Dick Thomas Johnson, Shibuya Scramble Crossing, Tokyo, Japan, Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.
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Dick Thomas Johnson, Shibuya Scramble Crossing, Tokyo, Japan, Wikimedia CommonsCC BY 2.0.

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Singles

Alleinsein und Alleinleben in Deutschland und Europa nach 1945

Im September 1977 zog der Psychologe, Autor und Medienintellektuelle Tony Lake im Londoner Magazin Singles eine ernüchternde Bi­lanz. Rund eine Dekade nach der viel gerühmten „sexuellen Revolution“ habe die „Einsamkeit“ der wachsenden Zahl der ungebundenen, nach Liebe suchenden Singles im Land den Cha­rakter einer chronischen sozialen „Krankheit“ angenommen, die sich gerade unter den Jüngeren rasend schnell verbreite.[1] In einer mehrteiligen Studie hatte Lake rund 1200 alleinstehende Menschen befragen lassen; dabei zeigte sich rasch, dass die Lebensrealitäten dieser Singles und auch die Gründe, allein zu leben, ausgesprochen verschieden waren. Im Ergebnis aber waren Lakes Aussichten düster: „Loneliness“, so notierte er apodiktisch, „is a killer.“ Die Fernsehdokumentation Lonely Hearts zeichnete noch im selben Jahr ein ganz ähnliches Bild von den Zuständen in der Themsemetropole: Einsame Singles schrieben sich gleich bei mehreren Dating-Agenturen ein, schalteten Anzeigen in den lokalen Zeitungen und rissen sich geradezu um die Angebote sozialer Netzwerke, die menschliche Wärme und bleibende Kontakte im schnelllebigen Großstadtgewusel versprachen. Angesichts zusehends engagierter Debatten um einen möglichen gesellschaftlichen „Wertewandel“[2] waren Klagen über die Pathologien des Single-Daseins in der Folge quer durch Europa vernehmbar.

 

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Ein knappes Jahr später schlug so auch in der Bundesrepublik der Spiegel Alarm. Ein „Spaltpilz“ habe die westdeutsche „Paar-Gesellschaft“ befallen, proklamierte das Magazin im Juni 1978, denn „weder die ‚offene Ehe‘ mit Partnertausch noch das vielgestaltige Experiment mit neuen Wohngemeinschaften“ sei inzwischen annähernd so üblich wie das „Leben allein“. So berichtete Spiegel-Reporter Hermann Schreiber in seiner Titelgeschichte „Du bist du, und ich bin ich“ über das neue Single-Dasein in Deutschland, die Liebe zur Distanz und den Trend zum Alleinleben.[3] Die Reportage zeichnete ein durchaus ambivalentes Bild der Singles – „schwankend [...] zwischen Euphorie und Depression, zwischen dem Glanz der Unabhängigkeit und dem Gespenst der Einsamkeit“. In die Bewunderung der sozialen „Experimentatoren“ mischte sich zugleich wachsende Skepsis ob der antizipierten Kehrseiten der neuen „Freiheit“.[4] Dabei war ein zentraler Hintergrund dieser Skepsis – neben dem antizipierten demographischen Wandel und einem zunehmenden Geburtenrück­gang, der auch im Spiegel zur Sprache kam – vor allem der Anstieg der Scheidungsraten, der in den USA und in Europa (und so auch in beiden Teilen Deutschlands) die Institution der Ehe zwischen der Mitte der 1960er Jahre und dem Ende der 1970er Jahre ins Wanken zu bringen schien. Obendrein erhitzte die Zunahme so genannter „wilder Ehen“ die Gemüter.[5] Derweil nahmen Modelle des Allein- oder auch des getrennten Zusammenlebens zu und so stieg der Anteil der Einpersonenhaushalte in der Bundesrepublik, wie eine Graphik im Magazin verkündete, von 18,5% im Jahr 1957 auf rund 30% im Jahr 1977.

 

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„Du bist du, und ich bin ich“, in: Der Spiegel, Nr. 25: „Alleinleben. Die neue Freiheit“, 18.06.1978, S. 62-78.

Das Beziehungsleben war erkennbar in Bewegung geraten – und so sang auch der Liedermacher Mario Hené in seinem Debütalbum Lieber allein, als gemeinsam einsam (1977) über den Auszug der Singles aus dem Reservat der Ehe und neue, höhere Ideale des Paarlebens.

„Einsamkeit ist der Preis meiner Freiheit, ich möcht' sie trotzdem nicht verliern. Lieber allein als gemeinsam einsam vor Zufriedenheit zu friern“.

Mario Hené (1977)

 

„First Person Singular“. Der „Single-Boom“ als Zeitdiagnose

Der Siegeszug der Singles avancierte, wie eine Vielzahl von Presse-, Radio- und Fernsehbeiträgen, aber auch populären Sachbüchern und Ratgebern[6] bezeugte, ausgangs der 1970er Jahre zu einem schillernden Medienphänomen in[7] und über die Grenzen Europas[8] hinaus.

 

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„Ich bin solo.“ Der Single-Boom in Ratgebern und Sachbüchern (1975-1990).

So zeitigte der vom Spiegel diagnostizierte „Single-Boom“ vielerorts ein starkes Echo.[9] Allerdings war die Gruppe der Singles, von der auch die Presse berichtete, bei näherem Hinsehen ausgesprochen heterogen. Sie reichte von unverheirateten Junggesell:innen unter 40 Jahren über geschiedene, alleinerziehende Mütter und Väter bis hin zu älteren, verwitweten Menschen. In einem weiten Verständnis bezeichnete der „Single“ die wachsende Zahl der Alleinlebenden, im engeren Sinne war er partnerlos. So galten Singles in den 1970er und 1980er Jahren zwar rasch als „‚Speerspitze‘ der Individualisierung“ (Ulrich Beck).[10] Doch blieb das Singledasein als „freiwillig gewählte, auf Dauer angelegte Lebensform“ eine Randerscheinung. Hinzu kam, dass die meisten „Partnerlosen“ auch in Deutschland „unfreiwillig partnerlos“[11] waren und Beziehungen ein zentraler Aspekt des Lebens blieben. Dass diese Diagnose über die europäischen Grenzen hinaus gelten kann, legen einschlägige Arbeiten zu den USA nahe, die sich der Dating-Kultur in den Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts widmen.[12] Die Analyse gemeinsamer und abweichender Dynamiken in Deutschland und Europa mag, vor der Folie US-amerikanischer Entwicklungen, dazu beitragen, die linearen historiographischen und sozialwissenschaftlichen Entwicklungsnarrative von der „Liberalisierung“ und „Individualisierung“ moderner Gesellschaften neu zu beleuchten, und zugleich die Ambivalenzen und Ungleichzeitigkeiten der skizzierten historischen Entwicklungsprozesse hervorzuheben. Doch überraschenderweise wissen wir – in historischer Perspektive – bislang wenig über das Alltags- und Intimleben von Singles in Deutschland und Europa nach 1945 in Diskurs und Praxis.

 

„Hagestolz“ und „alte Jungfer“: neue, alte mediale (Vor-)Bilder

Der Blick in die Forschung zeigt, dass die bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts wirkmächtigen Ideale der Ehe und der (Kern-)Familie auch die deutsche und europäische Geschichtsschreibung über viele Jahre dominierten. So blieben Paarbeziehungen, die von der Norm abwichen, ebenso lange unberücksichtigt, wie Formen und Phasen des Alleinseins und Alleinlebens. Nahezu gänzlich wurde bislang die Rolle der wachsenden Gruppe der „Singles“ übersehen. Auch wurden „Intimität“ und „Sexualität“ bis dato vor allem im Zusammenhang von Paarbeziehungen diskutiert, sexuelle Isolation oder gar Devianz demgegenüber kaum besprochen. Indem Paarbeziehungen allerdings als Norm und Single-Sein als „Ausbruch“ verstanden wurden, geriet aus dem Blick, dass letzteres in vielen Fällen eine transitorische Phase des individuellen Lebensverlaufs blieb.

Freilich war das Junggesellenleben, das Pierre Bourdieu in seinen Studien zu den Krisen der Ehelosen im ländlichen Raum unter dem Titel Junggesellenball porträtierte,[13] keine neue, exklusive Erscheinung des 20. Jahrhunderts.[14] Schon in den popkulturellen Verarbeitungen des Single-Daseins – als zurückgezogene Sonderlinge und „Stadtneurotiker“ – spiegeln sich überkommene Klischees von „ewigen“ Junggesell:innen als „Hagestolzen“ und „alten Jungfern“ wider, die als Figurationen des Normbruchs der Ehelosigkeit bis in die Vormoderne zurückreichen und deren stereotypes Nachleben, in Bilddarstellungen und Volksliedern, Anlass zu weiteren Forschungen bieten mag.[15] Auch die „einsamen“ Singles sind dabei kein modernes Phänomen. Vielmehr erwies sich Einsamkeit, so Katie Barclay kürzlich in ihrem Kompendium Loneliness in World History im Anschluss an anthropologische Arbeiten, als universell gültige Emotion, die zugleich stets ein soziales Ereignis markierte: das Verarbeiten der Diskrepanz zwischen gewünschter und tatsächlicher sozialer Verbundenheit, einer Trennung von Dingen, Orten, oder vertrauten Umständen.[16] Indes verschoben sich immer wieder die diskursiven Rahmungen des Single-Daseins zwischen „Freiheit“ und „Einsamkeit“. So setzten die Medien in den 1960er und 70er Jahren die Singles neu in Szene, indem sie diese – in weithin geschlechterstereotypen Zuschreibungen – wahlweise als Playboys und Bachelors à la James Bond oder auch als abenteuerlustige, derweil als „promiskuitiv“ verschriene Single Girls[17] zeigten und so die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die „Aufbrüche“ im Bereich des Liebes- und Beziehungslebens verarbeiteten.

Dass Singles nun zusehends im Fokus der Medien standen, lag auch daran, dass ihre Zahl nach 1945 stark angewachsen war. In den USA lebten um 1960 ein Drittel der Frauen und ein Viertel der Männer ohne Partner/in.[18] Auch im Nachkriegseuropa hatte die Zahl der Alleinstehenden stark zugenommen. Das schlug sich etwa in der Gründung zahlreicher „Lonely Hearts Clubs“ nieder. Denn wer im „Golden Age of Marriage“ ledig blieb, stand, wie eine Studie rückblickend konstatierte, „gesellschaftlich und individuell im Abseits“.[19] Die Gruppe der „Unverheirateten“ charakterisierte so auch der Psychoanalytiker Erich Stern 1957 in der Bundesrepublik vor allem als defizitäre Wesen, die die Kulturdiagnose der modernen „Einsamkeit“ und „Sinnsuche“ in der „Massengesellschaft“ verkörperten. Die Wurzeln des Phänomens, das in den 1950er Jahren gerne auch als Sinnbild des nordamerikanischen way of life gelesen wurde, lagen dabei, wie es schien, bereits in den sozialen Veränderungen des 19. Jahrhunderts – der Industrialisierung, der Urbanisierung und einem wachsenden Individualismus.[20]

 

Das „Maß“ der Einsamkeit

In den 1960er und 70er Jahren begann die Forschung, Einsamkeiten zu vermessen. Die an der University of California, Los Angeles entwickelte Einsamkeitsskala, die erstmals 1978 unter dem Titel der UCLA Loneliness Scale erschien und in der Folge verschiedene revidierte Fassungen erlebte, avancierte hier zu einem der wichtigsten Messinstrumente. Zu den zwanzig Aussagen, die die knapp 240 Studierenden der ersten Studie bewerteten, gehörten Statements wie „I am unhappy to do so many things alone.“, „I have nobody to talk to.“, „I feel as if nobody understands me.“, „It is difficult for me to make friends.“ oder „People are around me but not with me.“[21] Im Gegensatz zur medial diagnostizierten „Einsamkeitsepidemie“, wie sie schon 1983 Jane E. Brody in der New York Times beschrieb, legen Metaanalysen, die die Daten der UCLA von den 1970er bis in die 2020er Jahre nutzen, nahe, dass „Einsamkeit“ zwar eine wachsende gesellschaftliche Sorge dar­stellte, der Anstieg der Ängste vor sozialer Isolation über die Jahre allerdings eher gering ausgefallen war[22] – und sich so vor allem während der Corona-Pandemie als massiv erwies.

 

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Einsame Singles. Reportagen über das Single-Dasein.

Das Erleben des „Single-Status“ war, wie ein Stern-Artikel 1985 bezeugte, sehr verschieden.[23] Neben denen, die unglücklich allein blieben, über „Einsamkeit“ klagten, und die Schuld daran dem anderen Geschlecht, dem Zeitgeist, oder auch mangelnden Opportunitäten zuschrieben, gab es auch die glücklichen Singles, die das Lebensmodell als neue „Freiheit“ priesen. Diese Gruppe der überzeugten Singles, die, wie es hieß, in aller Regel zwischen 25 und 55 Jahren, aus eigenem Antrieb, wenigstens vorübergehend, im Single-Dasein ein neues Lebensmodell sahen, machte indes nur einen kleinen Teil der heterogenen Gruppe der Alleinlebenden aus – nach zeitgenössischen Schätzungen waren es zwischen 3% und 5% der Bevölkerung.[24] Im medialen Hype um die neuen Singles ging so das Schicksal vieler, gerade älterer Alleinlebender unter.[25] Zugleich schiene auch eine besondere Betrachtung queerer Communities geboten.[26] Voreilige Schlüsse über die Existenz der Alleinlebenden als „lonely losers“ oder „swinging singles“ lassen sich aus der Lektüre einschlägiger sozialwissenschaftlicher Untersuchungen demnach nur schwerlich ziehen. Wenngleich empirische Studien von Beginn an das Motiv der Vereinsamung hervorhoben und Alleinlebende bis heute, auch in Deutschland, als „überdurchschnittlich häufig einsam“ gelten,[27] gestaltete sich das Single-Dasein, abhängig von Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen, realiter sehr unterschiedlich. Auch deshalb wäre die Frage nach einer spezifischen Jugend- und Singles-Kultur zu diskutieren, die sich in Diskurs und Praxis abbildete, da das Single-Dasein doch in doppelter Weise ein Phänomen der visuellen Kultur war: Denn einerseits prägte die illustrierte Presse ebenso wie das Fernsehen die Rollenbilder und Klischees der (un)glücklichen Singles, und andererseits avancierte gerade die visuelle Inszenierung des „single lifestyles“ zu einem Signum des neuen Alltagserlebens. In den 1990er Jahren und Nuller-Jahren, als neue Dating- und Reality TV-Formate entstanden, wurde die „Single-Gesellschaft“[28] zur Parole der Stunde, und die ebenso hedonistische wie exhibitionistische Dimension der Individualisierung medienwirksam als „Tanz ums goldene Selbst“[29] beschrieben. Neben den wissenschaftlichen Gegenwartsdiagnosen dieser Jahre, die zu einer historischen Einordnung und Neuauswertung einladen, müssen allerdings auch die biographischen Selbstdeutungen und Praktiken des Single-Daseins ebenso wie deren soziale und ökonomische Rahmenbedingungen sowie die politischen, rechtlichen und kulturellen Normen, die die Akzeptanz und Ausgestaltung des Alleinlebens prägten, zur Sprache kommen.

 

Singles in Bundesrepublik und DDR

Exemplarisch mag dies ein Blick in die deutsche Geschichte veranschaulichen. Wer zur Gruppe der Singles zählte, unterlag, auch in beiden deutschen Staaten, kontinuierlicher Aushandlung. So war bereits der rechtliche und gesellschaftliche Status von Junggesellen, Geschiedenen, Alleinerziehenden und Witwe(r)n verschie­den. Überdies wichen die politischen und sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen des Alleinlebens in Demokratie und Staatssozialismus voneinander ab. In der Bundesrepublik zeichnete die Presse in enger Anlehnung an den britischen und amerikanischen Diskurs vor allem das Bild des modernen, unabhängigen und sexuell aktiven „Singles“, wobei das Ideal der (Kern-)Familie bis in die 1990er Jahre durchaus wirkmächtig blieb. Auch in der DDR berichtete man über die neuen „Junggesellen“. Zugleich versuchte die SED-Führung aber über staatliche „Singlebörsen“ – Klubs für „Alleinstehende“ wie den „Solo-Klub“ in Karl-Marx-Stadt, oder den „Klub der Unverheirateten“ in Berlin und eine konzertierte Medien- und Kulturpolitik in die Sozialbeziehungen „hineinzuregieren“. Die Normalisierung des Modells der „Paarbeziehung“ mag auch daran ermessen werden, dass in der DDR die Singlebörsen aus Ehe-, Familien- und Sexualberatungsstellen hervorgegangen waren.[30] Welche Rolle der Fall der Mauer im Prozess der Anverwandlung deutsch-deutscher Lebensmodelle und Beziehungskonzepte spielte, wäre noch genauer zu untersuchen.

 

Einsamkeit als „soziale Krise“ – im Zeichen des Medienwandels

Die Geschichte der Singles bezeugte des Weiteren das komplexe Zusammenwirken von Medien- und Gesellschaftswandel. Zu den bemerkenswerten Kennzeichen moderner Mediengesellschaften gehören dabei bis heute die grundlegend verschiedenen Zuschreibungen der sozialen Wirkungen zunehmend verbreiteter Kommunikationstechnologien. Von der grassierenden „Zeitungssucht“ der Jahrhundertwende über die „Telefonitis“ der 1970er Jahre bis hin zu den Gegenwartsdebatten um den Rückzug in Echokammern und die „digitale Einsamkeit“ in Zeiten von Social Media: das Paradox, dass moderne Medien sowohl die Anbahnung von Kommunikation und Kontakten erleichtern als auch die soziale Isolation verstärken können, prägte weite Teile des langen 20. Jahrhunderts.[31]

 

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Einsam vor den Apparaten? In den 1970er Jahren schaltete die Werbeagentur Lintas, im Auftrag der Deutschen Bundespost, eine Kampagne, um das „Telefonbewusstsein“ zu heben und den Fernsprechverkehr auszubauen.

Nach ersten Feldversuchen im New York des späten 19. Jahrhunderts, begannen 1953 in London und drei Jahre später in Berlin-Charlottenburg – aus privater, christlich motivierter Initiative – die ersten Notdienste der Telefonseelsorge.[32] Neben dem schreibenden Austausch sollte die Seelsorge all denen 24/7 ein „offenes Ohr“ anbieten, die niemanden zum Sprechen hatten. Die Sorge um Depressive und „Lebensmüde“ stand an erster Stelle, wobei gerade Alleinlebende zu den Kund:innen der Krisendienste zählten. In den 1990er Jahren verlagerte sich die Seelsorge dann ins Netz.[33]

 

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Einsamkeitsepidemie? Gegenwartsdiagnosen (2020-2025)

Gegenwärtig erleben wir eine neue Renaissance der Rede vom „Zeitalter der Einsamkeit“. Als Sinnbild der Veränderung gelten heute Kulturphänomene wie Phubbing, also die Tendenz, persönliche Gespräche durch parallele Chats und private Sessions am Smartphone zu unterbrechen. Schon vor rund zehn Jahren appellierte der britische Filmemacher Gary Turk an die „head-down generation“ deshalb in einem You-Tube-Video unter dem Titel „Look Up“, sich wieder analog zu verabreden: Sein Geständnis – „Ich habe 422 Freunde. Trotzdem bin ich einsam.“ – sollte seine Follower dazu bewegen, den Blick vom Display zu lösen und wieder stärker auf das Leben zu richten. Die Klage, dass wir einsam vor den Apparaten sitzen, wirkte indes bis heute nach.

 

Zwischen Vernetzung und Vereinzelung: die „digitale Gesellschaft“ und ihre Singularitäten

In den aktuellen Dynamiken der Netzkommunikation erkennen wir die Ambivalenzen einer digitalen Gesellschaft, die das Single-Dasein in glänzenden Social Media-Posts inszeniert, neue „Singularitätsmärkte“[34] erschließt, zugleich in Foren und Chats aber auch immer wieder den Abgründen der Vereinzelung Ausdruck verleiht, etwa der Isolation der so genannten „Incels“ (involuntary celibates) und ihrer sich Bahn brechenden Aggression gegenüber dem anderen Geschlecht, wie kürzlich in der preisgekrönten Netflix-Produktion Adolescence zu sehen. Während eine wachsende Zahl an Beiträgen in Popkultur, Feuilleton und Forschung die dunklen Seiten dieses gesellschaftlichen Wandels auszuleuchten beginnt, sehen viele in den neuen Technologien, von ungebrochenem Optimismus beseelt, eher die Lösung als die Ursache der Krise: „Smartpets“ und soziale Roboter, KI-Chatbots zur psychologischen Beratung in Lebenskrisen und vor allem neue Wege des Kennenlernens im Zeichen von Tinder & Co. rücken so als Perspektiven einsamer Herzen in den Fokus. Allen voran die Geschichte des Datings – von der Zeitungsannonce bis zur digitalen App – mag hier das Zusammenspiel von digitalem und sozialem Wandel illustrieren.[35] Nach einer aktuellen Studie haben 53% aller Internetnutzer in Deutschland bereits einmal Online-Dating-Dienste in Anspruch genommen; inzwischen lernen sich Paare seltener am Arbeitsplatz, in der Schule oder im Freundeskreis als im Netz oder über einschlägige Apps kennen; das digitale Dating ist ein globales Milliardenbusiness geworden[36] – und so lesen wir, einmal mehr, vom Ende der Romantik und einer neuen „Ökonomie der Einsamkeit“ im digitalen Zeitalter. Dabei wurden die Alleinlebenden schon in den 1970er Jahren als neue Ziel- und Konsumentengruppe von Anbietern der Konsumgüter- und Dienstleistungsbranche, etwa von Dating-, aber auch Reiseagenturen, entdeckt, die nun neue Single-Reisen zu vermarkten begannen. Erste Singles-Magazine erschienen[37] und die Immobilienbranche bewarb günstige Einzimmerapartments – in einer Phase, in der sich Lebensmodelle und Liebeskonzepte pluralisierten und zugleich neue Formen der Vergemeinschaftung in Wohngemeinschaften und Kollektiven an Zuspruch gewannen – als innovatives urbanes Wohnkonzept.[38] Das Alleinleben erschien so als „neuer“ Lebensstil und konsumierbares Ideal, und die Inszenierung des Single-Daseins wie die „Erfindung“ der Sozialfigur des Singles zusehends als Ausdruck kapitalistischer Logik. Passenderweise ist der Singles’ Day, der, ursprünglich aus China stammend, symbolisch am 11.11. begangen wird, heute vor allem ein Onlineshopping-Tag.

 

„Single-Gesellschaften“ und „Einsamkeitsepidemien“

Vereinzeln wir, angesichts all dieser Entwicklungen, also immer mehr? Immerhin: Jede/r fünfte Deutsche lebt schon heute allein.[39] Zugleich berichten nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung rund 57 Prozent der jungen Menschen in Europa von moderater bis starker Einsamkeit; in Frankreich sind es sogar rund 63 Prozent, in Deutschland knapp mehr als jeder zweite der 18- bis 35-jährigen. Vor allem junge und alte Menschen sind, gerade wenn sie allein leben, stark betroffen.[40] In Großbritannien wurde auch deshalb 2018, noch vor der Corona-Pandemie, eine nationale Strategie zur Einsamkeitsbekämpfung entwickelt und das Thema auf höchster politischer Ebene angesiedelt, im damaligen Ministerium für Digitales, Kultur, Medien und Sport. Drei Jahre später trat in Japan gar ein Einsamkeitsminister seinen Dienst an, und noch 2023 legte der US-Sanitätsinspekteur ein Grundlagenpapier „Our Epidemic of Loneliness and Isolation“ vor, das eindrücklich vor den Gefahren zunehmender Einsamkeit aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheitsfürsorge warnte. Inzwischen werden auch in Deutschland präventive Maßnahmen zur Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen diskutiert, die der „Volkskrankheit“ der Vereinsamung entgegenwirken sollen; dabei ist, wie in den Einsamkeitsbarometern der Bundesregierung, auch der Klassencharakter des Krisenphänomens unlängst thematisch geworden, denn unter Höhergebildeten, die in aller Regel leichter am sozialen Leben teilnehmen können, liegt die Quote der Einsamen, so die Daten der Bertelsmann-Studie, signifikant niedriger. Ist nun die Jugend in der Krise? Verlieren wir weite Teile der Gesellschaft, allen voran die wachsende Zahl der Singles, durch den Rückzug ins Private? „Gefährdet“ gar die neue „Einsamkeit“ die Demokratie? Das bliebe abzuwarten.

Jedenfalls kann die Geschichte der Singles, des Alleinseins und Alleinlebens in Deutschland und Europa grundlegende Fragen der Zeitgeschichtsschreibung adressieren – nach dem Verhältnis von Liebe und Romantik im 20. Jahrhundert, dem Wandel von Familienbildern und Geschlechterrollen nach 1945, der Geschichte der Sexualität, den Räumen, Medien und Techniken intimer Kommunikation, aber auch dem Wandel von Liebes- und Beziehungskonzepten, sowie der Präsenz von „Gefühlen“ in sozialen Nahbeziehungen. So kommen aus der Perspektive einer Medien-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte der Singles bislang wenig beleuchtete Phänomene zum Vorschein, die bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts im Schatten des Ideals der Ehe und der aus ihr hervorgehenden (Kern-)Familie standen.

 


[1] Singles, September 1977, S. 21. Vgl. Zoe Strimpel: In Solitary Pursuit. Singles, Sex War and the Search for Love, 1977–1983, in: Cultural & Social History 14,5 (2017), S. 691-715; Katherine Holden: The Shadow of Marriage: Singleness in England, 1914–1960, Manchester 2007; Virginia Nicholson: Singled Out. How Two Million Women Survived Without Men After the First World War, London 2007.
[2] Vgl. Ronald Inglehart: The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977. Zur historischen Einordnung vgl. Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/Andreas Rödder (Hg.): Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014; Isabel Heinemann: Wertewandel, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012. URL (20.10.2025).
[3] „Du bist du, und ich bin ich“, in: Der Spiegel, Nr. 25: „Alleinleben. Die neue Freiheit“, 18.06.1978, S. 62-78. Aus der Reportage ging später ein Sachbuch hervor: Hermann Schreiber: Singles. Allein leben. Besser als zu zweit?, Frankfurt a.M./Berlin/Wien [1978] 1980.
[4] Schreiber: Singles, S. 13-15; S. 24; S. 30. Dabei stützte sich der Autor auf die Ergebnisse einer Studie der Bremer „Gesellschaft für angewandte Sozialpsychologie“, die das Magazin in Auftrag gegeben hatte, um die „Motivation, Lebensgefühl und Lebensgestaltung von Alleinlebenden“ zu explorieren. Zu den Ergebnissen des Reports vgl. ebd., S. 235-320. Das Leben homosexueller Singles, die sich ihrerseits als „Experimentatoren“ im Feld gleichgeschlechtlicher Beziehungen sahen, kam in der – heteronormativ geprägten – Debatte um Singles allerdings bis zur Mitte der 1980er Jahre, wenn überhaupt, nur am Rande zur Sprache.
[5] Im Lichte der Emanzipationsbewegungen und der zunehmend verbreiteten „Angst, allein zu bleiben“, bemerkte Günter Grass 1977 im Gespräch mit Fritz J. Raddatz in der Zeit, habe sich ein neues Verständnis von „Partnerschaft“ durchgesetzt, das inzwischen „bindungslos“ sei, „jederzeit auflösbar, von Vorsicht diktiert“. Grass beschrieb so die Kehrseite der „Freien Liebe“ in den nichtehelichen Lebensgemeinschaften ganz im Geiste des Diskurses um eine Krise der Ehe. Das neue Credo der Bindungsängstlichen mit ihrem „zweimal absolut gesetzte[n] Ich“ laute demnach: „Nur nicht sich aufeinander einlassen“. Vgl. Fritz J. Raddatz, Heute lüge ich lieber gedruckt. Plädoyer für Liebe, nicht für Partnerschaft, in: Die Zeit, 12.8.1977, S. 29; „Du bist du, und ich bin ich“, in: Der Spiegel, 18.6.1978, S. 65f.
[6] Viele Ratgeber erreichten ihr Publikum über nationale Grenzen hinweg, allen voran Tony Lakes Werk Loneliness (1980), das noch im selben Jahr in deutscher Sprache erschien, aber auch die Übersetzungen von Claude Ullins 101 conseils pour vaincre la solitude (1977) oder der Einsamkeitsstudien der Zürcher Psychoanalytikerin Joanne Wieland-Burston unter dem Titel Zeiten des Rückzugs, Zeiten der Entwicklung (1995).
[7] Zur Bundesrepublik vgl. exempl. Jürgen vom Scheidt: Singles. Alleinsein als Chance des Lebens, München 1979; Sybille Weber/Claus Gaedemann: Singles. Report über die Alleinlebenden, München 1980; VAMV (Hg.): So schaffe ich es allein, Frankfurt a.M. 1980; Wolf Bütow: Supermarkt Einsamkeit, Köln 1982; Johanna Merz (Hg.): Ich bin solo. Singles sprechen über Einsamkeit, Sexualität, Ängste, Wiesbaden 1987; Barbara Powell: Alleinsein als Lebenschance. Ratgeber für Singles, München 1990.
[8] Zum angloamerikanischen Diskurs vgl. Stephen M. Johnson: First Person Singular. Living the Good Life Alone, New York 1977; Lynn Shayan: Living alone & liking it!, New York 1981; Susan Muto: Celebrating the Single Life, Garden City, NY 1982; Leonard Cargan/Matt­hew Melko: Singles. Myths and Realities, Beverly Hills, CA/London 1982; Gary Rimmer: Lonely Hearts, London 1983; Craig W. Ellison: Saying Good-bye to Loneliness and Finding Intimacy, San Francisco 1983.
[9] Freilich waren die Dynamiken des Phänomens rund um den Globus ausgesprochen verschieden. Während sich in Nordamerika und Westeuropa bereits in den 1970er Jahren ein Trend zum Alleinleben abzeichnete, blieben Einpersonenhaushalte in vielen Regionen Asiens und Lateinamerikas lange eher die Ausnahme. In den letzten Jahren zeigte sich indes ein Trend über nationale und kulturelle Grenzen hinweg. Vgl. Keith Snell: The Rise of Living Alone and Loneliness in History, in: Social History 42,1 (2017), S. 2-28; Esteban Ortiz-Ospina: Loneliness and Social Connections, 2020. URL (20.10.2025); Eric Klinenberg: Going Solo, New York/London 2012, S. 10-17.
[10] Stefan Hradil: Vom Leitbild zum „Leidbild“. Singles, ihre veränderte Wahrnehmung und der „Wandel des Wertewandels“, in: Zeitschrift für Familienforschung 15,1 (2003), S. 38-54, hier: S. 45f. Zur Taxonomie der Singles vgl. zudem ders.: Die „Single-Gesellschaft“, München 1995, S. 8-22.
[11] Rüdiger Peuckert: Familienformen im sozialen Wandel, Wiesbaden 82012, S. 92-95.
[12] Vgl. Beth L. Bailey: From Front Porch to Back Seat. Courtship in 20th Century America, Baltimore 1988; Moira Weigel: Dating. Eine Kul­turgeschichte, München 2018; Jennifer A. Reich: The State of Families. Law, Policy, and the Meanings of Relationships, New York 2020.
[13] Pierre Bourdieu: Junggesellenball. Studien zum Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft, Konstanz 2008.
[14] Zur Geschichte des Single-Daseins vgl. exempl. Isabelle Devos/Julie De Groot/Ariadne Schmidt (Hg.): Single Life and the City 1200-1900, Basingstoke 2015; Barbara Kuhn: Familienstand ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum des 19. Jahrhunderts, Köln 22002; Jean Claude Bologne: Histoire du Célibat et des Célibataires, Paris 2004; Juliette Eyméoud/Claire-Lise Gaillard: Histoire de Célibats, Paris 2023. Zur Geschichte von Liebe, Romantik und Sex in Europa vgl. überdies allg. Luisa Passerini: Women and Men in Love. European Identities in the 20th Century, New York 2012; Monika Wienfort: Verliebt, verlobt, verheiratet. Eine Geschichte der Ehe seit der Romantik, München 2014; Peter-Paul Bänziger u.a. (Hg.): Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015; Bernhard Rathmayr: Geschichte der Liebe, München 2016; Annette F. Timm/Jo­shua A. Sanborn: Gender, Sex and the Shaping of Modern Europe, London/New York 2022.
[15] Zum Diskurs in Deutschland und Europa vgl. Katrin Baumgarten: Hagestolz und alte Jungfer, Münster 1997. In Japan wird ausgangs der 1990er Jahre der Terminus der „parasitären Singles“ für die ewigen Junggesell:innen, die im „Hotel Mama“ wohnen, geprägt; auch Paare können sich bei den Verwandten in dieser Form einnisten. Schätzungen zufolge gab es 1995 in Japan rund 10 Millionen solcher parasitären Singles.
[16] Katie Barclay: Loneliness in World History, New York/London 2025. Für erste konzise Darstellungen des Themas in historischer Perspektive vgl. David Vincent: A History of Solitude, London 2020; Fay Bound Alberti: A Biography of Loneliness. The History of an Emotion, Oxford 2021; Georges Minois: Histoire de la Solitude et des Solitaires, Paris 2013. An Darstellungen zur Geschichte der „Einsamkeit“ seit dem späten 19. Jh. arbeiten aktuell überdies Samantha Rose Hill und Florian Hannig. Zu gegenwärtigen Dynamiken des Phänomens vgl. Florian Hannig/Johannes Peisker (Hg.): Einsamkeit. Geschichte sozialer Nichtbeziehung. Berliner Debatte Initial 1/2022, sowie das Themenheft zur „Einsamkeit“ in: Aus Politik und Zeitgeschichte 74,52 (2024). Am 5. November 2025 widmete sich auch der APuZ-Podcast dem Thema.
[17] Schon ein Bestseller wie Helen Gurly Browns Sex and the Single Girl (1962), der wenig später auch als Film in die Kinos kam, provozierte in diesen Jahren massive Proteste ob der gleichzeitigen Nennung der Worte „sex“ und „single girl“ im Titel des Buches. Vgl. dazu Katherine J. Lehman: Those Girls. Single Women in Sixties and Seventies Popular Culture, Lawrence 2011, S. 15f.; Emily Priscott: Singleness in Britain 1960-1990, Wilmington 2020; Bill Osgerby: Playboys in Paradise. Masculinity, Youth and Leisure-Style in Modern America, Oxford 2001. Populäre Ratgeber wie „Cooking in a Bedsitter“ oder „Superpig: Gentleman's Guide to Everyday Survival“ gaben derweil geschlechterstereotype Hinweise an Allein­lebende.
[18] Die Zahl der Alleinlebenden stieg in allen (west)europäischen Ländern nach 1950 rasant; in der Bundesrepublik verdreifachte sich die Zahl der 25- bis 45-jährigen Singles zwischen 1970 und 1990 auf knapp 2,7 Millionen. Nach anderer Zählung machten die Alleinlebenden zwischen 25 und 55 um 1990 rund 8% der erwachsenen Bevölkerung aus; die Quote unter den Jüngeren (U35) stieg von 5,3% zu Beginn der sechziger Jahre auf 18,5% (1990) in Westdeutschland. In den USA nahm die Zahl der Singles – hier verstanden als der Anteil erwachsener unverheirateter Männer und Frauen – ebenso drastisch zu. Der Anteil der Ein-Personen-Haushalte stieg von 9,5 Prozent (1950) auf 25,8 Prozent (2000). Vgl. Hradil: Single-Gesellschaft, S. 7; 17-23; Günter Burkart: Lebensphasen – Liebesphasen, Opladen 1997, S. 147-153; Eleanor Harris: Women without Men, in: Look Magazine, 5.7.1960, S. 43-46; dies.: Men Without Women, in: Look Magazine, 22.11.1960, S. 124-130; Frank Hobbs/Nicole Stoops: Demographic Trends in the 20th Century. Census 2000 Special Reports, Washington, DC 2002, S. 148f. sowie Homberg/Neumaier: Die Grenzen der Beziehungen, S. 495-497; 502-505.
[19] Dorothea Krüger: Alleinleben in einer paarorientierten Gesellschaft. Eine qualitative Studie über die Lebenssituation und das Selbstverständnis 30- bis 45-jähriger lediger, alleinlebender Frauen und Männer, Pfaffenweiler 1990, S. 50.
[20] Erich Stern: Die Unverheirateten, Stuttgart 1957, S. 3; 121-140. Vgl. dazu auch Peter R. Hofstätter: Gruppendynamik, Hamburg 1957, S. 63-70; Dieter Oberndörfer: Die Einsamkeit des Menschen in der modernen amerikanischen Gesellschaft, Freiburg 1958. Zur Bezugsgröße deutscher Debatten avancierten die Kulturdiagnosen des US-Soziologen David Riesman, dessen berühmtes Werk The Lonely Crowd (1950) sich als Buch über die Vereinzelung in der modernen „Massengesellschaft“ lesen ließ. Zur Pathologisierung des Phänomens in den 1970er Jahren vgl. auch Hans-Peter Dreitzel: Die Einsamkeit als soziologisches Problem, Zürich 1970.
[21] Dan Russell/Letitia A. Peplau/Mary L. Ferguson: Developing a Measure of Loneliness, in: Journal of Personality Assessment 42,3 (1978), S. 290-293.
[22] Vgl. Susanne Bücker et al.: Is loneliness in emerging adults increasing over time? A preregistered cross-temporal meta-analysis and systematic review, in: Psychological Bulletin 147,8 (2021), S. 787-805. URL (20.10.2025).
[23] Allein ist einer zu wenig, in: Der Stern, 30.10.1985, S. 64-72.
[24] Vgl. Hradil: Single-Gesellschaft, S. 7; 21. Zur Gruppe dieser Singles gehörten, so Hradil um 1995, mehr Männer (58%) als Frauen, sie lebten vorwiegend in urbanen Gegenden und zeichnen sich durch eine bessere Bildung aus. Nur ein Bruchteil der (partnerlosen) Singles (5%) war indes im Jahr 2000 der Überzeugung, allein glücklicher leben zu können als in einer Familie. Vgl. Hradil: Leitbild, S. 43. Zu den sich wandelnden Gründen, als „Single“ zu leben, allen voran zum Wandel von Arbeitsbiographien, Familienstrukturen und Geschlechterverhältnissen seit den 1970er Jahren, vgl. Sibylle Meyer/Eva Schulze: Balancen des Glücks. Neue Lebensformen. Paare ohne Trauschein, Alleinerziehende und Singles, München 1989; Herrad Schenk: Freie Liebe – wilde Ehe. Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe, München 1987. Günter Burkart: Soziologie der Paarbeziehung, Wiesbaden 2018, S. 149-172.
[25] So machten gerade ältere, verwitwete Menschen stets einen hohen Anteil der Alleinlebenden aus. Nach neueren Studien waren 2013 rund 40% der Alleinlebenden älter als 60 Jahre – sie werden in aller Regel aber kaum von der Forschung als „Singles im eigentlichen Sinn“ beschrieben. Vgl. Günter Burkart: Soziologie der Paarbeziehung, Wiesbaden 2018, S. 155f. Vielmehr galt, wie zu lesen war, ihr Alleinleben als „normal“. Stefan Hradil: Auf dem Weg zur „Single-Gesellschaft“, in: Uta Gerhardt et al. (Hg.): Familie der Zukunft, Opladen 1995, S. 189-224, hier: S. 190f.
[26] Zu queeren Communities im deutschsprachigen Raum vgl. Jennifer V. Adams/Matt Cook (Hg.): Queer Cities, Queer Cultures. Europe since 1945, London/New York 2014; Benno Gammerl: Queer: Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute, München 2023; Andrea Rottmann: Queer Lives across the Wall. Desire and Danger in Divided Berlin, 1945–1970, Toronto 2023.
[27] 17 Millionen Menschen in Deutschland leben allein, Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes, 16.07.2025. URL (20.10.2025). Gleichzeitig machen Singles nur einen Teil der wachsenden Grup­pe derer, die sich einsam fühlen, aus.
[28] Vgl. Hradil: Single-Gesellschaft; Jutta Kern: Singles. Biographische Konstruktionen abseits der Intim-Dyade, Opladen 1998; Gerd Grözinger (Hg.): Das Single. Gesellschaftliche Folgen eines Trends, Opladen 1994; Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim: Riskante Freiheiten, Frankfurt a.M. 1994; Ronald Bachmann: Singles, Frankfurt a.M. 1992. Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim proklamierten in diesem Geiste: „Die Grundfigur der durchgesetzten Moderne ist – zu Ende gedacht – der oder die Alleinstehende“. Vgl. Ulrich Beck/ Elisabeth Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M. 1990, S. 130.
[29] „Der Tanz ums goldene Selbst“, in: Der Spiegel, 13.07.1997, S. 92-99. Der Soziologe Ulrich Beck prägte die Rede vom „Tanz ums goldene Selbst“. Die Psychologin Eva Jaeggi sekundierte, „Selbstbehauptung und Autonomie“ seien zur „wichtigsten Maxime unserer Gesellschaft“ geworden.
[30] Andreas Wirsching: Eltern – Paare – Singles: Privatheitswerte im Wandel, in: Andreas Rödder/Wolfgang Elz (Hrsg.): Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008, S. 69-77; DRA, Entdeckungen im Alltag. Club der Unverheirateten, 27.07.1982; Till Großmann: Moral Economies of Love and Labor in the GDR. Family Values and Work Ethics in Advice Correspondence, circa 1960, in: Ute Frevert (Hg.), Moral Economies, Göttingen 2019, S. 213-237.
[31] Vgl. die Ausgabe der Zeitschrift Das Archiv. Arbeit – Technik – Kommunikation (2/2025) zum Thema: Gefühle. Gut vernetzt und trotzdem einsam?
[32] Telefonseelsorge Berlin e.V. (Hg.): Unsere Geschichte. Wir sind da, wir hören zu. URL (20.10.2025); Laura Nosmas: Les „Partages“ de Minuit. Histoire de S.O.S. Amitié, Paris 1980; Audrey Constant: Someone to Talk To. The Story of Chad Varah and The Samaritans, Norwich 1981; Norbert Dietel: Die ökumenische Geschichte der Telefonseelsorge, in: Eberhard Hauschildt/Bernd D. Blömeke (Hg.): Telefonseelsorge interdisziplinär, Göttingen 2016, S. 95-110; John Draper/Richard McKeon: The Journey Toward 988: A Historical Perspective on Crisis Hotlines in the United States, in: Psychiatric Clinics of North America 47,3 (2024), S. 473-490; Alex Rühle: Eine Nacht bei der Telefonseelsorge, in: SZ, 14.12.2008. URL (20.10.2025).
[33] Banine: Hilfe per Telefon. Was geschieht in der Telefonseelsorge?, Stuttgart 1973; Klaus-Peter Jörns: Telefonseelsorge. Nachtgesicht der Kirche, Neukirchen-Vluyn 1995; Birgit Knatz/Bernard Dodier: Hilfe aus dem Netz. Theorie und Praxis der Beratung per E- Mail, Stuttgart 2003.
[34] Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 273-370.
[35] Vgl. Michael Homberg: Computerliebe. Die Anfänge der elektronischen Partnervermittlung in den USA und in Westeuropa, in: Zeithistorische Forschungen 17,1 (2020), S. 36-62; ders./Christopher Neumaier: Paarbeziehungen in Deutschland nach 1945. Sonderheft, Geschichte und Gesellschaft 48,3 (2022). Zum Stigma des Computer-Datings gehörte lange, dass vor allem „Kontaktschwache“ und „Vereinsamte“ die Services der Agenturen beanspruchten. Vgl. Den idealen Partner per Lochkarte finden, in: Gabriele 5/1977, S. 63f. Neben gedruckten Zeitungen und Magazinen, deren (Heirats-)Annoncen in serieller Form über DH-Analysen erschlossen werden können, lassen sich exemplarisch auch Radio- und TV-Shows einbeziehen, die das Versprechen einer Vermittlung von „Mr. & Mrs. Right“ nach 1945 ins Bild zu setzen begannen. Solche Kuppel-Formate, die, wie The Dating Game (1965), das Kennenlernen bereits in den 1950er und 1960er Jahren in den USA als Gameshow inszenierten und deren Varianten – vom deutschen Herzblatt, über das französische Tournez Manège bis hin zum britischen Bind Date – in der Folge auch in Europa rasch zu Publikumsmagneten avancierten, lassen sich so in vergleichender Perspektive als Phänomene einer globalen Populärkultur untersuchen. Zugleich schiene es ertragreich, TV-Formate wie die WDR-Produktion Spätere Heirat nicht ausgeschlossen, die der televisuellen Inszenierung des Kennenlernens in den 1970er Jahren Ausdruck verlieh, als Vorgeschichte gegenwärtiger Datingshows zu diskutieren.
[36] Zu den Zahlen vgl. allg. https://de.statista.com/themen/142/liebe/#topicOverview; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/804638/umfrage/online-dating-nutzer-in-deutschland/; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1025036/umfrage/umfrage-in-deutschland-zum-ort-des-kennenlernens-des-partners/ (20.10.2025).
[37] Natasha Frost: The Dramatically Different World of ‘70s Dating Ads. Before Tinder, there was „Singles News“, in: Atlas Obscura, 27.10.2017. URL (20.10.2025).
[38] Der britische Baukonzern Barratt Homes vermarktete so etwa 1977 ein Wohnkonzept, das sich explizit an Singles richtete: die so genannten „Mayfair Apartments“.  Die kleinen, in der Regel zentral gelegenen „studio flats“ und „starter homes“ wurden als Ausdruck neuer Freiheiten und eines urbanen Lebensstils beworben. Vgl. Zoe Strimpel: In Solitary Pursuit. Loneliness and the Quest for Love in Modern Britain, in: Katie Barclay: Loneliness in World History, New York/London 2025, S. 149-161, hier: S. 153. Urlaubswerbungen für Singles bezeugen den Trend zur Vermarktung des Single-Daseins in England, Frankreich und Deutschland in den 1970er Jahren.
[39] Insges. 17 Millionen Menschen leben demnach allein – der Anteil der Einpersonenhaushalte in Deutschland stieg seit den frühen 1990er Jahren von 33% auf aktuell circa 42%. Etwa 5 Millionen Menschen bezeichnen sich nach einer neuen Allensbach-Studie als überzeugte Singles. Für Statistiken & Fakten zu Singles in Deutschland vgl. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/07/PD25_N036_12.html; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/156951/umfrage/anzahl-der-einpersonenhaushalte-in-deutschland-seit-1991/; https://de.statista.com /statistik/daten/studie/173640/umfrage/lebenseinstellung-single-aus-ueberzeugung/ (20.10.2025).
[40] Maike Luhmann/Bernd Schäfer/Ricarda Steinmayr: Einsamkeit junger Menschen 2024 im europäischen Vergleich, Gütersloh 2024, S. 11-15. Vgl. auch Ricarda Steinmayr/Miriam Schmitz/Maike Luhmann: Wie einsam sind junge Erwachsene im Jahr 2024?, Gütersloh 2024; Jan Digutsch/Maike Luhmann/Ricarda Steinmayr: Einsamkeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Gütersloh 2025; 17 Millionen Menschen in Deutschland leben allein, Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes, 16.07.2025. URL (20.10.2025).

 

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Zitation

Michael Homberg, Singles. Alleinsein und Alleinleben in Deutschland und Europa nach 1945, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/singles