von Alexa von Winning

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23. Februar 2023

Russians Against War, Voices Of Peace, Sound of Peace und Stand With Ukraine Charity Tour: So hießen die Konzertreihen, die russische Musiker:innen nach Beginn der Invasion zur Unterstützung des angegriffenen Nachbarlands organisiert haben. Bekannte Künstler:innen wie Noize MC, Monetotschka, Zemfira oder Oxxxymiron spielten in Berlin, Helsinki, London, Istanbul, Prag, Tbilisi, Tallinn und Warschau. Viele der auftretenden Künstler:innen haben seit Jahren Schwierigkeiten, in Russland Konzerte zu spielen. Die meisten haben nach dem 24.02.22 das Land verlassen, einige sind zu ausländischen Agenten erklärt worden. Im europäischen Ausland spielen sie die Lieder, die in Russland niemand hören soll – und die über Youtube doch ein Publikum finden. Sie singen über ihr Heimatland, das von einem „Amok laufenden alten Gnom“ (Oxxxymiron) beherrscht wird, die Ukraine mit Gewalt überzieht und der Welt mit dem Atompilz droht. Sie beklagen Propaganda und Lüge, Zensur und Unterdrückung, Militarisierung und Kriegskult. Die Musiker:innen sammeln Geld für ukrainische Geflüchtete und rufen auf den europäischen Bühnen die zwei Worte, die in Russland nicht gesagt werden dürfen: нет войне, nein zum Krieg.

 

Keine Belehrung, keine Verharmlosung

Warum sollten wir unsere Aufmerksamkeit inmitten des zerstörerischen Krieges ausgerechnet diesen Künstler:innen, ihren Themen und ihrer Musik schenken? Es ist einfacher zu sagen, aus welchen Gründen wir es nicht tun sollten. Wir sollten es nicht tun, um die apologetische Vorstellung von „Putins Krieg“ wiederzubeleben, den eine Mehrheit der Menschen insgeheim ablehnt. Weite Teile der Bevölkerung unterstützen die Aggression. Erst durch die Mobilisierung begann diese Unterstützung zu bröckeln. Inwieweit das auch für die Musikstars des Landes gilt, ist schwer abzuschätzen.[1] Aber es mangelt dem Kreml nicht an Beistand. Zum Tag der Einheit des Volkes am 04.11.22 veröffentlichten einige Schlager- und Popstars einen patriotischen Song, in dem sie die russische Bevölkerung dazu aufriefen, sich hinter die Armee zu stellen. Trotz der gemeinsamen Anstrengung klingt das Lied wie ein trauriger Soundtrack der Mobilisierung: viel mehr als die Beschwörung längst vergangener Siege gelingt nicht, auch wenn sentimentale Streicher und viel Pathos die Leerstelle zu überdecken versuchen.

Wir sollten die regimekritische Musik auch nicht hören, um die ukrainische Bevölkerung und ihre Kunstschaffenden zu mehr „Differenzierung“ gegenüber Russland und seiner Bevölkerung zu mahnen, wie es etwa Jutta Ditfurth mit ihren Vorwürfen gegen den Schriftsteller Serhij Zhadan getan hat.[2] Und wir sollten es schließlich nicht tun, um Ukrainer:innen mit erhobenem Zeigefinger zur Verständigung oder gar Versöhnung aufzurufen. Das ist eine unsägliche Anmaßung, solange Teile ihres Staatsgebiets besetzt sind, russische Raketen die Strom- und Gasversorgung zerstören, Tausende Kinder verschleppt werden und niemand weiß, wie viele Massengräber noch auf Entdeckung warten.

Stattdessen sollten wir die Lieder als Teil der Auseinandersetzungen um Russlands militarisierte Gegenwart und aktuell desolate Zukunftsaussichten hören. Diese Auseinandersetzung ist seit Putins erneuter Wahl zum Präsidenten im März 2012 im Gang und hat durch den Angriffskrieg massiv an Schärfe und Dramatik gewonnen. Zwar hat sich die autoritäre Staatsmacht in eine Diktatur gewandelt und es bisher geschafft, Proteste binnen kurzer Zeit zu unterdrücken. Knapp 20.000 Verhaftungen und zahllose Strafverfahren für Antikriegsaktionen seit Invasionsbeginn bezeugen ihre unerbittliche Härte.[3] Aber es gibt weiterhin couragierte Stimmen, die Putins Lügen enttarnen, die schrecklichen Folgen seiner Herrschaft benennen und ein anderes Russland (oder gleich mehrere demokratische Nachfolgestaaten an seiner Stelle) entwerfen. Die musikalische Gegenkultur des Landes gehört zu diesen Stimmen.[4] Die Musikstile variieren, die Texte sind scharf, voll Trauer oder ambivalent, die Videoclips oft drastisch und aufwühlend. Solange sie über Youtube auch von Russland aus erreichbar bleiben, finden in den Kommentaren virtuelle Begegnungen von Menschen statt, die sich ein anderes Russland wünschen. Es eint sie das Gefühl, einen endlosen Februar zu erleben: düster, gewaltsam, hoffnungslos. 

 

Kriegskult und Militarisierung

Manche Songs bekannter Größen des russischen Rocks, Pops und Raps aus Vorkriegszeiten hören sich heute unweigerlich prophetisch an. „Aber wenn du es wirklich willst, wirst du einen Feind finden / Siehst du, auf dem Kopf deines Nachbarn sind Hörner gewachsen“, singt das Rock-Urgestein Jurij Schewtschuk mit seiner Band DDT in einem Lied über den Dritten Weltkrieg aus dem Jahr 2016, das die Band den „Verrückten“ widmet, die einen neuen Krieg vom Zaun brechen wollten. Hellseherische Fähigkeiten hatte Schewtschuk nicht. Die heutige Wirkung des Liedes liegt vielmehr daran, dass der russische Angriffskrieg zwar eine welterschütternde Zeitenwende ist, aber nicht am 24. Februar begann. Nicht nur wird im Donbass seit 2014 gekämpft. Vladimir Putin hat den Krieg als außenpolitisches Mittel, persönlichen Popularitätsbooster und innenpolitisches Ablenkungsmanöver bereits lange vorher erprobt, etwa in Georgien und Syrien. Diese Kriege begleitet ein propagandistischer Kult des „heroischen“ Krieges, der tief ins Alltagsleben der Bevölkerung eindringt.

Diesen Kult haben Anastasia Kreslina und Nikolaj Kostylev von IC3PEAK, einem experimentellen Musikduo aus Moskau, in ihrem Song Marsch (2020) besonders eindrücklich eingefangen. Das in schwarz, weiß und rot gehaltene Video zeigt intime Lebensmomente, die von Gewalt und Blut durchdrungen sind und fließend in Kriegsszenen übergehen. Musizierende Jugendliche, Kinderspielzeug, eine Hochzeit, ein Vorlesungssaal und eine junge Mutter mit Baby: alles mündet auf dem Schlachtfeld und in Schützengräben, wo die Soldat:innen die letzten Zeichen eines friedlichen Lebens zerschießen. Auch der kindlich-hohe Gesang, den Kreslina mit halbgeflüstertem Sprechgesang abwechselt, explodiert.

Shortparis, eine putinkritische Elektroband aus Petersburg mit expressiven Performances, die auch in Westeuropa zunehmende Aufmerksamkeit erfährt, stellt die Gewalt in ihrem Lied Es spricht Moskau als historische Konstante dar: „Die Angst vorm Revolver / Ist wie ein Glaube / Das ewige Maß / Unserer Liebe.“ Symbole und Ästhetik sind stark sowjetisch inspiriert, aber Text und Video sind zugleich offen für aktuelle Deutungen. So ist eine Kette von Revolvern, die uniformierte Männer an die Schläfe des nächsten halten, ein eindrückliches Bild für Stalins Terrorherrschaft, ebenso aber für die Putinsche Vertikale der Macht. Auch die Textzeile, dass es unter der Moskauer Herrschaft „Jungs zum halben Preis“ gebe, wird in den Kommentaren unter dem Video als schmerzhaft aktuell kommentiert.

 

TV-Propaganda als Fäkalien

Die Raveband Little Big hat im Juni dieses Jahres mit Generation Cancellation ein Lied veröffentlicht, das bereits eine direkte Reaktion auf die Invasion der Ukraine ist. In Interviews und Kommentaren betonen die Bandmitglieder, dass der Song als Protest gegen den aktuellen Krieg zu verstehen ist. Text und Video selbst sind allerdings weniger eindeutig, weil ein Teil der gebrauchten Symbole eher dem westlichen Kontext zuzuordnen ist.[5] An anderer Stelle ist der Band allerdings ein mächtiges und treffendes Bild gelungen. Das Video präsentiert Fernsehpropaganda als Fäkalien, die durch dicke Rohre direkt vom Toilettensitz des Moderators in die Köpfe der willenlosen Zuschauer:innen und Schulkinder gepumpt werden. Was sie dort anrichtet, lässt sich tagtäglich beobachten.

Die Gefahren und Absurditäten der Propagandasprache hat auch Semen Slepakov, Komiker und Sänger, in mehreren Liedern thematisiert. In Die Dinge sind nicht so eindeutig greift er – im klassischen Bardenstil mit Sologitarre – eine zentrale Strategie der russischen Propaganda auf und illustriert, wie Zweifel und Verwirrung Menschen dazu verführen, sich ins Nichtstun zurückzuziehen. Nein zur Wobla (нет вобле) ist ein Wortspiel mit dem Slogan Nein zum Krieg: Eine Demonstrantin in Tjumen’ wurde freigesprochen, nachdem sie behauptet hatte, „нет в***е“ sei ein Protest gegen die Fischart Wobla und nicht gegen den Krieg gewesen.[6] Der Song treibt das Spiel weiter: „Wir dürfen die Augen nicht vor diesen Gräueltaten [des Fisches] verschließen / schließlich führt unser Staat Kriegshandlungen durch.“

 

Fleischprodukte Made in Russia und die Frage der Schuld

Der frenetischen Überhöhung Russlands in der staatlichen Propaganda hat der Rapper Oxxxymiron, Schöpfer zahlreicher kremlkritischer Songs, eine drastische Antwort entgegengesetzt. In Hergestellt in Russland – vermutlich nicht zufällig eine Parallele zum Großmacht-Schlager Hergestellt in der SSSR – zeichnet er Russland als Fleischfabrik, die Menschen zur Schlacht(ung) produziert. Der düstere Sound unterstreicht den bedrückenden Text: Der Einberufungsbescheid kommt als vierter Reiter der Apokalypse zu jungen Menschen, die sich gestern noch auf Petersburger Brücken geküsst haben, und schickt sie in den Tod.

Ähnlich schwarz porträtiert Russland Noize MC, wie Oxxxymiron ein Rapper und Regimegegner, in Ausweis als ewige Hölle, für die die Bürger:innen ein Visum zur mehrfachen Einreise haben. Eigentlich geht es in dem Lied aber um die Frage der eigenen Schuld: „Wasch Dich nicht rein / Du bist auch schuld“ lautet der Refrain, „Du bist einer von ihnen“. Es gibt kein Video zu dem Lied, lediglich einige Mitschnitte von den Voices of Peace-Konzerten, wo Ivan Alekseev es im Frühjahr 2022 erstmals aufführte. In Prag wandte er sich direkt an die Russ:innen im Publikum. Wer von ihnen auf Tschajkowskij oder Gagarin stolz sein wolle, müsse auch die andere Seite der russischen Medaille annehmen und Scham über den Krieg empfinden. Damit nicht genug, sie sollten es sich nicht in ihrer Hilflosigkeit einrichten, sondern sich einmischen. Im Lied heißt es: „Im Luftschutzbunker quietscht ein Kind zum letzten Mal / Du hast alles bedacht, die Faktoren abgewogen und bist kein Risiko eingegangen / den satten Arsch lullt auf dem weichen Sofa die Lüge ein.“

 

Einsamkeit und die Suche nach einem neuen Russland

„Ich bin wie eine Fremde in der eigenen Familie“ singt Nastja Kreslina in Marsch. In den Youtube-Kommentaren unter dem Video erhält diese Zeile große Zustimmung. Unter einem Video von Shortparis schreibt jemand ähnlich: „Mein Gott, Leute, ich danke euch für diese Kommentare, für unseren gemeinsamen Schmerz, ich habe mich zum ersten Mal seit einem halben Jahr nicht allein gefühlt mit meinem furchtbaren Schmerz angesichts der Hölle und des unmenschlichen Hasses um mich herum. Ukraine, verzeih, verabschiede dich nicht, das kann man nicht wiedergutmachen.“ Eine andere Nutzerin vergleicht den Verlust ihrer Angehörigen an die Putin-Propaganda mit einer Demenzerkrankung. Zwar säßen ihr noch dieselben Menschen gegenüber wie früher, aber es seien nur noch Hüllen und ihr Zustand werde von Tag zu Tag schlimmer. Manche der Kommentare reflektieren, dass die ukrainische Bevölkerung von russischen Händen viel unmittelbarere Gewalt und Zerstörung ertragen muss, die meisten tun es nicht.

Die kritischen Lieder und User-Kommentare bieten auf Youtube einen virtuellen Raum, um solche Gefühle auszudrücken und auszutauschen. Es dominieren Einsamkeit, Verzweiflung und Schmerz – und nicht etwa Kränkung oder Stolz, die zentralen emotionalen Elemente der Kreml-Propaganda. Gekränkter Stolz taucht nur dort auf, wo Lieder explizit an der gegenwärtigen staatlichen Verfassung Russlands kratzen und ungebetene Verteidiger der imperialistischen Heimat anlocken. Oxxxymirons Ojda ist ein solches Beispiel. Das Lied ruft dazu auf, statt des alten Imperiums ein neues Haus zu bauen, erwähnt die weiß-blau-weiße Fahne der demokratischen Opposition und endet mit einem separatistischen Verweis auf die Regionalisierung der Russischen Föderation. Das ruft neben viel Zustimmung feindselige Kommentare hervor, die den Rapper als Verräter bezeichnen und mitunter antisemitisch werden. Nicht nur auf Youtube gibt es Widerspruch. Am 06.12.22 meldete die staatliche Nachrichtenagentur TASS, dass die Petersburger Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen Oxxxymiron eingeleitet hat. Das Lied rufe zu Handlungen auf, die die territoriale Integrität der Russländischen Föderation verletzen könnten, so die Begründung.[7]

 

Tiefe Entputinisierung

Mit ihren vielstimmigen Beats, Melodien und Metaphern deuten die Lieder allesamt auf die gewaltige Aufgabe, die nach Befreiung und Wiederaufbau der Ukraine wartet: Die Entputinisierung Russlands. Sie betrifft Putins Verfügungsgewalt über die Streitkräfte, den Sicherheitsapparat, die Öl- und Gasvorkommen und die Medien. Aber die Voraussetzungen für seine Herrschaft gehen tiefer und dauern länger an. Deswegen muss auch die Entputinisierung viel mehr als nur ein Macht- und Institutionenwechsel sein. Es scheint, dass die Musiker:innen das erkennen. Putin selbst taucht nur selten in den Liedern auf. Die Niederlagen der russischen Armee und die ungeheuren menschlichen und ökonomischen Kosten des Krieges treiben gerade Risse in seine Herrschaft, durch die die Botschaften der Songs vielleicht stärker als bisher eindringen können.

 


 

[1] Zur breiten Ablehnung des Kriegs in der Moskauer Kulturelite ein Bericht von Kerstin Holm, in: faz, 01.08.2022 [letzter Zugriff 12.11.2022].
[2] Wieder Kritik an ukrainischem Friedenspreisträger Serhij Zhadan von Stefan Simon, in: t-online.de, 28.10.2022 [letzter Zugriff 12.11.2022].
[3] Vgl. die ständig aktualisierten Zahlen der russischen NGO OVD-Info [letzter Zugriff 12.11.2022].
[4] Zur musikalischen Gegenkultur und ihren Protagonist:innen in den Jahren 2018 und 2019 siehe Olga Caspers auf Dekoder [letzter Zugriff 12.11.2022].
[5] Zum Beispiel in diesem Interview mit dem Onlinemedium Holod, übersetzt von Dekoder [letzter Zugriff am 12.11.2022].
[6] In Tjumen wurde eine Demonstrantin freigesprochen, weil sie behauptete, mit „нет в***е“ gegen den Fisch und nicht gegen den Krieg zu protestieren [letzter Zugriff am 12.11.2022]. 
[7] В отношении Oxxxymiron возбудили административное дело за песню "Ойда", in: tass.ru, 06.12.2022 [letzter Zugriff am 09.12.2022].