Fast zwanzig Jahre nach seinem Tod gilt Reinhart Koselleck als vielleicht bedeutendster Geschichtstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Der mit ihm eng verbundene Ansatz der Begriffsgeschichte ist weltweit etabliert und von ihm geprägte Konzepte wie „Sattelzeit“ oder „Verzeitlichung“ erfreuen sich ungebrochener Popularität in der Geschichtswissenschaft. Ungeachtet dessen fördert eine kritische Historisierung von Werk und Person auch problematische Aspekte zutage, wie die Philosophin Sidonie Kellerer zeigt, deren aktuelle Arbeiten das vorherrschende Bild Kosellecks in Zweifel ziehen. Nicht zuletzt angesichts seiner Rezeption durch neurechte Akteure sollte sich die Zeitgeschichte dieser unbequemen Debatte stellen.
Jens Elberfeld: Sidonie Kellerer, Sie haben sich als Philosophin bislang vorwiegend mit dem Werk Martin Heideggers beschäftigt. Wie kam es dazu, dass Sie sich nun dem Historiker Reinhart Koselleck widmen?
Sidonie Kellerer: Im Zuge meiner Beschäftigung mit Heideggers Denken interessierte ich mich zunehmend für dessen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Ich fragte mich: Wie konnte ein derart destruktives Denken so erfolgreich werden? In diesem Zusammenhang wurde mir deutlich, dass Heidegger Koselleck sehr viel stärker beeinflusst hat als bislang angenommen. Deshalb habe ich mich in den letzten zwei Jahren eingehender mit Koselleck befasst.
Jens Elberfeld: Sie erwähnen Ihr aktuelles Forschungsprojekt. Könnten Sie es grob umreißen und Ihr Erkenntnisinteresse darlegen?
Sidonie Kellerer: Es untersucht, wie das, was ich als Heideggers Hermeneutik der Gewalt bezeichne, seinen Niederschlag in den Interpretations- und Begriffstheorien von Hans-Georg Gadamer, Reinhart Koselleck und Joachim Ritter findet. Systematisch sollen dabei die Begriffe der Geschichtlichkeit, der Methode, der Kritik und des Begriffs im Vordergrund stehen. Ich möchte verstehen, wie sich eine Hermeneutik etablieren konnte, die – um es schematisch zu sagen – gegen Kritik immunisiert.
Jens Elberfeld: Ihre bisherigen Veröffentlichungen zu Koselleck konzentrieren sich auf seine berühmte Dissertation Kritik und Krise. Was ist in Ihren Augen daran problematisch?
Sidonie Kellerer: Recht besehen ist es nicht das, was es vorgibt zu sein, nämlich eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Denken der Aufklärung und insbesondere mit dem Begriff der ‚Kritik‘, sondern es ist eine Polemik, die in weiten Teilen durch verbale Brillanz von ihrer agonalen Verfasstheit ablenkt. Koselleck flicht eine Vielzahl an Quellen in seinen Text ein, so dass der Eindruck quellengestützter Sachlichkeit entsteht. Inhaltlich und aufs Ganze gesehen ist Kritik und Krise jedoch eine Karikatur des Denkens der Aufklärung. Karikiert wird insbesondere kritisches Denken selbst, das Koselleck als im Kern dualistisch und destruktiv präsentiert. Er geht so weit, von der „prinzipiellen Verlogenheit“ der Kritik zu sprechen. Suggestiv diskreditierend ist die Rede von der Kritik als vermeintlichem Vorboten der „totalen Demokratie“: Hier wird Demokratie ohne viel Federlesens mit Totalitarismus verquickt. Mit ‚Dogwhistling‘ – also einem Sprechen zwischen den Zeilen – haben wir es zu tun, wenn Koselleck den Ausdruck „Maurerinternationale“ verwendet. Anfang der 1950er Jahre ist das ein nationalsozialistisch gefärbter Ausdruck. In diesem Zusammenhang sind meines Erachtens auch die Begriffe der Heimatlosigkeit, der Utopie und der Geschichtsphilosophie zu sehen.[1]
Jens Elberfeld: Wie verlief die Rezeption von Kritik und Krise seit Ende der 1950er Jahre? Und wurden die von Ihnen angesprochenen Aspekte schon anderweitig thematisiert?
Sidonie Kellerer: Die Neuauflage 1973 bei Suhrkamp ist für den Erfolg des Buchs entscheidend gewesen. Zuvor hatte es sich nicht schlecht, aber auch nicht sonderlich gut verkauft. Dem Alber-Verlag schrieb Koselleck 1972: „Es tut mir leid, dass die deutsche Zweitauflage so mäßig abgesetzt wird. Offenbar erreicht sie nicht die studentischen Abnehmerkreise“.[2] Mit der Neuauflage bei dem als politisch eher links geltenden Suhrkamp-Verlag wird das Buch zu einem Klassiker. Dazu trug auch die Rezension des Buchs aus der Feder des Carl-Schmitt-Jüngers Günter Maschke bei, die im April 1974 in der FAZ erschien.[3] Im Juli wurde es dann im Hessischen Rundfunk besprochen. 1977 lag bereits die 2. Auflage bei Suhrkamp vor. Der Erfolg des Buchs ab Mitte der 1970er Jahre verdeckte die kritischen Stimmen, die es auch gab, die aber insgesamt marginal blieben. Ich denke etwa an Iring Fetscher,[4] der 1966 darauf hinwies, dass Kosellecks Darstellung der Französischen Revolutionen auf einer Verschwörungsvision beruht.
Jens Elberfeld: Als ich während meines Studiums Kritik und Krise gelesen habe, stieß mir der kaum kaschierte geschichtsphilosophische Subtext ebenfalls unangenehm auf. Allerdings habe ich daraus den Schluss gezogen, Kosellecks historiographisch anregende Gedanken über die aufklärerische Verbindung von Politik und Moral in Frontstellung zum absolutistischen Staat losgelöst von der kulturpessimistischen Rahmung zu betrachten. Ein ähnliches Vorgehen findet man in Jürgen Habermas Strukturwandel der Öffentlichkeit. Stellt das für Sie keine Option dar?
Sidonie Kellerer: Die Frage lautet für mich zunächst einmal: Was wollte Koselleck mit Kritik und Krise sagen? Dieser erste notwendige interpretatorische Schritt aber wird, um es zugespitzt zu formulieren, vereitelt, weil der Text sich so präsentiert, als könne er für bare Münze genommen werden, das heißt, als bräuchte es keine Hermeneutik der verdeckten Ausdrucksweise, um ihn zu verstehen. Dabei ist es, wie ich meine, ein verdeckter Angriff, dessen Aussageabsichten bewusst verwischt werden. Sie sagen: Kann ich nicht einige anregende Gedanken von Koselleck losgelöst betrachten? Das verbietet niemand, aber das birgt bei einem solchen Text Schwierigkeiten. Beispielsweise die Gefahr, dass eine bestimmte Semantik sich verselbstständigt. Ich erwähnte die Besprechung von Kritik und Krise im Hessischen Rundfunk im Sommer 1974. Dort hieß es, Koselleck habe die Französische Revolution „als Vollstreckung der großen Heimatlosigkeit“ begriffen.[5] Die „wurzellosen Intellektuellen“, die „bodenlosen Kosmopoliten“, beides klassisch antisemitische Chiffren,[6] sind hier nicht mehr weit. Ich plädiere deshalb für einen aufgeklärten Umgang mit theoretischen Texten, in dem wir die Begriffe kontrollieren und nicht umgekehrt.
Jens Elberfeld: An der Stelle vertrete ich wohl einen anderen Standpunkt. Worauf ich hinauswill, ist, dass Kosellecks Kritik an der Aufklärungsphilosophie respektive ihres gesellschaftlichen Projekts zu einer weniger idealistischen, affirmativen Sicht auf sie in der Geschichtswissenschaft beigetragen hat. Diesen Anstoß halte ich prinzipiell für richtig und sehe diesbezüglich gewisse Schnittmengen zum Poststrukturalismus, allen voran zu Foucault, ebenso wie zur Dialektik der Aufklärung. Aber lassen Sie uns auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. In einem Aufsatz thematisieren Sie Kosellecks Bezugnahme auf Autoren, die sich während des Nationalsozialismus eindeutig antisemitisch geäußert haben. Entscheidender dürfte jedoch ein anderer Punkt sein: Finden sich bei ihm entsprechende Topoi und Argumentationsmuster wieder?
Sidonie Kellerer: Ja, wie ich es bereits ansprach, auf semantischer Ebene, wenn von „Maurerinternationale“ oder auch von der „moralischen Internationale“ und ihren „Kosmopoliten“ die Rede ist. Es bleibt aber nicht auf der semantischen Ebene. In dem Buch wird behauptet, die Freimaurer versuchten, den Staat zu zerstören, ihn „auszuhöhlen“, und zwar durch „indirekte Gewalt“. Sie tun das, schreibt Koselleck, „ganz bewusst“ und bedienen sich hierfür der Kritik, der Geschichtsphilosophie und der „bürgerlichen Intelligenzler“. Es ist letztlich eine Verschwörungsvision, die sich einer Reihe völkischer Topoi bedient: Die Intelligenzler sind ohne Heimat, wurzellos und weltfremd und als solche die natürlichen Verbündeten der Freimaurer, denen es einzig um Macht und Gewalt geht. Die rationale Kritik ist utopisch, welt- und geschichtsfremd. Ein Instrument, das diejenigen nutzen, die vermeintlich wurzellos sind, d.h. keinen Sinn für Schicksal, Erbe, Rangordnung und Mythos haben.
Jens Elberfeld: Sie betonen namentlich den Einfluss Carl Schmitts, aber auch weitere Kontakte ins rechtsintellektuelle Milieu, etwa zu dessen umtriebigen Spiritus Rector Armin Mohler. Wie würden sie den jungen Koselleck im politischen und geistigen Klima der Nachkriegszeit verorten?
Sidonie Kellerer: Koselleck war ein überzeugter Wehrmachtsoldat, der bis zuletzt auf den Endsieg hoffte. Dank persönlicher Kontakte hatte er das Glück früh, nämlich schon 1946, aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurückkehren und 1947 ein Studium in Heidelberg aufnehmen zu können. Zu den Autoren, die er am intensivsten studierte, gehörten die Nationalsozialisten Hans Freyer, Martin Heidegger, Carl Schmitt. Der Betreuer seiner Arbeit war sein Patenonkel Johannes Kühn, ebenfalls ein überzeugter Nationalsozialist. In diesem Umfeld bildete sich Koselleck geistig aus. Wenige Jahre, nachdem er seine Dissertation abgeschlossen hatte, suchte er den rechtsradikalen Propagandisten Armin Mohler in Paris auf, der ihn in den folgenden Jahren regelmäßig mit seinen metapolitischen Publikationen bedachte und ihn 1976 zu einem Vortrag im Rahmen der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung in München einlud.[7] Die Umstände dieser Einladung und darüber hinaus die Art und Weise, wie sich Koselleck, in diese rechtsradikalen Netzwerke einfügte, würden es verdienen, wissenschaftlich aufgearbeitet zu werden.
Jens Elberfeld: Erkennen Sie bei Koselleck eigentlich einen Gesinnungswandel? Die späteren Veröffentlichungen scheinen mir nicht mehr den Geist antimoderner Kulturkritik zu atmen. Dies würde zudem erklären, wieso man bei seinen akademischen Schüler:innen keine solche hidden agenda ausmachen kann. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass ich bei einem von ihnen promoviert habe.
Sidonie Kellerer: Hierzu kann ich mich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend äußern. Was aber in meinen Augen im Widerspruch steht zu der verbreiteten Annahme, der späte Koselleck sei liberaleren Geistes gewesen, ist der Festvortrag mit dem Titel Hermeneutik und Historik, den er im Februar 1985 anlässlich Hans-Georg Gadamers 85. Geburtstag in Heidelberg hielt. Koselleck stellt sich hier ganz in die Kontinuität Heideggers: Er will über die Voraussetzungen der Geschichte sprechen und tut das, indem er Heideggers Existenzialen vervollständigt. Es müsse, sagt er, Heideggers Vorlaufen zum Tode durch die „transzendentale Kategorie“ des Totschlagenkönnens vervollständigt werden. Ich frage mich: Was hat der Akt des Totschlagenkönnens mit einer transzendentalen Kategorie zu tun? Eine transzendentale Kategorie ist eine reine Denkform, es ist kein physischer Akt der Tötung. Deshalb halte ich das, was Koselleck in seinem Festvortrag tut, für einen Begriffskampf: Begriffe werden gewaltsam umbesetzt genauso wie es Heidegger und Schmitt systematisch tun. Zum Abschluss seines Vortrags betont Koselleck, dass Emanzipation kein „Ziel der Geschichte“ sein dürfe. Insofern scheint mir ein Gesinnungswandel des späten Kosellecks fragwürdig.
Jens Elberfeld: Bislang haben Sie sich zwar vornehmlich mit Kosellecks Frühwerk befasst. Aber wie schätzen sie seine späteren Arbeiten und insbesondere den mit ihm verbundenen Ansatz der Begriffsgeschichte ein? Reicht es, diesen aus dem Einfluss Carl Schmitts abzuleiten?
Sidonie Kellerer: Ich meine, dass Koselleck in seinem berühmten Aufsatz zur Semantik „asymmetrischer Gegenbegriffe“ Schmitts agonaler Freund-Feind-Opposition die Weihen der Wissenschaftlichkeit zu verleihen sucht. Die Prämisse dieses Aufsatzes ist, dass menschliche Geschichte auf Ausgrenzung beruhe und folglich präsentiert Koselleck das, was er als „Gegenbegriffe“ bezeichnet – das heißt Begriffe der Ausgrenzung – als Grundbegriffe. Die Resonanz zu Heideggers und Schmitts Weltanschauung ist deutlich. Damit will ich selbstredend nicht sagen, dass das Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe völkischer Prägung ist, allein schon deshalb nicht, weil daran sehr viele Autor:innen mitgewirkt haben, die diese Ideologie nicht teilen. Ich will damit sagen, dass Kosellecks begriffsgeschichtliches Unternehmen mit Blick auf metapolitische Bestrebungen kritischer beleuchtet werden sollte.[8]
Jens Elberfeld: Eine Ihrer Thesen lautet, Koselleck habe sich – auch auf Anraten Schmitts – bewusst einer „Strategie der Irreführung“ bedient, um seine wahren politischen Absichten zu verschleiern. Wie gehen Sie damit methodisch um, ohne bei einer bloßen „Hermeneutik des Verdachts“ zu landen, die selber Gefahr läuft, zur Verschwörungserzählung zu gerinnen?
Sidonie Kellerer: Das erfinde ich nicht. Es lässt sich im Briefwechsel zwischen Koselleck und Carl Schmitt nachlesen: „Die Fähigkeit zur Beschränkung zeugt heute nicht mehr aus methodischen, sondern aus politischen Gründen von größerem Wissen“ schreibt Koselleck 1953.[9] Bemerkenswert finde ich, wie effektiv Koselleck darin gewesen ist, die allermeisten Leser:innen von dieser verdeckten Ausdrucksweise abzulenken. Rechtsradikale Leser:innen hingegen haben diese Form des Dogwhistling immer wahrgenommen. So schrieb der Mohler-Schüler Karlheinz Weißmann: „Jedenfalls war für Koselleck typisch das Verklausulierte in Wortwahl und Argumentation, die Art, Ungeheuerlichkeiten – zum Beispiel den Einfluss der Freimaurerei auf die Vorbereitung der Französischen Revolution – zu präsentieren, aber die Schlussfolgerung abzuschneiden oder ins Harmlose umzubiegen.“[10] Sie fragen zurecht, wie sich eine Hermeneutik des Verdachts vermeiden lässt. Die Entschlüsselung einer Ausdrucksweise, die auf dem Prinzip der plausible deniability, also der Rechenschaftsvermeidung, beruht, ist komplex. Sie wirft grundlegende hermeneutische Probleme auf. Ein Verfasser, der nicht will, dass seine Aussagen auf der Ebene des Satzes verstanden werden können, bedient sich Techniken der Verweisung, die nur auf dem Weg der Kontextualisierung zu belegen sind. Berücksichtigt werden müssen hier also zusätzliche Aussageebenen, insbesondere der Intertext, der Paratext, aber auch der semantische und diskursive Kontext der Zeit. Wie eine solche Hermeneutik der verdeckten Ausdrucksweise aussehen kann, habe ich vor zwei Jahren in einem Vortrag erklärt, der sich online nachhören lässt.[11]
Jens Elberfeld: Wir erleben seit einigen Jahren den Versuch einer „geistigen Landnahme“ von rechts, in der es um „Metapolitik“, die Prägung von Begriffen sowie die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren geht. Dahinter stehen neurechte Akteure und Netzwerke, die Zeitschriften und Kleinstverlage gründen, Lesekreise initialisieren, Vorträge und Akademien veranstalten, Buchbesprechungen auf YouTube oder als Podcast hochladen und von einer „Gegenuni“ träumen. Inwiefern spielt der Bezug auf Koselleck hierbei eine Rolle?
Sidonie Kellerer: Diese geistige Landnahme von rechts ist nicht neu. Kaum war Hitler-Deutschland besiegt, verschrieb sich Armin Mohler dieser Art Landnahme. Er war darin nicht alleine. Auch Alain de Benoist rief früh zu einer rechten Aneignung von Antonio Gramscis Gedanken ‚kultureller Hegemonie‘ auf. Heidegger und Carl Schmitt sind die markantesten Beispiele für den Erfolg dieses kulturhegemonialen Kampfes von rechts außen. Sie fragen, welche Rolle hier Koselleck spielt. Schon in den 1960er Jahren zählte Armin Mohler ihn zu den rechten Vordenkern. Heute ist er fester Bestandteil der drei Bände des Staatspolitischen Handbuchs, die der rechtsextreme Antaios-Verlag um Götz Kubitschek veröffentlicht. Koselleck wird darin als „Vordenker“ aufgeführt und Kritik und Krise als „Schlüsselwerk“.[12] Martin Sellner, einer der Teilnehmer des sogenannten Remigrationstreffens in Potsdam, betont, dass die rechte Metapolitik in die Universitäten hineingetragen werden muss und insbesondere in die Geisteswissenschaften. Warum? Weil eine rechtsradikale Eroberung der öffentlichen Meinung das Ansehen der Wissenschaftlichkeit braucht.
Jens Elberfeld: Nun versucht die sich intellektuell gebende Neue Rechte seit längerem, bestimmte Autor:innen und Theorieströmungen strategisch für sich zu reklamieren. Beispielsweise schwadronierte der Foucault-Übersetzer und Mitherausgeber der Zeitschrift Tumult Walter Seitter schon Ende der 1980er Jahre in Bezug auf den Poststrukturalismus „Vom rechten Gebrauch der Franzosen“. Und heute beanspruchen einschlägige Autoren, „Marx von rechts“ zu lesen. Aber ginge man ihnen nicht in gewisser Weise auf den Leim, wenn man politisch widersprüchliche Autor:innen sogleich der anderen „Feldpostadresse“ überlässt? Oder konkreter gefragt: Wie sollte man heute mit Koselleck umgehen?
Sidonie Kellerer: Ja, auch Gramsci von rechts natürlich mit der „kulturellen Hegemonie“. Es handelt sich dabei um eine Aneignung von rechts, die das Denken des Gegners aushöhlt, indem sie dessen Methode nur der Form nach gelten lässt und dessen emanzipatorische Prämissen über Bord wirft. Wie ich es oben bereits sagte: Es ist in einem ersten Schritt wichtig zu verstehen, was diese Autoren sagen wollten, und dann kann man entscheiden, was man davon übernimmt und was nicht. Wenn man das nicht tut, dann lässt man sich irgendwie inspirieren. Das aber ist kein kritisches Denken.
Jens Elberfeld: Im vergangenen Jahr wurde der 100. Geburtstag Kosellecks begangen. Aus diesem Anlass gab es diverse Tagungen, Publikationen und Feuilleton-Artikel. Die von Ihnen vorgebrachte Kritik spielte bei all dem keine Rolle. Wie erklären Sie sich das? Und welche Reaktionen erhalten Sie auf Ihre Arbeit, allen voran aus der Geschichtswissenschaft?
Sidonie Kellerer: Ich halte es nicht für ungewöhnlich, dass meine Beiträge, die der vorherrschenden Wahrnehmung Kosellecks widersprechen, zunächst einmal eine nur geringe Rolle spielen. Um es provokant zu formulieren: Es gibt eine Trägheit des wissenschaftlichen Mainstreams, die mit Machtstrukturen zu tun hat. Diejenigen, die ihre Karrieren entlang bestimmter Positionen aufgebaut haben, sind nicht bereit, ihre Positionen einer vorbehaltlosen Auseinandersetzung zu unterwerfen und legen Verteidigungsreflexe an den Tag, die nicht immer sachlich begründet sind. Ich habe indes auch zahlreiche Zuschriften erhalten sowohl aus dem akademischen Milieu als auch von der interessierten Öffentlichkeit, die zeigen, dass die etablierte Wahrnehmung Kosellecks vielfach hinterfragt wird und großes Interesse an einer kritischen Aufarbeitung dieses Denkens und seiner Rezeptionsgeschichte besteht.
Wir bedanken uns für die Unterstützung unserer Arbeit bei Frau Janet Dilger (DLA Marbach a. Neckar) und für die Veröffentlichungsgenehmigung durch die Erbengemeinschaft Koselleck.
[1] Ausführlich Sidonie Kellerer: ›Reinhart Koselleck. Aufklärer der Aufklärung oder Strategie kultureller Hegemonie? Ein kritischer Kommentar zu ‚Kritik und Krise‘‹, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 71, 5, 2023, S. 695–720.
[2] Brief Koselleck an Meinolf Wewel vom Alber-Verlag. Deutsches Literaturarchiv Marbach a. Neckar (DLA) Nachlass A: Koselleck, Konvolut Unterlagen u. Korrespondenzen zu Kritik und Krise.
[3] G. Maschke, „Der Intellektuelle als Agent des Bürgerkriegs. Zur Neuausgabe von Reinhard Kosellecks Studie ‚Kritik und Krise‘“, in FAZ, 16.4.1974, S. 17.
[4] Einleitung I. Fetscher, Hobbes, Thomas, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen Staates, Neuwied, Luchterhand, 1966, XLVII.
[5] Skript der Radiosendung „Die Entstehung der Moderne“ von Michael Stürmer, Hessischer Rundfunk, ausgestrahlt am 22.7.1974. In DLA, A: Koselleck, Unterlagen u. Korrespondenz zum Buch „KuK“ im Suhrkamp Verlag 1973–1988, Zugangsnummer: HS.2008.0095.
[6] Vgl. hierzu Nicolas Berg: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Mit einem Vorwort von Dan Diner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008.
[7] Zur Rolle der Stiftung vgl. das Forschungsprojekt Die Carl Friedrich von Siemens Stiftung 1958-1985: Wissenschaft, konservative Bürgerlichkeit und rechte Netzwerke am Institut für Zeitgeschichte München.
[8] Vgl. hierzu Sidonie Kellerer: ›Rechte Metapolitik‹, in: Philosophie Magazin, 8. Februar 2024.
[9] Koselleck, Reinhart, Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953-1983, 2019, 38.
[10] Weissmann, Karlheinz, Armin Mohler: eine politische Biographie, Schnellroda, Edition Antaios, 2011, 33.
[11] „Der Nationalsozialismus wäre schön als barbarisches Prinzip – aber er sollte nicht so bürgerlich sein“. Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus“, Vortrag vom 12.01.2023, gehalten an der Universität Frankfurt Viadrina. Ausgestrahlt vom Deutschlandfunk Nova.
[12] Weissmann, Karl-Heinz, Kritik und Krise, in: Staatspolitisches Handbuch, Erik Lehnert und Karlheinz Weißmann (Hg.), Bd.2: Schlüsselwerke, Schnellroda, Antaios, S. 138–139.