Zweiten Weltkriegs, die in den Umfrageergebnissen zum Ausdruck kommt, ist allerdings im Sommer und Frühherbst des Jahres 2003 rasch einer anderen Haltung gewichen. Mehrere Faktoren trugen dazu bei, dass zu dieser Zeit die Auseinandersetzung über das geplante „Zentrum“ eskalierte. Zum einen bewirkte das unveränderliche Beharren der von Frau Steinbach und ihren Anhängern auf einer das Leiden der deutschen Vertriebenen in den Mittelpunkt stellenden Variante des „Zentrums“ in Berlin, dass an den ehrlichen, um Verständigung bemühten Intentionen dieser Initiative Zweifel aufkamen. Man konnte sich in Polen (und in der Tschechischen Republik) des Gefühls nicht erwehren, dass hinter dem Projekt der Musealisierung der Vertriebenenschicksale zumindest bei einem Teil ihrer Anhänger auch handfeste materielle Interessen standen. Warum – so fragte die polnische Öffentlichkeit – hat Frau Steinbach als „Vertreiberstaaten“ nur die künftigen EU-Mitglieder Polen und Tschechien im Visier, wohingegen sie die Rolle der ehemaligen Sowjetunion (aber auch der westlichen Alliierten) gänzlich ausblendet? In der Tat wird der EU-Beitritt Polens, die Übernahme europäischer Rechtsnormen und die Klagemöglichkeit vor europäischen Gerichten bei Teilen der Vertriebenen (Stichwort „Preußische Treuhand“) als Möglichkeit gesehen, materielle Entschädigungen nun auf gerichtlichem Wege zu erstreiten. Solche Verlautbarungen, die im Moment noch im Bereich der bloßen Rhetorik verbleiben, jedoch nach dem EU-Beitritt noch nicht abschätzbare Folgen haben können, rufen eine nicht geringe Verunsicherung in Polen hervor. Vor allem die unklare innerpolnische Rechtslage – sehr häufig sind die polnischen Bewohner ehemals deutscher Häuser nicht in den Grundbuchakten als rechtmäßige Besitzer eingetragen bzw. wurden die Erbpachtverhältnisse noch nicht in Eigentum umgewandelt – trägt hier zu Entstehung von Ängsten bei, die von populistischer Seite leicht in ein allgemeines antideutsches Ressentiment überführt werden können und einen sachlichen Dialog erschweren. Reißerische Berichte über einen angeblich erneuten „deutschen Drang nach Osten“ in auflagenstarken Zeitschriften sind dafür nur ein Beispiel.
Neben der Furcht vor materiellen Ansprüchen ruft auch eine paternalistische Diktion im aktuellen deutschen Diskurs in Polen eine Abwehrhaltung hervor. Hier ist nicht so sehr an den ungerechtfertigten (und vor allem aus Unwissenheit resultierenden) Vorwurf von Seiten der BdV-Funktionäre zu denken, die Polen hätten sich immer noch nicht diesem Aspekt ihrer Geschichte gestellt. Es geht vielmehr um eine zunächst innerdeutsche Diskussion, die auf Polen ausstrahlt. Gemeint ist hier die Selbstverständigungsdebatte im Kreise der Angehörigen der 68er-Generation, die seit einigen Jahren ihr verfehltes Verhalten in Bezug auf die Erinnerung an die Leiden der deutschen Vertriebenen feststellen. In Polen fürchtet man nun, dass hier erneut ein Musterbeispiel „deutscher Vergangenheitsbewältigung“ statuiert werden soll, diesmal jedoch eventuell auf ihre Kosten. Diese Ängste resultieren nicht zuletzt aus der Beobachtung, dass im Zuge einer ersten Welle von „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland vor allem an die Opfer des Holocaust erinnert wurde. Wenn nun die deutschen Opfer der Vertreibungen in den Blick genommen werden, so befürchtet man in Polen, dass der Zweite Weltkrieg in Zukunft mit jüdischen und deutschen Opfern konnotiert wird und die Polen lediglich als Täter erinnert werden: die Debatte um den Mord an den polnischen Juden in Jedwabne und der Streit um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ scheinen dieser Auffassung in ihren Augen Vorschub zu leisten.
Diese Reaktion auf deutsche Debatten und Befindlichkeiten ist charakteristisch für die Auseinandersetzungen über das „Zentrum gegen Vertreibungen“ in den Jahren 2002 und 2003. War die erste große Vertreibungsdebatte in Polen zu Beginn bis etwa Mitte der neunziger Jahre eine fast rein innerpolnische, die so gut wie überhaupt nicht in Deutschland wahrgenommen wurde, so sind die Wortmeldungen der vergangenen beiden Jahre in erster Linie Reaktionen auf deutsche Selbstverständigungsdebatten. Dialogisch waren beide nur zu einem sehr geringen Maße.
Zitierempfehlung:
Claudia Kraft, Die aktuelle Diskussion über Flucht und Vertreibung in der polnischen Historiographie und Öffentlichkeit, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung, Januar 2004, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/md=Vertreibung-Kraft