„The bomb that dropped on Hiroshima was doubtless heard by human ears for hundreds of miles around, but morally it was heard around the world.“
Bereits am 7. August 1945, einen Tag nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima, betonte die New York Times die ungeheure Wirkung des Ereignisses: Der Abwurf der ersten Atombombe sei ein globaler Moment mit erdumspannender Reichweite.[1]
Wie aber wurde die Zerstörung zweier japanischer Städte durch Atomwaffen andernorts wahrgenommen? Können die Atombombenabwürfe schon für den Sommer 1945 als „Weltereignis“ gelten – genauer gesagt, manifestierte sich hier eine globale Weltöffentlichkeit, die dem Ereignis eine historisch-politisch-moralische Bedeutung zuschrieb?[2] Kann man von einem ‚global moment‘ ausgehen, der die Erwartungsräume ganz unterschiedlicher Menschen plötzlich, radikal und in ähnlicher Weise verschob?[3]
Diesen Fragen wird im Folgenden aus zwei verschiedenen Perspektiven nachgegangen: Der Blick auf die globale Berichterstattung unmittelbar nach den Abwürfen offenbart ein Medienthema ersten Ranges, das an vielen Orten der Welt von der Presse wahrgenommen und kommentiert, jedoch vollkommen unterschiedlich gedeutet und gewichtet wurde. Charakteristika eines globalen Moments zeigen sich dagegen in den Expertendiskursen von NaturwissenschaftlerInnen, Intellektuellen und TheoretikerInnen der internationalen Politik. In diesen Diskursen wurde das Ereignis symbolisch aufgeladen und mit Verweis auf eine drohende Apokalypse als Begründung des globalen Verantwortungsimperativs besonders für die Notwendigkeit internationaler Kooperation angeführt.
Hauptquellen für die vorliegende Untersuchung der Medienberichterstattung in der Zeit zwischen dem Abwurf der ersten Atombombe am 6. August 1945 und der Bekanntgabe der japanischen Kapitulation neun Tage später sind die Tageszeitungen New York Times, Neue Zeit und Berliner Zeitung – beide im sowjetischen Sektor Berlins erschienen – sowie die Times of India. Zudem werden gelegentlich die sowjetische Prawda und die chinesische Shenbao herangezogen. Diese Auswahl repräsentiert zum einen die sich in jenen Jahren vollziehende Blockbildung, zum anderen deckt sie demokratische, besatzungsherrschaftliche, spätkoloniale, diktatorisch beherrschte und durch fortdauernden Krieg geprägte Gesellschaften ab. Die Beiträge werden mit Blick auf eine räumliche und eine zeitliche Dimension untersucht, wobei einige Fragen zentral sind: Maß man dem ersten Einsatz der Atombombe eine globale Bedeutung bei? Welche Erfahrungen dienten als Maßstab für die Interpretation des Geschehens, und welche Zukunftserwartungen verknüpften sich mit dem Einsatz der Atombombe?
Reaktionen auf den Abwurf I - Eine kurze internationale Presseschau
In der bereits zitierten New York Times vom 7. August 1945 findet sich ein breites Spektrum an Interpretationen. Während manche Stimmen die Atombombe als „magic key to victory“ und als Symbol für die Überlegenheit der Alliierten bezeichneten, forderte ein Autor die Revolution des politischen Denkens: Im Angesicht der möglich gewordenen nuklearen Vernichtung der Menschheit gelte es, alle potentiellen Ursachen eines weiteren Krieges auszuräumen. Den Weg dorthin sah der Verfasser getreu der Theorie des demokratischen Friedens in der globalen Verbreitung von Demokratie und der Beseitigung von Handelshemmnissen.[4]
Die Einschätzung beider Atombombenabwürfe als globales Ereignis kam auch darin zum Ausdruck, dass in der New York Times die Berichterstattung der internationalen Presse selbst zum Thema wurde. Neben propagandistischen Meldungen von Radio Tokio und des japanisch kontrollierten Radio Singapur anlässlich der nuklearen Bombardierung Nagasakis am 9. August[5] stand hier die britische Presse im Vordergrund. Auffällig ist, dass insbesondere solche Stimmen aus Großbritannien rezipiert wurden, die Kritik am Einsatz der Atombombe übten.[6] Prominent platziert wurde jedoch eine andere kritische Stimme: Wie die New York Times am 8. August berichtete, hatte der Osservatore Romano, die amtliche Tageszeitung des Vatikan, am Tag zuvor den Einsatz der Bombe scharf verurteilt. Begründet wurde diese Kritik weniger mit den verheerenden Auswirkungen für die betroffene japanische Zivilbevölkerung als mit befürchteten künftigen Einsätzen: Die Idee eines zivilisatorischen Fortschritts sei abzulehnen – die Geschichte lehre vielmehr, dass der Mensch nichts aus der Geschichte lerne und daher nicht gut beraten sei, seine destruktiven Fähigkeiten durch immer neue technische Innovationen unbegrenzt zu erweitern.[7]
Diese Einschätzung kontrastiert mit der Tendenz der New York Times, trotz aller Befürchtungen angesichts möglicher künftiger Nuklearkriege an einer positiven Fortschrittsidee festzuhalten. Die Atombombe wurde hier als so radikale Neuerung begriffen, dass andere mentale und reale Umwälzungen wie „the revolution of Marx and Lenin, the speed-up of the Power Age“[8] oder – im Kontext der Geschichte der Kriegführung – die Erfindung des Schießpulvers[9] dahinter verblassten. Allenfalls die prähistorische Zähmung des Feuers durch den Menschen könne, wie der Pariser Korrespondent Harold Callender den französischen Physiker Louis de Broglie zitierte, einem Vergleich standhalten.[10]
Aus diesem Mangel an fassbaren äquivalenten Erfahrungen resultierte eine ebenso radikale Offenheit der Zukunftserwartungen. Diese bewegten sich zwischen utopischen und dystopischen Extremen: zwischen der Hoffnung auf einen ungeahnten Gewinn an Wohlstand und technischen Möglichkeiten auf Grundlage der zivilen Nutzung von Atomenergie, die Kohle und Öl als Energieträger überflüssig machen könne, und der Furcht vor einem zivilisationsvernichtenden Atomkrieg. „We face the prospect either of destruction on a scale which dwarfs anything thus far reported and which awakens justified fears of what may happen in another war or of a golden era of social change which would satisfy the most romantic utopian“, fasste dies ein anonymer Kommentator zusammen.[11] Noch pointierter formulierte es der Redakteur Hanson W. Baldwin: „Atomic energy may well lead to a bright new world in which man shares a common brotherhood, or we shall become – beneath the bombs and rockets – a world of troglodytes.“[12]
Erhebliche Ähnlichkeiten mit dem Diskurs der New York Times weist die Rezeption des Ereignisses in Indien auf. Die globale Bedeutung des Atombombenabwurfs vom 6. August 1945 wurde in der Berichterstattung der Times of India tendenziell sogar noch stärker betont: „As Japan awaits the next blow from the atomic bomb, the whole world is discussing the startling possibilities of this new scientific discovery“, schrieb sie am 9. August und bot eine Zusammenfassung britischer, US-amerikanischer, australischer und chilenischer Reaktionen; auch eine bemerkenswerte Zurückhaltung der sowjetischen Presse fand Erwähnung.[13] Bereits am Tag zuvor hatte die in der New York Times wiedergegebene Kritik des Vatikan an Entwicklung und Einsatz der Atombombe Berücksichtigung gefunden.[14]
Die moralische Kritik der römisch-katholischen Kirche samt ihrer Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt wurde von der Times of India gleichwohl noch weniger geteilt als von ihrem US-amerikanischen Pendant: Es sei unlogisch, auf humanitärer Grundlage gegen den Einsatz der Atombombe einzutreten, nur weil diese im Vergleich zu bislang bekannten Bomben ein um ein Vielfaches größeres Zerstörungspotential besitze; wenn überhaupt, müsse die Bombardierung von Städten generell infrage gestellt werden.[15] Dystopische Zukunftserwartungen traten hier völlig hinter den Hoffnungen zurück, die sich mit der künftigen zivilen Nutzung von Atomenergie verbanden. Diese wiederum trugen nicht selten utopische Züge, etwa wenn sich der Physiker R. Naidu versprach, „that all the great problems of post-war reconstruction can be quickly and thoroughly solved and a new world of freedom and unheard of plenty can be ushered in, that would really be worthy of this great age of science“[16].
Solche übertriebenen Zukunftserwartungen bei gleichzeitiger Ausblendung der Risiken von Atomenergie konstatiert auch der Historiker Hans-Joachim Bieber am Beispiel der Illustrated Weekly of India. Bieber erklärt dies damit, dass sich die indische Unabhängigkeitsbewegung für die Zeit nach Erreichen der Unabhängigkeit viel von einem eigenen indischen Nuklearprogramm versprochen habe.[17] Diese Erklärung bestätigt auch eine Meldung der Times of India, die C. Rajagopalachari, einen Hauptvertreter der Unabhängigkeitsbewegung, mit der Ansicht zitiert, die Menschheit werde die Atombombe ebenso überleben wie die Dampfmaschine oder das Schießpulver. Eine derart tödliche Waffe sei für Indien, so Rajagopalachari, aber auch deswegen nichts Neues, weil es mit „Narayanasthra“ und „Pasupathasthra“ – beides mythische Waffen hinduistischer Götter – bereits Vergleichbares kenne.[18] Angesichts solcher kultureller Differenzen wäre es eine erwägenswerte globalhistorische Frage, ob dystopische Visionen nicht selbst eine spezifisch westliche, in christlicher Eschatologie wurzelnde Reaktion auf die Atombombe darstellten. Für das Denken des Philosophen Günther Anders hat der Literaturwissenschaftler Thomas Pekar eine solche Sichtweise bereits nahegelegt.[19]
In der Sowjetunion und dem fortwährend kriegsgeplagten China wiederum stießen die beiden Abwürfe US-amerikanischer Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki auf wenig mediale bzw. intellektuelle Resonanz. Mit der sowjetischen Prawda und der Shanghaier Shenbao berichteten die jeweils auflagenstärksten überregionalen Tageszeitungen der Sowjetunion beziehungsweise Chinas erst am 8. August 1945 von den Ereignissen in Hiroshima. Lediglich auf Seite vier veröffentlichte das Zentralorgan der KPdSU eine kurze Mitteilung zur „Erklärung Trumans über die neue Atombombe“, zitierte weitestgehend aus dieser und beschrieb in sachlicher Nüchternheit die technische Neuerung der Bombe – ohne dabei auf die Zerstörungswucht vor Ort oder aber die Relevanz des Ereignisses für die Sowjetunion einzugehen.[20] Die chinesische Shenbao titelte in einem kleinen Randartikel gar „Formation of B29 planes attacks Hiroshima“, ohne die zerstörerische Neuartigkeit der Atombombe zu „würdigen“. Die chinesische Gesellschaft sollte erst in den späten 1940er Jahren durch die kommunistisch angeleitete Friedensbewegung von der humanitären Katastrophe in den beiden japanischen Großstädten erfahren. Denn im August 1945 genoss der Einmarsch sowjetischer Truppen in die Mandschurei infolge des Eintritts der Sowjetunion auf dem asiatischen Kriegsschauplatz die weitaus größere Medienpräsenz.[21]
In den hier untersuchten Zeitungen des sowjetischen Sektors Berlins fiel die Kommentierung ebenfalls sehr zurückhaltend aus. Zwar war auch der Berliner Zeitung, deren Redaktion zu dieser Zeit noch direkt der sowjetischen Militärverwaltung unterstand, der Atombombenabwurf auf Hiroshima die Schlagzeile wert, es handle sich um einen „Neue[n] Ausblick wissenschaftlicher Forschung“[22], eine globale Bedeutung über den Krieg gegen Japan hinaus wurde ihm jedoch nicht attestiert. Schon vom 10. August an geriet das Thema Atombombe zudem in den Hintergrund, da der sowjetischen Kriegserklärung an Japan größere Aufmerksamkeit zuteilwurde. „Die Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan ist die zweite und noch größere Atombombe dieser Woche“, kommentierte der Redakteur Jürgen Fabian.[23] Ganz ähnliche Tendenzen finden sich in der von der CDU in der Sowjetischen Besatzungszone herausgegebenen Neuen Zeit: Hier wurde die Entwicklung der Atombombe einerseits mit der Erfindung des Explosionsmotors verglichen und dem „Zeitalter der unförmigen Maschinen und rauchenden Fabrikschlote“ ein Ende vorhergesagt.[24] Die militärische Bedeutung der Atombombe wurde aber dadurch relativiert, dass „den Ausschlag doch ohne Zweifel die Moskauer Kriegserklärung gegeben“ habe.[25]
Angesichts der uneinheitlichen Bedeutungszuschreibung erscheint es fraglich, ob die Atombombenabwürfe in ihrer unmittelbaren Rezeption als „Weltereignis“ gelten können. Man könnte sie jedoch als globales Medienereignis bezeichnen, da die hier untersuchten Fälle nahelegen, dass Massenmedien in sehr unterschiedlichen Weltregionen Kommunikationsprozesse über das Geschehen an sich, die wissenschaftlichen Grundlagen der Bombenentwicklung und mögliche künftige Anwendungen der Atomenergie in Gang setzten sowie ferner über die Globalität dieses Vorgangs reflektierten. Beides taten sie allerdings in unterschiedlichem Ausmaß; auffällig ist die relative Zurückhaltung der Zeitungen im sowjetischen Einflussbereich und in China. Dies zeugt vom sowjetischen Interesse daran, der Atombombe im monopolistischen Besitz der Vereinigten Staaten öffentlich keine allzu große Bedeutung beizumessen, und verweist auf den Beginn der Blockbildung.[26]
Hinsichtlich der Einbettung des Geschehens von Hiroshima und Nagasaki in sinnstiftende Narrative lässt sich gleichwohl als Gemeinsamkeit konstatieren, dass die hier untersuchten Medien die Atombombe (noch) nicht zum Anlass nahmen, dem technischen Fortschritt seine moralische Qualität abzusprechen. Im Gegenteil: Besonders im US-amerikanischen und indischen Fall wurden große, ja utopische Erwartungen in künftige zivile Anwendungen der Atomenergie gesetzt. In den Kommentaren der New York Times konkurrierten diese allerdings mit dystopischen Visionen eines zivilisationsvernichtenden Atomkrieges, wobei letztlich die Hoffnung überwog, dass ein solches Katastrophenszenario durch vorausschauende Politik seitens der Vereinigten Staaten vermieden werden könne. Im indischen Fall fehlten vergleichbare Dystopien. Die Gefahren der Atomkraft wurden hier weitgehend ausgeblendet. Globalisierenden Effekten (sei es auch im Sinne einer „geteilten Globalisierung“) zum Trotz, war die mediale Deutung der Atombombenabwürfe maßgeblich von kulturellen Differenzen bestimmt.
Reaktionen auf den Abwurf II - Expertendiskurse über Atomwaffen und Globalität
Was die Atombombenabwürfe als „global moment“ qualifiziert, war jedoch weniger ihre auf den ersten Blick gleichförmige globale Rezeption als vielmehr ihr Potential, ein neuartiges Denken in globalen Bezügen und eine global verstandene Moralität anzustoßen. Dies zeigt sich an den Reaktionen von NaturwissenschaftlerInnen, Intellektuellen und TheoretikerInnen der internationalen Politik, welche hier an zwei Beispielen schlaglichtartig erörtert werden.
Obwohl die Atombombenabwürfe für die am Manhattan Project beteiligten internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler[27] ein erwartetes und kalkuliertes Ereignis darstellten, hatte es dennoch Zäsurcharakter. Mit dem Ende der strikten Geheimhaltung und dem steigenden Interesse von Politik und Gesellschaft an der neuen atomaren Technik und ihrer Entwicklung änderte sich der Handlungsspielraum der ForscherInnen schlagartig. Schon vor „Hiroshima“ hatten sich viele in geheimen Petitionen an die US-Regierung gewandt und sich – erfolglos – gegen einen Einsatz der Bombe im Krieg ausgesprochen.[28] Als deutlich wurde, dass die Deutschen ihr Uranprogramm aufgegeben hatten und ein Sieg der Alliierten in Europa absehbar schien, begannen zahlreiche WissenschaftlerInnen des Manhattan Projects moralische Bedenken an einem möglichen Einsatz und der US-amerikanischen Geheimhaltungspolitik zu artikulieren. Sie fürchteten zunehmend die politisch-militärische Vereinnahmung ihrer Forschung und deren Eigendynamik.[29] Nach den Atombombenabwürfen und der Veröffentlichung des Official Report on the Development of the Atomic Bomb Under the Auspices of the United States Government, 1940–1945, des sogenannten Smyth Report,[30] wurden die zuvor unter strengster Geheimhaltung arbeitenden AtomwissenschaftlerInnen Teilnehmer eines öffentlichen Diskurses und konnten sich als ExpertInnen in den vermehrt aufkommenden wissenschaftlichen Beratungsgremien der Politik Gehör verschaffen.[31]
Die Rhetorik eines radikalen Umbruchs, der die WissenschaftlerInnen sich dabei bedienten, war nicht neu. Technische Innovationen waren stets als revolutionäre Umbrüche und zum Teil auch als Gefahr für die Menschheit dargestellt und wahrgenommen worden.[32] Auch das politische Engagement von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen jenseits der Forschung war an und für sich kein Novum. Zudem hatte die Atombombenentwicklung selbst etwa zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten mit Appellen von WissenschaftlerInnen an die politischen Eliten begonnen, und schon damals hatten einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ein Bewusstsein für die moralische Dimension der Entwicklung und Nutzung von Atombomben gezeigt. Lise Meitner etwa beteiligte sich bewusst an keinem Atombombenprogramm. Rudolf Peierls und Otto Frisch betonten in einem Schreiben an die britische Regierung, dass die Entwicklung der „super-bomb“ als Abschreckungsmaßnahme nötig, ihr Einsatz für Großbritannien moralisch aber nicht denkbar sei.[33] Nichtsdestoweniger beförderten strukturelle Umstände wie das intellektuelle Beschäftigungsvakuum nach dem erfolgreichen Abschluss des Manhattan Project und der Einfluss der philosophisch orientierten deutschen Wissenschaftskultur die Intensivierung und Institutionalisierung des Engagements der Wissenschaftler des Manhattan Project.
Beispielhaft kann an dieser Stelle auch auf eine weitere Gruppe verwiesen werden, die sich im Jahr 1945 intensiv mit den Konsequenzen der Atombombenabwürfe befasste: die meist sozialwissenschaftlich ausgebildeten und an Universitäten forschenden VertreterInnen der US-amerikanischen Internationalen Beziehungen. Diese DenkerInnen waren, anders als die AtomwissenschaftlerInnen, nicht auf die Gründung neuer Kommunikationsformate angewiesen, sondern konnten sich in bereits etablierten Fachzeitschriften zu dem Thema äußern. Auch wenn sie sich betont wissenschaftlich-analytisch ausdrückten, waren ihre Schlussfolgerungen nicht grundsätzlich verschieden von jenen der nachfolgend als Intellektuelle und bzw. NaturwissenschaftlerInnen charakterisierten Gruppen: Auch in ihren Augen war das internationale Staatensystem durch den Atombombenabwurf in einer Weise radikal verändert worden, die weltweite Kooperation zur Verhinderung einer atomaren Katastrophe zum Gebot der Stunde machte.
Vielfacher Ausgangspunkt politisch-theoretischer Überlegungen war unmittelbar nach „Hiroshima“ die Annahme einer tiefgreifenden Veränderung der militärischen Spielregeln, welche für die USA – obgleich bisher die einzige Nuklearmacht – als existentiell bedrohlich eingeschätzt wurden: Bei dem zu erwartenden baldigen Verlust des nuklearen Monopols und einer Verbreitung der Waffen über die Welt würde die konventionelle militärische Überlegenheit großer Staaten neutralisiert, die eigene Zivilbevölkerung könne nicht vor der totalen Vernichtung geschützt werden – Krieg sei von nun an kein kalkulierbares Mittel der Politik mehr. Als Folge müsse man von einzelstaatlichem Egoismus und zwischenstaatlicher Konkurrenz abgehen – „the world must be regarded as a unit“.[34] Internationale Kontrolle durch die neu gegründeten Vereinten Nationen sei die einzige Lösung, wie der Schriftsteller Stanton Arthur Coblentz in dem renommierten Magazin World Affairs schrieb:
„The only safety will be in international control. […] Here, then, is work for the new United Nations Organization: […] the use of the atomic bomb [must] not only [be] regulated in future wars, but outlawed […] For with the atomic bomb we have reached the supreme crossroads of history, and must decide whether through insight and world cooperation we will take the path of survival, or whether through a wilful self-destructiveness the nations and the very race of man will sink into ruin and obliteration.”[35]
Auf einem im November 1945 in Philadelphia abgehaltenen Symposium on Atomic Energy and its Implications der American Philosophical Society und der National Academy of Sciences, auf dem neben Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaftlern auch aktive Politiker sowie hochrangige Atomphysiker vortrugen, wurde diese Haltung weitgehend geteilt.[36] Kontrovers diskutiert wurden hier und in den politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften freilich die Mechanismen der zu etablierenden internationalen Kooperation und Kontrolle: Manche plädierten dafür, jedem Staat nur den Besitz einiger weniger Waffen zur Verteidigung zu erlauben, andere für eine Beschränkung der Atomwaffen auf eine durch den UN-Sicherheitsrat kontrollierte internationale Bomberflotte, nicht wenige für ein „world government“.[37] Einigkeit bestand in der Forderung nach einer starken UNO als supranationaler Institution mit Mandat zur Überwachung der Atomwaffenarsenale. Charakteristisch für die hier rezipierten Einschätzungen ist, dass die spätere Logik der Atomstrategie im Kalten Krieg (auf die weiter unten noch eingegangen wird) bereits vorweggenommen wurde: die Notwendigkeit, auf einen atomaren Angriff mit massiver Vergeltung reagieren zu können, der Anreiz zur Herstellung von Zweitschlagkapazitäten, das Sicherheitsmotiv kleinerer Staaten, entweder selbst nuklear aufzurüsten oder den nuklearen ‚Schutzschirm‘ eines mächtigen Verbündeten zu nutzen, sowie die aus all dem resultierende Gefahr eines Rüstungswettlaufs. Zugleich bestand jedoch 1945/46 unter den TheoretikerInnen der Internationalen Beziehungen für eine kurze Zeit die Hoffnung, man könne diese Mechanismen durch internationale Kooperation und Kontrolle aushebeln.[38] Damit befanden sie sich in vielerlei Hinsicht auf einer Linie mit den sich politisch artikulierenden AtomwissenschaftlerInnen – was den Akteuren, bedenkt man die interdisziplinäre Besetzung des erwähnten Symposiums, zweifellos bewusst war.
Während sich die weitgesteckten Hoffnungen in die internationale Kooperation infolge des beginnenden Kalten Krieges nicht erfüllen sollten, kam es in der Folge doch zu einer Vielzahl inter-, trans- und multinationaler Kommunikations- und Institutionalisierungsprozesse, welche sich sowohl auf staatlicher als auch auf nichtstaatlicher Ebene abspielten. Die Rolle der ExpertInnen, welche hier angeschnitten wurde, war dabei von besonderer Bedeutung, da bereits existierende Netzwerke unter WissenschaftlerInnen politisiert wurden und gleichzeitig politische Diskurse um eine zentrale wissenschaftlich-technologische Komponente erweitert wurden. Dass diese Verschiebung bereits 1945 deutlich wurde, lässt sich auch auf den Atombombenabwurf als globalen Katalysator zurückführen.
Die Atombombenabwürfe im August 1945 als Global Moments – Erstes Fazit
Der globale Charakter der Atombombenabwürfe, so ließe sich argumentieren, lag 1945 weniger in einer global einheitlichen Bedeutung und Aufmerksamkeit als in der radikal globalen Bedeutung, die ihnen von bestimmten, zahlenmäßig und geographisch begrenzten, dafür aber potentiell einflussreichen ExpertInnengruppen zugeschrieben wurde. Es scheint nicht übertrieben, hier von einem „shock of the global“ ganz eigener Art zu sprechen.[39] Die Besonderheit liegt dabei vor allem in dem Symbolgehalt „Hiroshimas“, der den konkreten militärischen Effekt an Bedeutung von Anfang an weit übertraf.[40] Dies lässt sich nicht zuletzt an der Tendenz feststellen, den zweiten Abwurf auf Nagasaki, immerhin ein ähnliches militärisches Ereignis wie das Bombardement wenige Tage zuvor, regelmäßig zu vernachlässigen. Von Anfang an fungierte „Hiroshima“ als vereinfachendes codeword für den Eintritt in das „Atomzeitalter“, also eine durch neue Technologien, aber auch veränderte internationale Bedrohungslage maßgeblich bestimmte Epoche. Bereits existierende Wahrnehmungen und Interpretationen wurden somit auf eine medial einfach zu kommunizierende Weise in das militärisch-politische Ereignis „Hiroshima“ hineinprojiziert. Wenngleich der genaue Bedeutungsgehalt des Symbols „Hiroshima“ Gegenstand hitziger Debatten war und noch immer ist, so scheint die Aufladung eines Ereignisses mit symbolhafter Bedeutung hier ungewöhnlich schnell und intensiv vollzogen worden zu sein. Festzuhalten ist, dass sich die durch dieses Symbol begründete Globalisierung des Denkens über Politik, Moralität und Verantwortung in westlichen Netzwerken und vor dem Hintergrund westlicher Erfahrungen und Denkweisen vollzog, wobei insbesondere die AtomwissenschaftlerInnen große Anstrengungen zur Transnationalisierung ihres Anliegens unternahmen.
Dass Hiroshima zum Ausgangspunkt politischer und philosophischer Überlegungen werden sollte, resultierte nicht nur aus der schieren Zerstörung, sondern letztendlich aus der sofortigen symbolischen Aufladung des Ereignisses. „Ein neues Zeitalter ist eingeläutet“ berichtete so zum Beispiel die New York Times am 7. August 1945, kaum sechzehn Stunden nach dem Abwurf der ersten Atombombe. In einer „mit dem größten Ernst vorgetragenen Mitteilung an die Welt“ habe der amerikanische Präsident Harry S. Truman verkündet, dass „einer der wissenschaftlichen Meilensteine des Jahrhunderts erreicht“ worden sei. Das „atomic age“ sei angebrochen, welches „eine gewaltige Kraft für den Fortschritt der Zivilisation ebenso wie für ihre Zerstörung“ sein könne.[41] Damit lokalisierte Truman die Atombombe bereits in einem durch den Begriff der Zivilisation bezeichneten Fortschrittsnarrativ. Bei dem Begriff des Atomzeitalters ging es also nicht nur darum, eine „Signatur des gegenwärtigen Zeitalters“ zu finden, sondern auch um den Versuch, die bahnbrechenden naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen in das eigene universalistische Wertesystem einzufügen.[42] In den darauffolgenden Jahrzehnten verlegte sich der Kampf um die Meilensteine der Menschheitsgeschichte zwar vom Kern des Atoms in den Weltraum und schließlich auf den Mond, doch ging es dabei jedes Mal auch um die technologisch-militärisch untermauerte globale Deutungshoheit.
[1] The New York Times, 07.08.1945, S. 22.
[2] Das Konzept „Weltereignis“ wird vor allem durch den Soziologen Rudolf Stichweh vertreten, der zwischen geplanten Weltereignissen, natürlichen Weltereignissen, epidemischen Medienereignissen sowie eben „historisch-politisch-moralischen“ Weltereignissen, denen die Atombombenabwürfe ggf. zuzurechnen wären, unterscheidet. Stichweh, Rudolf: Zur Soziologie des Weltereignisses, in: Nacke, Stefan; Unkelbach, René; Werron, Tobias (Hg.): Weltereignisse. Theoretische und empirische Perspektiven, Wiesbaden 2008, S. 17-40.
[3] Vgl. Manela, Erez: The Wilsonian Moment: Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford; New York 2007.
[4] The New York Times, 07.08.1945.
[5] The New York Times, 09.08.1945, S. 1 und 6; The New York Times, 10.08.1945, S. 5.
[6] Vgl. Britons Revolted by Use of Atom-Bomb, in: The New York Times, 09.08.1945, S. 11; British Bishop Raps Use of Atomic Bomb, in: The New York Times, 14.08.1945, S. 9. Allgemein zur Berichterstattung in Großbritannien vgl. auch Atomic Bomb Tops All News in London, in: The New York Times, 07.08.1945, S. 3.
[7] The New York Times, 08.08.1945, S. 1.
[8] McCormick, Anne O’Hare: Abroad. The Promethean Role of the United States, in: The New York Times, 08.08.1945, S. 22.
[9] The New York Times, 07.08.1945, S. 22.
[10] Callender, Harold: Early Use of Atom as Fuel Predicted, in: The New York Times, 08.08.1945, S. 4.
[11] The New York Times, 07.08.1945, S. 22.
[12] Baldwin, Hanson W.: The Atomic Weapon, in: The New York Times, 07.08.1945, S. 10.
[13] The Times of India, 09.08.1945, S. 8.
[14] The Times of India, 08.08.1945, S. 1.
[15] The Times of India, 09.08.1945, S. 6; The Times of India, 14.08.1945, S. 4.
[16] The Times of India, 13.08.1945, S. 6.
[17] Bieber, Hans-Joachim: Promises of Indian Modernity. Representations of Nuclear Technology in the Illustrated Weekly of India, in: van Lente, Dick (Hg.): The Nuclear Age in Popular Media. A Transnational History, 1945–1965, New York/Basingstoke 2012, S. 203–232, hier S. 211.
[18] The Times of India, 14.08.1945, S. 3.
[19] Vgl. Pekar, Thomas: Nach Hiroshima. Effekte apokalyptischen Denkens bei Günther Anders, in: Gebhard, Walter (Hg.): Ostasienrezeption in der Nachkriegszeit. Kultur-Revolution – Vergangenheitsbewältigung – Neuer Aufbruch, München 2007, S. 209–220.
[20] „Zajavlenie Trumėna o novoj atomnoj bombe“, PRAVDA (9959), 08.09.1945. Vgl. auch: Hasegawa, Tsuyoshi: Racing the Enemy. Stalin, Truman, and the Surrender of Japan, Cambridge/London 2005, S. 186.
[21] Harrison, Henrietta: Popular Responses to the Atomic Bomb in China 1945-1955, in: Past and Present Supplement 8 (2013), S. 98-116, hier: S. 98-99.
[22] Berliner Zeitung, 08.08.1945, S. 1.
[23] Fabian, Jürgen: Die Pazifizierung des Pazifik, in: Berliner Zeitung, 10.08.1945, S. 1.
[24] Neue Zeit, 08.08.1945, S. 3.
[25] Neue Zeit, 11.08.1945, S. 1.
[26] Zu deren Auswirkungen auf die mediale Repräsentation des „Atomzeitalters“ vgl. auch Augustine, Dolores; van Lente, Dick: Conclusion. One World, Two Worlds, Many Worlds?, in: van Lente (Hg.): Nuclear Age (wie Anm. 17), S. 233-247, hier S. 243.
[27] Die in führenden wissenschaftlichen Positionen Beteiligten des Projekts waren überwiegend männlich, es gab jedoch vereinzelt Ausnahmen, wie die US-Physikerin Katharine Way. Außerdem wurden einige der zum Teil sehr gut ausgebildeten Ehefrauen der Wissenschaftler – mangels leistungsstarker Computer – für die vielen notwendigen Berechnungen herangezogen, vgl. Hoddeson et al.: Critical Assembly, S. 95f.; vgl. auch Howes und Herzenberg: Their Day in the Sun; Kiernan, Denise: The Girls of Atomic City. The Untold Story of the Women Who Helped Win World War II, New York 2013.
[28] Report of the Committee on Political and Social Problems, Manhattan Project “Metallurgical Laboratory”, University of Chicago (The Franck Report) (June 11, 1945); Szilárd, Leo: A Petition to the President of the United States (July 17, 1945), hg. von Atomic Archive.
[29]Einstein, Albert: Second Letter to President Roosevelt (1945), hg. von Atomic Archive.
[30] Smyth: Atomic Energy for Military Purposes. The Official Report on the Development of the Atomic Bomb Under the Auspices of the United States Government, 1940–1945, Stanford 1989.
[31] Vgl. Ash: Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche, S. 35.
[32] So der französische Physiker Pierre Curie in seiner Rede zur Verleihung des Nobel-Preises über die Entdeckung der Radioaktivität: Curie, Pierre: Radioactive Substances, Especially Radium. Nobel Lecture (June 6, 1905).
[33] Frisch, Otto R.; Peierls, Rudolf: Frisch-Peierls Memorandum. Memorandum on the Properties of a Radioactive “Super-bomb” (March 1940), hg. von Atomic Archive.
[34] Thomas, Elbert D.: Atomic Bombs in International Society, in: The American Journal of International Law 39 (4), 1945, S. 736–744, hier S. 742.
[35] Coblentz, Stanton A.: The Challenge Of The Atomic Bomb, in: World Affairs, 1945, S. 164–67, hier S. 166, 167. Dass ausgerechnet der als Science Fiction-Autor bekannte Coblentz hier einen Aufsatz zu dem Thema veröffentlichte, demonstriert, dass der Atombombe innerhalb des Diskurses der Internationalen Beziehungen eine Qualität des radikal Neuen zugesprochen wurde.
[36] Siehe Viner, Jacob: The Implications of the Atomic Bomb for International Relations, in: Proceedings of the American Philosophical Society 90 (1), 1946, S. 53–58, sowie die anderen Beiträge in der Ausgabe.
[37] Chamberlain, Lawrence H.: Rez. zu Brodie, Bernard u.a.: The Absolute Weapon. Atomic Power and World Order, New York 1946, in: Political Science Quarterly 61 (3), 1946, S. 443–445; Langmuir, Irving: World Control of Atomic Energy, in: Proceedings of the American Philosophical Society 90 (1), 1946, S. 65–69 ; Stassen, Harold E.: Atomic Control, in: Proceedings of the Academy of Political Science 21 (4), 1946, S. 103–112, hier: S. 107.
[38] Siehe beispielhaft Shotwell, James T.: The Control of Atomic Energy under the Charter, in: Proceedings of the American Philosophical Society 90 (1), 1946, S. 59–64 ; Turlington, Edgar: International Control of the Atomic Bomb, in: The American Journal of International Law 40 (1), 1946, S. 165–167; sowie die Beiträge in Brodie, Bernard u. a.: The Absolute Weapon. Atomic Power and World Order, New York 1946.
[39] Ferguson, Niall u.a. (Hrsg.): The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge, MA 2010.
[40] Alperovitz, Gar; Tree, Sanho: The Decision to Use the Atomic Bomb and the Architecture of an American Myth, New York 1995.
[41] bspw: Shalett, Sidney: New Age Ushered. Day of Atomic Energy Hailed by President, Revealing Weapon. Hiroshima Is Target. ’Impenetrable Cloud of Dust Hides City After Single Bomb Strikes, in: The New York Times, 07.08.1945, S. 1 ; Dazu auch: Burgan, Michael: Hiroshima: birth of the nuclear age, New York 2010.
[42] vgl. Osterhammel, Jürgen; Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003, S. 7.