Nach langem Warten liegt seit Mitte Juni 2023 nun endlich der Referentenentwurf zu einer Reform des Sonderbefristungsrechts in der Wissenschaft vor.[1] Behebt er die Missstände, die wir mit #IchBinHanna seit über zwei Jahren anprangern und für die wir selbst mehrfach Lösungsvorschläge vorgelegt haben? Nein.
Im Gegenteil fällt der vorliegende Entwurf hinsichtlich der hier besonders im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Postdoc-Phase sogar hinter den allgemeinen Diskussionsstand sowie die Selbstverpflichtung der Ampel-Parteien im Koalitionsvertrag zurück. Die Chance auf die dringend nötige Grundsatzreform, die das WissZeitVG anstoßen sollte, droht vertan zu werden, wenn nicht das parlamentarische Verfahren zur Gesetzesreform noch entscheidende Veränderungen zur Folge hat. Sowohl der Referentenentwurf als auch ein Teil der dazu vorgelegten Stellungnahmen zeigen, dass die gebotene Bereitschaft für den entscheidenden Schritt zum notwendigen Kultur- und Strukturwandel in Bezug auf wissenschaftliche Personalentwicklung noch immer zu gering ausgeprägt ist: Die Rede ist von der Abschaffung einer zweiten Qualifikationsphase, was eine Voraussetzung für unabhängige Forschung nach der Promotion darstellt.
Rekapitulation: Worum geht es?
Seit 2007 räumt das WissZeitVG wissenschaftlichen Arbeitgebern großzügige Befristungsoptionen ein, die weit über das hinausgehen, was im sonstigen Arbeitsrecht zulässig ist: Unter Verweis auf deren Qualifikation können Wissenschaftler*innen sechs Jahre vor und sechs Jahre nach der Promotion befristet beschäftigt werden. Dass Befristung auch nach der Promotion noch in diesem Rahmen ermöglicht wird, hat in der Praxis gravierende Folgen: Kaum jemand hat in der Wissenschaft vor dem fünften Lebensjahrzehnt einen unbefristeten Arbeitsvertrag.[2] Da die Professur auf Lebenszeit fast das einzige unbefristete Beschäftigungsverhältnis ist, werden steile Hierarchien zementiert, die Machtmissbrauch und Übergriffen Tür und Tor öffnen. Wer die Professur (noch) nicht erreicht (hat), gilt in der Wissenschaft unabhängig von Lebens- und akademischem Alter als ‚Nachwuchs‘ – und steht mit all den erworbenen Meriten und Kompetenzen, von denen viele außerhalb der Academia deutlich weniger wert sind, irgendwann auf der Straße, wenn eine befristete Weiterbeschäftigung nicht mehr möglich ist. Denn obwohl das WissZeitVG auf dem Papier die europarechtliche Vorgabe einer Begrenzung von Befristung umsetzen soll,[3] fungiert es in der Praxis doch oft eher als Befristungsermöglichungsgesetz und wird von vielen Verantwortungsträger*innen tatsächlich vor allem so verstanden.
All das tut der Wissenschaft in Deutschland nicht gut. Nicht nur zwingt es Wissenschaftler*innen jahrzehntelang in prekäre Arbeitsverhältnisse mit Kurzzeitverträgen, Teilzeitstellen, Zwischenphasen der Arbeitslosigkeit,[4] dauernden Ortswechseln und Abhängigkeiten von Vorgesetzten. Der Befristungsirrsinn verschlingt überdies massenweise öffentliche Gelder, da das Gros der Wissenschaftler*innen ständig mit Bewerbungen und Anträgen für zeitlich begrenzte Stellen und Forschungsvorhaben beschäftigt ist – und dafür enorm viel Zeit aufwenden muss, die für die Kernaufgaben in Forschung und Lehre fehlt. Wer auf dem Schleudersitz sitzt und vom Wohlwollen potentieller Vorgesetzter, Kommissionsmitglieder und/oder Gutachter*innen abhängig ist, setzt besser auf Anpassung und Mainstream statt auf inhaltliches oder methodisches Risiko. Nicht zuletzt bewirkt das System der Befristungen, dass in der Wissenschaft letztlich vor allem diejenigen verbleiben, die sich prekäre Arbeitsbedingungen und den späten erzwungenen Berufswechsel, zu dem es höchstwahrscheinlich kommt, finanziell und organisatorisch leisten können. In Zeiten des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels gestaltet sich die deutsche Wissenschaft dadurch als hochgradig unattraktives Arbeitsumfeld, das im Vergleich zur Privatwirtschaft und dem Ausland massiv an Konkurrenzfähigkeit einbüßt.
Der Referentenentwurf zum WissZeitVG
Dieser Misere wollte die Ampelregierung ein Ende machen: Im Jahr 2021 verpflichtete sie sich im Koalitionsvertrag auf das Ziel
Die Crux der zweiten Qualifikationsphase
Immer wieder ist in der bisherigen Debatte moniert worden, dass der Qualifikationsbegriff des WissZeitVG zu vage formuliert ist. So vage in der Tat, dass es sich laut einem BAG-Urteil auch dann um Qualifikation handelt, wenn „mit der befristeten Tätigkeit eine wissenschaftliche oder künstlerische Kompetenz gefördert wird, die in irgendeiner [!] Form zu einer beruflichen Karriere auch außerhalb der Hochschule befähigt“[8] – was eine Begrenzung von Befristung auf ‚Sonderfälle‘ automatisch konterkariert. Trotz dieses eminenten Problems hat das BMBF in seinem Entwurf darauf verzichtet, den Qualifikationsbegriff zu präzisieren und damit keinerlei Interesse daran erkennen lassen, missbräuchlicher Anwendung der Regelungen endlich wirkungsvoll Einhalt zu gebieten.
Hinzu kommt die Problematik der zweiten Qualifikationsphase: Während die Promotion als höchster berufsqualifizierender Abschluss anerkannt ist und somit durchaus auch für Berufe außerhalb der Wissenschaft sinnvoll sein kann, sind sämtliche Tätigkeiten, die nach der Promotion der wissenschaftlichen ‚Qualifikation‘ dienen, in erster Linie schlicht wissenschaftliche Arbeit und allenfalls darauf ausgerichtet, das Ziel der Berufbarkeit auf eine Professur zu erreichen. Die Weiterbildung, die damit stattfindet, zielt nicht mehr auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, sondern auf eine Führungsposition innerhalb der Wissenschaft. Es handelt sich also mit anderen Worten letztlich um Personalentwicklung zur Rekrutierung des eigenen Leitungspersonals, nicht um eine ‚Ausbildung‘, die außerhalb der Wissenschaft nützlich oder gar notwendig wäre. Der häufig angeführte ‚Dienst an der Gesellschaft‘, den die Wissenschaft durch die Ausbildung von Fachkräften leistet, greift nicht in Bezug auf die Postdoc-Phase. Entsprechend entbehrt das Argument, die Stellen müssten befristet bleiben, um immer wieder neuen Personen die ‚Chance‘ auf eine Qualifikation in der Postdoc-Phase zu geben, jeglicher Grundlage – mindestens 69% der Postdocs erhalten keine Professur[9] und ‚qualifizieren‘ sich mit dem Erlangen der Berufungsfähigkeit beruflich ins Nichts. Zugunsten einer Befristung des promovierten Personals werden die Unterschiede zwischen Studium und Promotion einerseits und wissenschaftlicher Arbeit mit beruflicher Weiterentwicklung andererseits so gezielt verwischt.
Das Modell 4+2
Diese Logik muss aufgebrochen werden, um eine echte Reform der wissenschaftlichen Personalstruktur und eine Beendigung der Massenbefristung zu ermöglichen. Entsprechend muss die Postdoc-Qualifikationsbefristung entweder ganz aus dem WissZeitVG gestrichen oder zumindest die Möglichkeit einer Befristung ohne Anschlusszusage möglichst knapp begrenzt werden. In den Diskussionen des letzten Jahres hat sich die Kompromisslösung einer Begrenzung der Postdoc-Befristung auf maximal zwei Jahre als sinnvoll herausgestellt, da diese knapp genug ist, um Befristungsmissbrauch zu unterbinden, aber dennoch etwas Raum für die Überbrückung und Bewerbung auf eine Dauerstelle erlaubt. Anschließend sollte eine Befristung, wenn überhaupt, nur noch zulässig sein, wenn sie mit einer klaren Entfristungsperspektive einhergeht, die bei Vorliegen der dafür vereinbarten Voraussetzungen automatisch zum entsprechenden Zeitpunkt greift. Will man die Postdoc-Phase bei einer Dauer von sechs Jahren halten, schafft nur ein Modell von 2+4 (zwei Jahre Befristung ohne, vier Jahre Befristung mit Anschlusszusage) eine wirkliche Verbesserung des Status quo.
Die im Referentenentwurf angesetzte Variante 4+2 macht das Instrument der Anschlusszusage hingegen zum zahnlosen Tiger: Vier Jahre sind lang genug, um den wissenschaftlichen Einrichtungen weiterhin eine vorwiegend unsichere Beschäftigung ihres promovierten Personals zu erlauben. Sie erhöhen allerdings den Druck auf die Personen auf den Stellen, nun in noch kürzerer Zeit die Voraussetzungen für eine Professur zu erreichen. Diese Notwendigkeit wird weiter bestehen, solange es keine anderweitige sichere Entfristungsperspektive gibt. Es ist außerdem davon auszugehen, dass von der Fortsetzung der Arbeitsverträge über zwei Jahre mit Anschlusszusage nur in sehr wenigen Fällen überhaupt Gebrauch gemacht werden wird; vielmehr dürften Hochschulen und Forschungseinrichtungen versuchen, wo möglich auf Drittmittelbefristung auszuweichen.
Entkopplung von Befristung und Weiterentwicklung
Entsprechend gibt es nur wenige Organisationen, die das vorgeschlagene Modell in ihren Stellungnahmen zum Entwurf tatsächlich befürworten. Was indes auffällt: Sehr häufig geht die Kritik nach wie vor vom Status quo und von der Orientierung auf die Professur als Zielpunkt einer wissenschaftlichen Karriere aus, statt das zu tun, was mit der Reform ursprünglich beabsichtigt war und zu den Kernforderungen von #IchBinHanna gehört: Die wissenschaftliche Arbeit des promovierten Personals gilt es als solche anzuerkennen – und nicht länger als Fortsetzung einer bereits über ein Jahrzehnt dauernden ‚Ausbildung‘ zu infantilisieren. Nicht die Berufungsfähigkeit darf die Voraussetzung dafür sein, Wissenschaftler*innen irgendwann das eigentliche Normalarbeitsverhältnis (die unbefristete Vollzeitstelle) zuzugestehen. Unbefristete Beschäftigung muss der Regelfall werden – und zwar nicht auf ‚Sackgassenstellen‘, deren überbordend hohes Lehrdeputat keine Zeit für eigene Forschung und auf Wunsch ggf. eine Weiterentwicklung hin zur Professur zulässt. Moderne Personalpolitik in der Wissenschaft muss Befristung und Weiterentwicklung endlich entkoppeln und die Promovierten aus der Gruppe der noch in der Qualifikation befindlichen, also ‚unfertigen‘ und ‚unselbständigen‘ Wissenschaftler*innen herausnehmen.
Stellungnahmen zum Referentenentwurf
Davon sind wir indes weit entfernt, solange Kritik am Referentenentwurf noch ernsthaft mit dem Argument vorgebracht wird, die zur Verfügung stehende Zeitspanne reiche nicht aus, um eine Habilitation abzuschließen oder vergleichbare Leistungen zu erbringen, die für eine Professur qualifizieren. Dies klingt insbesondere in Stellungnahmen solcher Fächer durch, in denen die Habilitation nach wie vor zum Standard gehört und die sich einer projektorientieren Kurzzeitforschung widersetzen (wobei letzteres durchaus zu begrüßen ist). Zu häufig wird vom gegenwärtigen Zustand ausgegangen, statt ein ganz neues System mit anderen Personalkategorien zu denken. Dies gilt etwa, wenn der Verband der Ägyptologie konstatiert, „von der Promotion zu Dauerstellen – die in unserem Fach fast ausschließlich Professuren sind [sic!]“ – vergehe mehr Zeit „als die im WissZeitVG angesetzten vier Jahre“, also müssten die „Befristungszeiten […] insbesondere in den Geisteswissenschaften verlängert statt verkürzt werden.“[10] Derartige Positionierungen sind nicht zielführend, denn sie zementieren gerade den defizitären Ist-Zustand, den die Gesetzesreform beenden müsste.
Die Stellungnahme des Verbands der Historikerinnen und Historiker Deutschlands
Erfreulicherweise ist die Stellungnahme des Verbands der Historikerinnen und Historiker (VHD)[11] differenzierter, wenngleich auch hier in ähnlicher Absicht darauf hingewiesen wird, dass 4+2 Jahre für die Qualifizierungsziele der etablierten guten wissenschaftlichen Praxis zu kurz seien.[12] Den Forderungen nach flankierenden Maßnahmen und einer Umstellung universitärer Forschung auf angemessene Grundfinanzierung ist hingegen beizupflichten. Ebenso ist die Ablehnung auf ein weiteres Ausweichen auf Drittmittelfinanzierung wichtig und richtig. Nichtsdestotrotz darf man sich nichts vormachen: Die Reform des WissZeitVG ist die entscheidende Stellschraube, an der aktuell gedreht werden kann. Denn als Bundesgesetz betrifft es Arbeitsverhältnisse in der gesamten deutschen Wissenschaft und hat das enorme Potential, sie bundesländerübergreifend zu verbessern. Auf andere Maßnahmen zu warten bzw. die notwendige Veränderung durch lange Übergangsfristen aufzuschieben, wäre kontraproduktiv und wird den Wandel verhindern, den wir jetzt dringend brauchen. Den Bedarf für einen solchen Wandel bringen die abschließenden Worte der VHD-Stellungnahme ihrerseits eindrücklich zum Ausdruck: „Auch in der Geschichtswissenschaft schaden prekäre Arbeitsbedingungen der Qualität universitärer Forschung und Lehre. Es bracht deutlich mehr Dauerstellen in der Breite“. Mittelfristig einen solchen Zustand herzustellen, sollte ein lohnendes Ziel sein – für die deutsche Geschichtswissenschaft ebenso wie für die anderen Disziplinen innerhalb des deutschen Wissenschaftssystems.
Zum Thema außerdem:
[1] Referentenentwurf des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Befristungsrechts für die Wissenschaft; letzter Zugriff: 17.08.2023.
[2] Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021, S. 111 (letzter Zugriff 22.05.2023).
[3] Mehrfach befristet, doppelt rechtswidrig. In: Verfassungsblog vom 03.05.2023; letzter Zugriff: 14.09.2023.
[4] Forschung auf ALG 1 und Hartz IV. In: Zeitgeschichte Online vom 10.06.2021; letzter Zugriff: 17.08.2023.
[5] Warten auf den Referentenentwurf. In: Zeitgeschichte Online vom 23.05.2023; letzter Zugriff: 17.08.2023.
[6] Siehe etwa die Beiträge von Nina Stahr und Carolin Wagner in diesem Beitrag von Christine Westerhaus im Deutschlandfunk.
[7] Unter dem Reiter „Gesetz über befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft (WissZeitVG)
[8] Kritik von SPD und Gründen an Plänen für das Wissenschaftszeitvertragsgesetz. In: Deutschlandfunk vom 08.07.2023; letzter Zugriff: 14.09.2023.
[9] Jetzt nicht das Ziel aus den Augen verlieren. In: Blog von Jan-Martin Wiarda vom 16.05.2023; letzter Zugriff: 14.09.2023).
[10] Stellungnahme zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) vom 19.07.2023, S. 2; abgerufen am 17.08.2023.
[11] Stellungnahme des VHD zum Referententwurf [sic] für ein Gesetz zur Änderung des Befristungsrechts für die Wissenschaft. Frankfurt, 30.06.2023; letzter Zugriff: 17.08.2023.
[12] Da in irgendeiner Weise eine Phase der Befristung nach der Promotion in der Novellierung des WissZeitVG vorgesehen sein wird, wäre man in der Geschichtswissenschaft gut beraten, zu diskutieren, welche Aufgaben in einer solchen Phase realistisch mit Gewinn für die betroffenen Kolleg*innen geleistet werden kann. Das schlägt auch die Stellungnahme vor. Weiterhin an der klassischen Habilitation oder dem zweiten Buch festhalten, nur in kürzerer Zeit, ergibt keinen Sinn. Offenheit für andere Formate ist dringend notwendig; vgl. dazu Sebastian Kubon (letzter Zugriff am 11.09.2023) und Kubon; μέγα βιβλίον, μέγα κακόν – Ein großes Buch ist ein großes Übel oder: Das Lob der ‚kleinen‘ Form: Digitale Historiographien in der Turing-Galaxis nicht nur in Zeiten von Corona, in: #Wissenschaftshierarchien, Hierarchien al Hemmnis in der Wissenschaft. Marburg 2023, S.99-108. Diese Fragestellung wird auch Thema einer Podiumsdiskussion auf dem Historikertag in Leipzig sein (Donnerstag, 21.09.23 16:00-18:30.