Anlässlich des 80. Geburtstages von Franz Kafka hatte vom 27. bis 29. Mai 1963 im barocken Schloss von Liblice die inzwischen legendäre Kafka-Konferenz unter der Federführung von Eduard Goldstücker und seiner Prager Germanistenkollegen stattgefunden. Ein Jahr danach, im Sommer 1964 berichtete der Budapester Korrespondent der Associated Press über die kulturpolitische Situation in den osteuropäischen Ländern. Unter dem Titel „Wer wird sich schon vor Kafka fürchten?“ diagnostizierte der Autor ein „kulturpolitisches Tauwetter“, das insbesondere in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen zu spüren sei: „Der Reisende, der in diesem Sommer die Staaten Osteuropas besucht, wird – wenn er Vergleiche zu früheren Reisen anstellt – einen bemerkenswerten Wandel auch in der Kulturpolitik dieser Länder feststellen können. Zwar wäre es verfrüht, von einer völligen Liberalisierung zu sprechen, aber die Diskussion über die Möglichkeiten einer freieren Entfaltung der Kultur ist überall im Gange, der Ruf nach einem mehr an Freiheit ist überall zu hören und kann nicht mehr wie früher, zu Zeiten Stalins, mit administrativen Maßnahmen zum Verstummen gebracht werden.“[1]
Die Frage „Wer hat Angst vor Franz Kafka?“ – unter diesem Titel wurde Edward Albees Theaterstück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ seinerzeit zusammen mit einer ganzen Reihe anderer westlicher Theaterstücke in Prag aufgeführt – wurde zu einem geflügelten Wort und markierte eine kulturpolitische Scheidelinie zwischen Dogmatikern und Liberalen auf dem Feld von Literatur und Kunst. Überhaupt entwickelte der kulturpolitische Aufbruch in der Tschechoslowakei sehr schnell eigene Sprachmuster und Symbole, die zu einer Art Metasprache nicht nur der kulturellen Reformbewegung wurden und auch in den anderen osteuropäischen Ländern von Befürwortern als auch Gegnern sehr gut verstanden wurden. Die Konferenz selbst hatte solche Symbole geliefert: Die KonferenzteilnehmerInnen, die zunächst nach Prag anreisten, wurden von den Veranstaltern für den Abend dazu eingeladen, den „Prager Frühling“ zu besuchen, ein jährliches Festival klassischer Musik, dessen Name in jener Zeit gerade erst begann zu dem zu werden, was er später wurde, zu einem Schlüsselbegriff für den tschechoslowakischen Versuch eines reformierten Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Eduard Goldstücker redete auf der Tagung über Franz Kafka aus der „Prager Perspektive“, womit er keineswegs die Bescheidenheit eines eingeschränkten Blickwinkels signalisierte, sondern das Selbstbewusstsein und eine neue Sicht der Dinge, die nach mehr als nur nach lokaler Geltungsmacht strebte. Noch so manches sollte in den nächsten Jahren aus der Prager Perspektive und damit ganz anders gesehen werden.
Symbolträchtig war auch der Ort, an dem die Tagung über Kafka stattfand. Die VeranstalterInnen hatten, nicht ohne Hintersinn, jenes von der Tschechoslowakischen Akademie als „Haus der wissenschaftlichen Mitarbeiter“ genutzte Objekt in Liblice gewählt. Die knapp einhundert tschechoslowakischen GermanistInnen, LiteraturwissenschaftlerInnen und PhilosophInnen und ihre internationalen Gäste, darunter Ernst Fischer, Roger Garaudy und Anna Seghers, versammelten sich im Kuppelsaal eines barocken Schlosses, das Anfang des 17. Jahrhunderts erbaut worden war und seit 1952 von der Akademie genutzt wurde. Auch dies eine Geste, die zeigen sollte, wie ernst es den Veranstaltern mit der Absicht war, dem bislang verfemten Autor erneut ein „Dauervisum“ zu erteilen.[2]
Kafka als Symbol der kulturpolitischen Liberalisierung
Warum gerade der Autor von „Das Schloss“ und „Der Prozess“ in den Mittelpunkt der Debatten über einen angstfreien Umgang mit der künstlerischen und literarischen Moderne rückte und zum Symbol kulturpolitischer Liberalisierung wurde, ist erklärungsbedürftig und keineswegs nur dem Zufall geschuldet. In der Tat eignet sich die Kafka-Rezeption gut als Indikator für die Reichweite und die Grenzen der kulturpolitischen Liberalisierungsversuche in den einzelnen Ländern des Staatssozialismus. Ganz in diesem Sinne konstatierten Eduard Goldstücker und Klaus Wagenbach in einem 1965 geführten Gespräch über die Konferenz in Liblice eine unterschiedliche Dynamik der kulturpolitischen Veränderungen in den Ostblockstaaten gemessen am Umgang mit den Werken Kafkas.[3] Während in Polen bereits seit 1957/58 regelmäßig Werke von Kafka erschienen, erfolgte in der Tschechoslowakei von einigen kleineren Veröffentlichungen abgesehen, der eigentliche Durchbruch erst mit der Konferenz in Liblice. In der Sowjetunion erschienen ab 1964 neben zwei eher reservierten literaturwissenschaftlichen Aufsätzen von Dmitri Satonski[4] und Jewgenija Knipowitsch[5] die ersten Texte Kafkas in russischer Übersetzung. In der DDR hatte sich die Literaturwissenschaft vergleichsweise früh mit den 1957 erschienenen ersten Aufsätzen von Klaus Hermsdorf und Paul Reimann des Autors angenommen. Später folgten die Monographien von Klaus Hermsdorf und Helmut Richter sowie ein Aufsatz von Ernst Fischer in der Literaturzeitschrift Sinn und Form. Allerdings – und das ist durchaus symptomatisch – blieb dies eine Rezeption ohne die eigentlichen Texte Kafkas und ohne eine größere Öffentlichkeit. Die Beiträge der DDR-TeilnehmerInnen und die Reaktionen der SED-Führung auf die Konferenz in Liblice sind ein eigenes Kapitel. Die Entwicklung in Ungarn verlief ähnlich der in der Tschechoslowakei. Auch hier löste die Konferenz eine Debatte um Kafka aus und bereitete der Veröffentlichung seiner Werke den Weg. Bulgarien und Rumänien blieben weitestgehend unberührt von dieser Entwicklung.
Kulturpolitische Vorboten des Prager Frühlings
Die Wirkungsgeschichte der Konferenz, verfolgt man all ihre Spuren, ist ein Phänomen für sich. Mit Blick auf die Reformprozesse in den osteuropäischen Ländern ist nicht nur von Interesse, dass Liblice und die sich daran anschließenden Debatten maßgeblich mit dazu beitrugen, dass sich in der tschechoslowakischen Gesellschaft eine Atmosphäre der Veränderungsbereitschaft weit über die Literatur und Kulturpolitik hinaus durchsetzte, die auch auf die benachbarten Länder ausstrahlte. Der Autorin Lenka Reinerová ist zuzustimmen, wenn sie feststellt, dass die Konferenz „doch irgendwie der Anfang der Reformbewegung war, die ganzen 60er Jahre, nicht nur das Jahr 68, denn vor dem Jahr 68 und den Ereignissen in diesem Jahr mußte ja etwas passieren“.[6] Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen für den Versuch einer historiographischen Verortung der Konferenz in der tschechoslowakischen beziehungsweise osteuropäischen Geschichte der 1960er Jahre. Der Prager Frühling erhält aus dieser Perspektive eine länger zurückliegende und differenziertere Vorgeschichte, als dies gemeinhin angenommen wird. Zweitens muss auch die Kafka-Konferenz, die schon kurz nach ihrem Ende in den Rang eines mythischen Ereignisses erhoben wurde, viel stärker im Gesamtzusammenhang der gesellschaftspolitischen Entwicklung in der Tschechoslowakei von den 1950er bis in die späten 1960er Jahre betrachtet werden. In einem solchen Längsschnitt wird schließlich sichtbar, dass auch die Rehabilitierung Kafkas durch eine Reihe von eher leise vonstatten gehenden Veränderungen auf dem Gebiet der Kulturpolitik in den 1950er Jahren ermöglicht wurde.
Eduard Goldstücker – „Der Prozess“ als biografische Erfahrung
Die Biographie des Initiators der Konferenz Eduard Goldstücker spiegelt die Brüche dieser Epoche sehr deutlich. Der Prager Germanist war 1933 in die kommunistische Partei eingetreten und floh vor der deutschen Besatzung nach England. Zurück aus dem Exil erhielt er zunächst den Posten des tschechischen Botschafters in Israel, von dem er nach dem Kurswechsel Stalins in der Nahostpolitik zurückbeordert wurde. Wieder in Prag geriet Goldstücker in die Mühlen der Kampagne gegen die angeblichen Verschwörer um Rudolf Slanský, deren antisemitische Töne nicht zu überhören waren. Ende 1951 wurde Goldstücker ohne die Angabe von Gründen verhaftet und in Isolationshaft gehalten. Im Slanský-Prozess musste er als „Zeuge“ aussagen, um dann 1953 selbst verurteilt zu werden. Es folgten Haft und Strafarbeit im Uranbergbau. Im Jahr 1955 wurde Goldstücker entlassen und rehabilitiert. Seither setzte sich der Literaturwissenschaftler besonders für die Prager deutsche Literatur und die Anerkennung der künstlerischen Moderne ein. Nach Liblice wurde er zu einem der entscheidenden Wegbereiter des Prager Frühlings auf dem Gebiet von Literatur und Kunst.
Die eigenen Erfahrungen mit der Irrationalität der stalinistischen Verfolgungspraxis sind wohl eine der Erklärungen dafür, warum diese Generation kommunistischer Intellektueller eine besondere Affinität zu dem Dichter Franz Kafka entwickelte. Schien es doch, als ob der Autor von „Der Prozeß“ in geradezu visionärer Weise die Absurditäten stalinistischer Herrschaftspraxis und bürokratischer Herrschaft, denen das isolierte und vereinsamte Individuum wehrlos ausgesetzt war, vorhergesehen und in seinen Erzählungen beschrieben hatte. Jene Geschichte des Josef K., der offenbar verleumdet wurde und der eines Morgens „ohne daß er etwas Böses getan hätte“,[7] verhaftet wurde, war für Goldstücker und andere mehr als nur ein Text, dem man literaturwissenschaftliches oder philosophisches Interesse entgegenbrachte. Es war die Schilderung ihrer eigenen Albträume und eines politischen Systems, das sich zum Gegenteil seiner ursprünglichen Intentionen entwickelt hatte. Hinzu kommt sicher auch, dass sich sowohl Goldstücker als auch Paul Reimann, der den Weg für die Konferenz kulturpolitisch ebnete – im Zusammenhang mit dem Slanský-Prozess war auch Reimann seiner politischen Ämter enthoben worden und wurde ähnlich wie Goldstücker zur Aussage im Prozess gezwungen –, mit der Heimholung Kafkas ein Stück weit selber rehabilitieren wollten. Beide waren ja nicht nur Opfer des stalinistischen Systems, sondern hatten es auch mitgetragen.
Warum gerade Kafka?
Deshalb war es eben Kafka und nicht James Joyce oder Marcel Proust, der zum Namensgeber für den Kampf gegen einen dogmatischen Realismus und gegen die Stigmatisierung der künstlerischen und literarischen Moderne als Dekadenz wurde. Auch die Referate auf der Konferenz in Liblice thematisierten diese Ebene, indem sie immer wieder die Frage nach der Aktualität Kafkas aufgriffen. Am weitesten in diese Richtung ging der Beitrag Jiři Hájeks mit dem programmatischen Titel „Kafka und wir“, der den dichterischen Symbolen Kafkas eine „immer universalere Gültigkeit“ zusprach: „Kafka bedeutet nicht nur die Zeit der alten österreichisch-ungarischen Monarchie, in der der Mensch zum Spielball der unpersönlichen, unmenschlichen Macht einer bürokratischen Maschinerie wurde. Kafka bedeutet auch unsere eigenen Erfahrungen aus dem zweiten Weltkrieg. Kafka bedeutet heute für uns auch die absurde, spukhafte Vision des mörderischen Nazisystems, das wir als historische Wirklichkeit miterlebten. Kafka bedeutet gleichzeitig auch das Bild der Nachkriegssituation der kapitalistischen Welt, die durch ihre ganze Struktur nicht imstande ist, den Menschen aus der Macht jener Kräfte zu befreien, die ihn sich selbst entfremden, ihn der Möglichkeit berauben, Herr seines Schicksals zu sein und ihn der existentiellen Angst, der Unsicherheit und Beklemmung aussetzen. Auch wenn wir lange Zeit hindurch nicht den Mut hatten einzugestehen, daß auch die sozialistische Gesellschaft nicht auf irgendeinem ganz anderen, ersonnenen Planeten als dem, auf dem die Menschheit bisher lebte, entstanden ist – Kafka schildert in manchem auch noch uns selbst, die wir in einer Welt leben, die die größte Umwälzung der modernen Geschichte verwirklicht hat: Die Beseitigung der materiellen Abhängigkeit des Menschen von der Macht des Besitzes und der Dinge. Kafka, dieser Dichter einer für uns sonst schon unendlich weit entfernten Welt, der unter ganz anderen gesellschaftlich-ökonomischen und ethischen Voraussetzungen aufwuchs, richtet über alles, was der Personenkult in unserem Gesellschaftssystem verschuldete, was von seinen Folgen noch unter uns und in uns geblieben ist und in krassestem Widerspruch mit dem befreienden humanistischen Sinn des Sozialismus steht. Er warnt uns vor allen bisher nicht beseitigten Deformationen der sozialistischen gesellschaftlichen Beziehungen, die das Schicksal des Menschen noch irgendwelchen mystischen, durch Verstand oder menschliche Erkenntnis unbeherrschbaren Kräften ausliefern.“[8] Passagen wie diese zeigen, dass die Tagung, die sich laut Einladungsschreiben noch eine „ideologische Hauptaufgabe“ gestellt hatte, schon sehr bald das Feld rein literaturwissenschaftlicher Erörterungen zugunsten einer Debatte über eine dringend anstehende Reform des Sozialismus und seiner bisherigen kulturpolitischen Axiome verließ.
Der geschilderte Mechanismus, bei dem etwa Fragen des Umgangs mit den Autoren der literarischen Moderne, die den von den sozialistischen Literaturpäpsten so gehuldigten Pfad des klassischen Realismus gründlich verlassen hatten, philosophisch und politisch aufgeladen wurden, kann das Geheimnis der erstaunlichen Wirkungsgeschichte der Kafka-Konferenz von 1963 erhellen. Der Autor Kafka wurde hierbei zu einer Art Symbol und Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Probleme, Intentionen und Interessen. Am schärfsten hat dies ein westlicher Beobachter der Szenerie, nämlich Fritz J. Raddatz knapp ein Jahr nach Liblice gesehen: Die in der Sowjetunion, in allen Volksdemokratien und in der DDR erbittert und ausführlich geführte Diskussion um das in Osteuropa umgehende „Gespenst des tschechischen Schriftstellers deutscher Zunge“ gehe „nur scheinbar um Kafka“.[9] Der Name des Schriftstellers sei „nur Code“, es ginge um mehr. Die „Chiffre Kafka“ stehe für „geistigen Aufbruch, für Ende der Atemnot und Durchbrechen der Grenzen, mit denen die Literatur des Ostblocks eingegittert war“.[10]
Eine Literaturkonferenz wird zum Politikum
Wie weit die Konferenz in Liblice in ihren Konsequenzen schließlich reichen würde, war offenbar vielen TeilnehmerInnen bei ihrer Anreise noch gar nicht bewusst. Anna Seghers, für die Kafka als ein Bezugspunkt ihrer literarischen Arbeit unverzichtbar war – sie blieb übrigens nur einen Tag auf der Konferenz und hielt selbst keinen Redebeitrag –, schien zumindest bei der Ankunft in Liblice und der Vorstellung der TeilnehmerInnen zu ahnen, wohin die Reise geht. Lenka Reinerová hat in ihren Erinnerungen an 1963 eindrucksvoll geschildert, dass die Seghers bei dieser Konferenz „ziemlich unruhig“ gewesen sei: „Sie war, glaube ich, auch ein bisschen überrascht oder überrumpelt über verschiedene Persönlichkeiten, die da waren und manche hatte sie erwartet, manche hatte sie nicht erwartet. Wir sind zusammen hingekommen; der erste der ihr um den Hals fiel, war Ernst Fischer, danach kam Garaudy, und ich hab gespürt, wie sie ein bisschen nervös wurde. Warum? Sie kam aus der DDR, das heißt sie kam aus einer ganz anderen Atmosphäre als die, die wir 63 schon in den Anfängen in der Tschechoslowakei hatten. Wir haben da schon verschiedenes diskutieren können, über verschiedenes sprechen können, ohne uns einer unmittelbaren ‚Gefahr‘ auszusetzen.“[11] Offenbar hatten auch andere das Gefühl, dass sie zu einer literaturwissenschaftlichen Fachtagung aufgebrochen waren, aber an einem politischen Elementarereignis teilgenommen hatten, das einen kräftigen Wind für die Folgezeit säen sollte.
Reaktionen in der DDR
In der Diskussion zu den Beiträgen der Tagung ergab sich schon sehr bald eine Frontstellung zwischen den teilweise emphatischen Befürwortern Kafkas und seiner Aktualität, die deutlich in der Mehrheit waren, und den aus der DDR angereisten Literaturwissenschaftlern Klaus Hermsdorf, Werner Mittenzwei und Helmut Richter. Mittenzwei mit dem Hinweis auf Brecht und dessen konsequentere Verfremdungstechnik, Hermsdorf mit der Forderung, man müsse Kafka „historisch machen“, und Helmut Richter mit seinen Einwänden gegen die euphorische Ausdeutung des „Schloss“-Romans durch Eduard Goldstücker. Alle drei formulierten Bedenken gegen eine allzu schnelle Vereinnahmung Kafkas und gerieten so in die Rolle einer dogmatischen Ablehnungsfraktion. Irgendwie hatten die ostdeutschen Redner mit ihren Beiträgen die Stimmung auf dieser Feier zur Heimkehr des Prager Dichters verdorben, was dann dazu führte, dass sie in der Konferenzpause – wie dies Werner Mittenzwei in der Rückschau nicht ohne Bitternis formuliert hat – unter sich blieben und ihren Kaffee allein trinken mussten.[12]
Für diese Konstellation dürften mehrere Faktoren ausschlaggebend sein. Sicherlich verhielten sich die DDR-Teilnehmer vorsichtiger und taktischer als ihre ungeschützt und zunehmend politisch freimütiger diskutierenden Kollegen. Zum anderen mögen sie auch zu spät erkannt haben, worum es auf der Konferenz eigentlich ging. Hinzu kommt, dass sich der Eindruck einer ostdeutschen Abwehrhaltung gegen die in Liblice im Namen Kafkas eingeforderte kulturpolitische Liberalisierung in der Rückschau noch verstärken sollte. Spätestens als Alfred Kurella mit einem Grundsatzartikel im „Sonntag“ mit dem Titel „Der Frühling, die Schwalben und Kafka“[13] gegen einen Aufsatz Roger Garaudys in „Les Lettres francaises“ polemisierte, wurde klar, dass der SED-Führung offenbar die ganze Richtung nicht passte. Garaudy hatte in besagtem Aufsatz die Kafka-Konferenz als einen wichtigen Schritt zu einer dringend notwendigen Erneuerung des Marxismus und als ein Ereignis von internationalem Rang gefeiert.[14] Kurellas Lob für „unsere jungen Marxisten“, die auf der Konferenz entschieden „gegen jene, mit dem Geist des Marxismus schwer zu vereinbarenden Tendenzen philosophischer Art“[15] aufgetreten seien, musste zwangsläufig den Eindruck verstärken, dass die DDR-Vertreter ihre Rolle als „preußische Mustermarxisten“ (Fritz J. Raddatz) abgestimmt und im höheren Auftrag gespielt hatten. Aus Sicht der SED-Führung begann mit der Kafka-Konferenz jenes Übel, das schließlich in den Prager Frühling im Jahre 1968 mündete. Wenige Tage nach der sowjetischen Intervention in der Tschechoslowakei stellte der damalige DDR-Kulturminister Klaus Gysi in einer Rede in Weimar noch einmal die politische Gretchenfrage „Welches Erbe ist uns gemäß? Faust oder Gregor Samsa?“ und machte in den Thesen Eduard Goldstückers und Ernst Fischers von 1963 den Beginn aller Konterrevolution aus.[16]
Fazit: Kafka zwischen Literatur und Politik
Die Überlagerung von literaturwissenschaftlichem und reformpolitischem Diskurs in Liblice und die schnelle Polarisierung der Positionen in der nachfolgenden, in verschiedenen Zeitschriften u.a. im österreichischen „Tagebuch“ geführten internationalen Diskussion um Kafka verdeckte aber auch ein gravierendes Dilemma der Konferenz von 1963. Die Verwendung Kafkas als Chiffre für einen modernen Sozialismus jenseits der durch Stalinismus und bürokratischen Herrschaft bewirkten Entfremdung des Individuums hatte ihren Preis – wo viel Licht fällt, ist immer auch ein Schatten. Nicht nur, dass diejenigen, die keine Angst mehr vor Franz Kafka haben wollten, das Werk des Prager Dichters im verzeihbaren Eifer des Gefechts deutlich mit Bedeutung überfrachteten. So mutet etwa Goldstückers in Liblice vorgetragene Interpretation, wonach Kafka in seinem Roman „Das Schloss“ das Problem des Revolutionärs in Gestalt des Landvermessers gestaltet habe, aus der zeitlichen Distanz noch seltsamer an, als dies schon mancher Zeitgenosse empfunden habe möge. Das eigentliche Problem ist jedoch, dass sich Goldstücker, Fischer, Garaudy u.a. bei ihrem Versuch der Ehrenrettung Kafkas und in ihrem Eintreten für eine kulturpolitische Liberalisierung eines Mechanismus bedienten, den sie eigentlich überwinden wollten. Sie forderten eine größere Autonomie der Kunst gegenüber Zensur und Dogmatismus, sie plädierten für einen „Realismus ohne Ufer“ mit einem größeren Maß an ästhetischer Freiheit, taten dies aber, indem sie in einen Autor und seine Werke in einem Maße ihre politischen und philosophischen Vorstellungen hineininterpretierten, das sich von der Form her kaum von der traditionellen Politisierung und Ideologisierung literarischer Texte im parteioffiziellen Diskurs unterschied. Hier hatte der Aufbruch von Liblice seine Grenze, die dann auch die postkommunistische Kritik des Prager Frühlings aufgreifen sollte: Damals hätten einige, „sei es aus Überzeugung, sei es, in dem guten Glauben der Sache zu dienen, oder aus beiden Gründen gleichzeitig über den Schriftsteller Kafka in einer Sprache geredet, von der sie dachten, daß man damit den damaligen Politiker der Ära Novotny erreichen könnte“.[17]
Es ist wohl kein Zufall, dass der literaturwissenschaftliche Ertrag der Tagung in ihrer späteren Rezeption nahezu vollständig ausgeblendet bzw. von nicht wenigen gänzlich in Abrede gestellt wurde. So hätten die auf der Tagung von František Kautman vorgestellten Überlegungen über die Beziehungen Kafkas zur tschechischen Literatur[18] und manch anderer Beitrag durchaus eine größere Resonanz verdient. Auch dies fühlte Anna Seghers eher als andere, wenn sie in der gut besuchten Sitzung der Sektion Dichtung und Sprachpflege der Akademie der Künste am 2. Juli 1963, in der die Teilnehmer aus der DDR über die Konferenz berichteten, anmerkte, dass ihr in Liblice „die Ansicht des ganzen Kafka-Werkes vom Standpunkt des Schriftstellers aus“[19] gefehlt habe. Ähnlich äußerte sich die Autorin wenige Wochen später in einem Brief an Georg Lukács, wo sie von Liblice als einer „Art Kafka-Konferenz“ spricht, auf der „so ruhige und gebildete Menschen in Literatursachen einen Standpunkt beziehen, der gar nicht mehr von ihrem eigenen Aspekt bestimmt wird (Diese Leute sind gegen Kafka, also bin ich für ihn. – Hervorhebungen im Original)“.[20]
Bilanziert man die Kafka-Konferenz mit Blick auf die kulturpolitischen Veränderungen in der Tschechoslowakei der 1960er Jahre, so lässt sich festhalten, dass mit der Tagung eine Teilöffentlichkeit etabliert werden konnte, in der man mit Kafka als Chiffre ausgehend von kultur- und literaturpolitischen Fragen offen über eine Reform des Sozialismus diskutieren konnte. Diese Öffentlichkeit sollte in der Folgezeit über den Kuppelsaal des Schlosses in Liblice hinaus weit in die tschechoslowakische Gesellschaft hineinreichen, auch wenn es sich natürlich um eine akademische Debatte handelte, die weitestgehend unter Intellektuellen geführt wurde. Zumindest bis zur gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings hatte diese Öffentlichkeit Bestand. Darüber hinaus koppelten sich die kritischen Marxisten in der Tschechoslowakei mit der Tagung und der nachfolgenden Debatte wieder an den internationalen marxistischen Diskurs im Westen an. Allerdings blieben in Liblice und in der Reformdiskussion danach die Marxisten auch weitestgehend unter sich. Dies gehört sicherlich auch zu den Grenzen des Unternehmens Kafka-Konferenz. Insgesamt aber kann die Wirkung der Konferenz trotz der genannten politischen Überfrachtung des Dichters Kafka als einer frühen Wegbereiterin des Prager Frühlings von 1968 kaum unterschätzt werden. In diesem Sinne stimmt der Titel jenes Essays von Heinrich Böll, in dem der Schriftsteller seine Erlebnisse in den Tagen des Einmarsches während seines Prag-Besuchs im August 1968 beschrieben hat: „Der Panzer zielt auf Franz Kafka.“[21]
[1] Vgl. Carl E. Buchalla, Wer wird sich schon vor Kafka fürchten? Das kulturelle „Tauwetter“ in den osteuropäischen Staaten, SAPMO-B-Arch, IV 2/906/273.
[2] Ernst Fischer hatte zum Abschluss seines Konferenzbeitrages die sozialistische Welt aufgefordert, das Werk Kafkas aus dem unfreiwilligen Exil zurückzuholen und ihm ein Dauervisum zu erteilen. Vgl. Ernst Fischer , Kafka-Konferenz, in: Franz Kafka aus Prager Sicht, Berlin 1966, S. 168.
[3] Vgl. Eduard Goldstücker/Klaus Wagenbach, Wer hat Angst vor Franz Kafka?, in: Bremer Beiträge 7, 1965, H. 7, S. 70-85.
[4] D. Satonski, Realismus und die „Algebra“ des Schematismus, in: Die Presse der Sowjetunion, Nr. 42, 1964, S. 951-961. Der russische Originaltext war in der Literaturnaja Gazeta vom 18. Februar 1964 erschienen.
[5] E. Knipowitsch, Franz Kafka, in: Aus der internationalen Arbeiterbewegung, H. 7, 1964, S. 26-30. (gekürzte Fassung des in der Zeitschrift „Innostrannaja Literatura“, Heft 1/1964 erschienen russischen Originaltextes)
[6] Vgl. Erinnerung an die Kafka-Konferenz in Liblice. Dokumentation eines Rundtischgesprächs mit Klaus Hermsdorf, Werner Mittenzwei, Lenka Reinerová und Adolf Dresen zur Jahrestagung 1999 in Potsdam, in: Argonautenschiff, Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e.V. 9, 2000, S. 82.
[7] Vgl. Franz Kafka, Der Prozeß, in: ders., Das erzählerische Werk, Berlin (Ost) 1983, Bd. II, S. 283.
[8] Vgl. Jiři Hájek, Kafka und wir, in: Franz Kafka aus Prager Sicht, Berlin 1966, S. 108.
[9] Vgl. Raddatz, Prager Visum für Kafka, in. Süddeutsche Zeitung vom 3.5. 1964.
[10] Ebenda.
[11] Vgl. Erinnerung an die Kafka-Konferenz, S. 83.
[12] Vgl. Erinnerung an die Kafka-Konferenz, S. 99.
[13] Alfred Kurella, Der Frühling, die Schwalben und Franz Kafka, in: Der Sonntag, Nr. 31/1963.
[14] Roger Garaudy, Kafka und der Prager Frühling, in: Les lettres francaises, Nr. 181/1963 v. 11. 7. 1963.
[15] Kurella, Der Frühling, S. 10.
[16] Vgl. Die alte, neue Frage: Wie soll man leben? Aus der Rede des Ministers für Kultur, Klaus Gysi, auf dem Festakt zum 20. Jahrestag der Wiedereröffnung des Deutschen Nationaltheaters Weimar, in: Neues Deutschland v. 30.8. 1968.
[17] Vgl. Vaclav Klaus, Na okraj výroči Franze Kafky (Am Rande des Kafka-Jahrestages), in: Lidové noviny v. 30. 1994. Eduard Goldstücker wehrte sich an gleicher Stelle gegen die Vorwürfe mit einer Entgegnung. Siehe Eduard Goldstücker, Franz Kafka jako politikum (Franz Kafka als Politikum), in: Lidové noviny v. 1.7. 1994.
[18] Siehe František Kautmann, Franz Kafka und die tschechische Literatur, in: Franz Kafka aus Prager Sicht, S. 44-77 (für die deutsche Ausgabe wurde der Beitrag vom Autor gekürzt).
[19] Vgl. Argonautenschiff, S. 104.
[20] Ebenda.
[21] Heinrich Böll, Der Panzer zielt auf Franz Kafka. Heinrich Böll und der Prager Frühling, Köln 2018.