von Takuma Melber

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10. März 2025

Am 7. Dezember 1941 überfiel Japan den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbor (Hawaii) – es war der Auftakt zum Pazifikkrieg. Binnen weniger Monate gelang es den Truppen des japanischen Kaisers (Tenno), die seit 1937 Krieg mit China führten und dort ungeheure Kriegsgräuel verübten, weite Teile Südostasiens zu besetzen. Nach der Seeschlacht um Midway (4. -7. Juli 1942) und der Landschlacht auf Guadalcanal (August 1942-Februar 1943) war Japan in die Defensive gedrängt und die amerikanischen Streitkräfte näherten sich mit ihrer Strategie des „Inselspringens“ von Süden herkommend Stück für Stück an die japanischen Hauptinseln an. Dank der amerikanischen Einnahme der nördlichen Marianeninseln im Sommer 1944 konnten Boeing B-29 „Superfortress“ Maschinen Japans Hauptstadt Tokio und damit auch den Kaiser und die Regierung unmittelbar bedrohen. Eine Ausstellung erinnert 80 Jahre danach an den verheerenden alliierten Luftangriff auf Tokio.

In der Nacht vom 9. auf den 10. März 1945 legten schließlich aus über 300 amerikanischen B-29 abgeworfene Brandbomben Tokio in Schutt und Asche. Über 100 000 Menschen kamen dabei ums Leben, rund eine Million wurde obdachlos. Bis heute zählt die Bombardierung Tokios zu den verheerendsten konventionellen Luftangriffen der Menschheitsgeschichte. Zugleich ist sie hierzulande vergleichsweise unbekannt und steht gewissermaßen im Schatten der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki.

 

Die Sonderausstellung des Tōkyō Daikūshū Sensai Shiryō Sentā

Den 80. Jahrestag der Bombardierung zum Anlass nehmend zeigt das im Tokioter Bezirk Kōtō gelegene „Dokumentationszentrum der Großen Luftangriffe und Kriegsschäden Tokios“ (Tōkyō Daikūshū Sensai Shiryō Sentā) von Februar bis April 2025 eine besondere Ausstellung, die einen unmissverständlichen Ton anschlägt: In einer Zeit, in der sich die liberal-demokratischen Länder des Westens durch den russischen Invasionskrieg in der Ukraine herausgefordert vermehrt mit Krieg und Wehrhaftigkeit auseinandersetzen, sei es besonders wichtig auf die Stimmen derer zu hören, welche den Krieg selbst erlebt haben. Zugleich möchte die Ausstellung angesichts der Tatsache, dass dieser Tage in der Ukraine und im Gazastreifen Menschen selbst Luftangriffe erleb(t)en, die Besucher*innen zum Nachdenken anregen.

Die Sonderausstellung des Dokumentationszentrums zeigt bisher weitgehend unbekannte Berichte und Zeitzeugnisse der schweren Bombardierung Tokios vom 9./10. März, die weite Teile des Stadtkerns zerstörte. Weitere alliierte Luftangriffe folgten am 14./15. April sowie 24./25. Mai, die weitere große Zerstörungen anrichteten, etwa um den Kaiserpalast und das Regierungsviertel herum; auch die bei Touristen heute sehr beliebten Stadtteile Kasumigaseki, Harajuku, Ginza und Shibuya waren betroffen. Abertausende Menschen wurden ausgebombt. Flüchtlinge, die Tokio verließen, wurden aufgrund der alliierten Luftdominanz über Japan in der finalen Kriegsphase in anderen Großstädten des Landes im Frühjahr/Sommer 1945 ein weiteres Mal zu Opfern alliierter Bombardements. Wie Besucher*innen der Ausstellung erfahren, erwuchs in Japan ein echtes Bewusstsein zur Dokumentation der Bombennacht vom 9./10. März 1945 und zur Sammlung von Zeitzeugenberichten erst mit dem Korea- bzw. dem Vietnamkrieg. Einen Kern der hier gezeigten Sonderausstellung bilden daher besonders Berichte aus den 1940er bis 1960er Jahren und damit aus einer Zeit, noch bevor in Japan mit einer eigentlichen Dokumentation des Schweren Luftangriffs auf Tokio (Tōkyō Daikūshū) begonnen wurde.

Visuelle und materielle Exponate flankieren die Schriftquellen der ZeitzeugInnen: Beispielsweise können die Museumsbesucher*innen eine aus Trümmern der Bombennacht hergestellte Friedensglocke anschlagen. Dies soll als ein Zeichen der Verbundenheit im Frieden verstanden werden und ist mit der Botschaft gekoppelt, die Kriegsvergangenheit nicht zu vergessen – eine klare Querverbindung zur Friedensglocke von Hiroshima, die am jährlichen Gedenktag des Atombombenabwurfs als Mahnung und Friedensaufruf ertönt. Auch werden sehr eindrückliche Gemälde von Augenzeug*innen gezeigt, wie etwa eines von Toshirō Inoue, das einen Stapel verkohlter Körper im Ueno Park am 10. März 1945 zeigt oder das Bild im Kitajukken-Fluss schwimmender Leichen von Takahide Yoshinoyama (damals 14-jährig). Er nahm das immer fortschreitende Aussterben der Zeitzeugengeneration 2007 zum Anlass, drei Bilder zu malen, die er mit Schriftzeugnissen 2008 dem Dokumentationszentrum übergab. Wenige Monate nach Yoshinoyamas Tod 2024, werden sie nun erstmals ausgestellt. Ein Gemälde, welches die Silhouetten verzweifelt aus dem Feuersturm Fliehender skizziert, stammt von Terumatsu Sakai. Er erlebte das Bombardement im Bezirk Koto als 13-Jähriger und malte Mitte der 1990er-Jahre eine Bildserie, um so nicht nur schriftlich, sondern auch visuell das schlimme Erlebnis der Bombennacht und ihrer Folgen zu verarbeiten – ein schmerzhafter und sehr tränenreicher Prozess der Traumabewältigung, der – wie Terumatsu selbst sagt – ihn „gerettet“ habe.

Ferner visualisiert eine an der Wand aufgehängte Karte, basierend auf im Jahr 1953 zusammengestelltes Datenmaterial, die Epizentren des Großen Tokioter Luftangriffs (9./10. März 1945) und verdeutlicht, dass es sich um vor allem Wohngebiete und hölzerne Bauten handelte, die der von den Brandbomben entfachte Feuersturm erfasste. Allerdings wird mittels der Karten auch daran erinnert, dass die Amerikaner mit ihren Bombardements vor allem auf Tokios Militär- und Rüstungsanlagen gezielt hatten: Auf einer Karte sind etwa die acht Luftangriffe rund um den Armeeflugplatz Tachikawa im Februar, vor allem April sowie von Juni bis August 1945 verzeichnet. Eine weitere Karte erläutert die Bombardierungen des Stadtteils Musashino, der aufgrund der hier ansässigen Fabriken des kriegswichtigen Flugzeugherstellers Nakajima bereits vor dem Großen Luftangriff auf Tokio ab Ende November 1944 schwer bombardiert worden war.  

 

Die Rolle von ZeitzeugInnen

Auffällig ist, dass neben den Berichten von Ärzten, Polizisten und Feuerwehrleuten, die als Helfer in der Brandnacht und den Folgetagen im Einsatz waren, die Ausstellung den Blick vor allem auf Berichte von Tokioter*innen richtet, die das Inferno als junge Heranwachsende miterlebten. Die Ausstellung zielt hier darauf ab, die erlebte Kriegsrealität gerade einer jüngeren Besucherschaft „von Jugendlichen für Jugendliche“ näher zu bringen, zählen japanische Schulklassen doch zum Hauptpublikum des Dokumentationszentrums. Exemplarisch genannt seien etwa die Tagebuchaufzeichnungen von Keisuke Hattori, der damals 14-jährig in den Folgetagen der Bombardierung aus der Trümmerlandschaft die Teile abgestürzter B-29 Bomber zusammensammelte.

Eine exponierte Stellung nehmen die Reflexionen des (Kinder-)Buchautors Saotome Katsumoto ein,[1] der das Bombardement als 12-Jähriger miterlebte und in der Nachkriegszeit als Friedensaktivist bekannt wurde. In seinem 1952 erschienenen und 1962 für den renommierten Naoki Literaturpreis[2] nominierten Werk Shitamachi no furusato – aru 18-sai no hanseiki (dt. Heimat Shitamachi – Lebensbericht eines 18-Jährigen)[3] schrieb er seine Erlebnisse nieder. Gemeinsam mit Matsuura Sōzō war es Katsumoto, der den damaligen Tokioter Gouverneur, Ryōkichi Minobe, 1970 um Unterstützung einer systematischen Quellensammlung, v.a. von Augenzeug*innen, zu den Luftangriffen auf Tokio bat. Ein erstes Ergebnis waren die Mitte der 1970er Jahre und damit über einem Vierteljahrhundert nach dem Bombardement veröffentlichten fünf Bände zusammengestellter Zeitzeugenberichte. Im Frühjahr 2025 präsentiert das Dokumentationszentrum der Öffentlichkeit nun erstmals Teile des Katsumoto-Nachlasses, die etwa Manuskripte[4] oder auch Sitzungsprotokolle einer von ihm betriebenen Gesellschaft enthält: Denn in den 1970er Jahren wurde die Etablierung einer erinnerungskulturellen Institution für die Tokioter Luftangriffe angestrebt und eine entsprechende Gesellschaft (Kūshū Sensai Kinenkan o tsukuru Kai) gegründet. Entsprechende Pläne zum Bau eines Tokioter Friedensmuseums (Tōkyōto Heiwa Kinenkan), verbunden mit dem Ziel, in der Hauptstadt eine feste Größe institutionalisierter japanischer Friedenspädagogik zu etablieren, wurden aufgrund kommunaler Finanzengpässe kurz vor der Jahrtausendwende endgültig verworfen. Eine von staatlich-kommunaler bzw. öffentlicher Hand getragene Institutionalisierung ließ sich somit nicht realisieren. Letztlich konnte das heute existierende Dokumentationszentrum aber über Spendengelder finanziert und am 10. März 2002 eröffnet werden. Die Aktivitäten des Zentrums/Museums trug und trägt noch immer vor allem die Generation der Zeitzeug*innen.

Deutlich wird in der Sonderausstellung, dass sich heute – 80 Jahre nach Kriegsende – das Dokumentationszentrum an einem kritischen Punkt befindet: Weil die Generation der Zeitzeug*innen im Aussterben begriffen ist, werden die Besucher*innen proaktiv zu finanzieller Unterstützung aufgerufen. Orientiert an den Vorbildern der Gedenkstätten Hiroshimas, Nagasakis und Okinawas bildet das Tōkyō Daikūshū Sensai Shiryō Sentā aktuell ‚Kataribe‘ aus: Menschen der Nachkriegsjahrgänge, die als „Erzähler*innen“, in Zukunft im Museum Zeitzeugenerlebnisse eindrücklich und lebhaft an Jüngere weitergeben sollen und gewissermaßen die Zeitzeug*innen „ersetzen“ sollen.

Mit dem biologisch bedingten Ableben der Zeitzeugengeneration geht in Japan ein Wandel der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg einher, den es weiterhin intensiv zu beobachten und wissenschaftlich zu begleiten gilt.

 


[1] Saotome Katsumoto et al. with an introduction by Richard Sams, Saotome Katsumoto and the Firebombing of Tokyo: Introducing The Great Tokyo Air Raid, The Asia-Pacific Journal, Vol. 13, Issue 9, No. 2, March 9, 2015 (Saotome Katsumoto and the Firebombing of Tokyo: Introducing The Great Tokyo Air Raid 早乙女勝元と焼夷弾爆撃 東京大空襲入門 - The Asia-Pacific Journal: Japan Focus), URL zuletzt aufgerufen am 6. März 2025.
[2] Naoki Sanjūgo Shō.
[3] Saotome Katsumoto, Shitamachi no furusato – aru 18-sai no hanseiki [Heimat Shitamachi – Lebensbericht eines 18-Jährigen], Tōkyō: Ashikai, 1952.
[4] Darunter das handschriftliche Manuskript eines der wichtigsten Werke von Katsumoto: Saotome Katsumoto, Tōkyō Daikūshū – Shōwa nijūnen sangatsu tōka no kiroku [Der Große Luftangriff auf Tokio – Protokoll vom 10. März 1945],  Tōkyō: Iwanami Shoten, 1971.