Das Dossier entstand unter Mitarbeit von Moritz Venohr und gedankt sei an dieser Stelle Daria Reznyk, die einige der Zahlenangaben für uns recherchierte.
In Memoriam Julia Obertreis
“Überleben und Arbeiten im Krieg: Die Situation der Historiker:innen in der Ukraine”: das war der Titel der Sektion, die von Julia Obertreis für den 54. Deutschen Historikertag in Leipzig konzipiert wurde. Der Kongress stand unter dem Motto „Fragile Fakten“. Doch angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der bereits im März 2014 mit der russischen Militärintervention auf der Krim und im Donbas begann, geht es nicht nur um fragile Fakten, mit denen Geschichtswissenschaftler*innen beim Erforschen von Kriegsursachen und -vorgeschichten konfrontiert sind. Im Erleben unserer ukrainischen Kolleginnen und Kollegen geht es sehr konkret um fragile, bedrohte Leben, zerstörte Institutionen und brennende Archive. Es geht um unter den Stiefeln der Okkupanten zertrampelte Geschichtsbücher; es geht um das Arbeiten unter Fluchtbedingungen, es geht um die Vorbereitung von Lehrveranstaltungen bei Kerzenlicht, es geht um die Länge der Strecke zwischen Hörsaal und Luftschutzkeller.
Es geht aber auch ums Bestehen und die Relevanz unserer Disziplin als solcher in Zeiten, in denen so viele andere Dinge und Disziplinen Vorrang zu haben scheinen in der Ukraine: Kämpfen, Leben retten, Häuser reparieren, Minen räumen, Getreide anbauen, Städte mit Wasser versorgen – was hat die Geschichtswissenschaft angesichts dieser elementaren Überlebensaufgaben zu sagen? Ist auch sie überlebensnotwendig, ist überhaupt Zeit und Geld für sie übrig? Interessanterweise waren es in Deutschland gerade Historiker*innen, die, aus der osteuropäischen Erfahrung des “Zeitalters der Extreme” sprechend, die Putinschen Geschichtstexte analysierend, vor diesem Krieg warnten, doch sie wurden jenseits der engen Fachkreise nicht gehört.[1] Nun nimmt der Angreifer Russland massiv und aktiv Rückgriff auf Geschichtsmythen, Geschichtsfälschungen und weitere historische Argumente, um seinen Überfall auf die Ukraine zu rechtfertigen, während in der angegriffenen Ukraine die Existenz des Faches selbst auf dem Spiel steht, da das Leben der Forschenden genauso bedroht ist wie das Material, mit dem sie forschen, und die Gebäude, in denen sie forschen.
Unbekannte Ausmaße der Zerstörung
Seit Beginn des Krieges nahmen die Schäden kontinuierlich zu. Im Juni 2022 waren laut dem früheren Minister für Bildung und Wissenschaft Serhij Schkarlet 43 Universitäten betroffen.[2] Neuere Zählungen aus dem Jahr 2023 geben bereits 84 Einrichtungen der Höheren Bildung an. Dabei wurden mindestens fünf Hochschuleinrichtungen vollständig zerstört, viele andere schwer. Insbesondere in den Städten und Regionen Charkiw, Donezk, Odessa, Schytomyr, Saporischschja und Mykolajiw sowie Kyjiw sind die desaströsen Kriegsfolgen für die Wissenschaft am Größten.[3] Zu den schwer beschädigten Einrichtungen zählt auch die renommierte ukrainische Karasin-Universität in Charkiw.[4] In einer Umfrage unter 4250 Wissenschaftler*innen in der Ukraine, die im August und September 2023 durchgeführt wurde, gaben 34 Prozent an, dass ihr Arbeitsplatz beschädigt oder gänzlich zerstört worden sei.[5] Zudem wurden ebenso primäre und elementare Bildungseinrichtungen des Landes durch russische Angriffe schwer beschädigt oder zerstört. Das ukrainische Bildungsministerium meldet insgesamt 3.798 beschädigte Kindergärten, Schulen oder weiterführende Bildungseinrichtungen von denen 365 komplett zerstört wurden.[6]
Seit Beginn des Krieges mussten zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fliehen, wobei belastbare Zahlen fehlen. Knapp fünf Millionen Personen gelten insgesamt als internally displaced persons. Mindestens 60.000 Studierende und 10.000 Hochschullehrer*innen sind in umgesiedelten Einrichtungen der Höheren Bildung tätig.[7] Ins Ausland gingen laut Schätzungen mehr als 200.000 Wissenschaftler*innen und Studierende, wobei insbesondere Polen deutlich gestiegene Einschreibungszahlen ukrainischer Staatsbürger*innen verzeichnete. Forscher*innen folgten unmittelbar nach Kriegsbeginn ihren Netzwerken und den eilig zusammengestellten Hilfsangeboten.[8] In Deutschland, aber auch in anderen Ländern, legten Forschungsförderer Sofortprogramme auf, die im ersten Jahr des Krieges zu überbrücken halfen. Währenddessen erhielten Hochschuldozierende überwiegend die Erlaubnis, digital zu unterrichten.[9] Nun, nachdem sich der Krieg festgefressen hat, werden Genehmigungen widerrufen und der Druck auf Dozierende erhöht ins Land zurückzukommen. Je länger die aufgezwungene Kriegssituation andauert, umso größer wird die Befürchtung, dass Spezialist*innen im Ausland verbleiben könnten. Angesichts der Tatsache, dass die Verteidigung des Landes logischerweise den größten Teil des Etats beansprucht, wurde das Budget für Forschung bereits gekürzt, was Möglichkeiten kostenintensiver Forschung etwa in Labors deutlich verringert, aber auch individuelle Gehälter betrifft.[10] Finanzielle Unterstützung ist für die im Lande verbliebenen Wissenschaftler*innen deutlich wichtiger als zu Beginn des Krieges.[11] Im Wiederaufbau werden die Forschungseinrichtungen insgesamt mit den Einrichtungen der kritischen Infrastruktur konkurrieren, so dass die Bedingungen (natur-)wissenschaftlicher Arbeit sich vermutlich nicht direkt auf Vorkriegsniveau anheben lassen.
Auch lassen Wissenschaftler*innen ihren Beruf ruhen, um sich der Landesverteidigung und dem Militär anzuschließen. Genaue Zahlen fehlen auch hierzu. In der zitierten Umfrage unter 4250 Hochschulangehörigen waren 5 Prozent aktiv, deutlich mehr Personen (28%) haben engste Verwandte in der Landesverteidigung.[12] Geschichten wie die von Fedir Schandor, ein Historiker der Nationalen Universität in Uschhorod, der mehrmals in der Woche seine Studierenden aus dem Schützengraben heraus unterrichtet, machen die Einzelpersonen hinter den Zahlen sichtbar.[13]
Angesichts der anhaltenden Kriegshandlungen ist es aktuell nur schwer möglich, die Zahlen der gefallenen Hochschulmitarbeiter*innen und Studierenden zu nennen. Gesicherte Quellen liegen kaum vor. Am internationalen Tag der Jugend im August 2022 wurden beispielsweise 40 „nie ausgegebene Diplome“ in Lwiw symbolisch in Erinnerung an junge gefallene Studierende ausgestellt.[14] Der Rektor der Taras-Schewtschenko-Universität in Kyjiw, Volodymyr Buhrow, erklärte außerdem im Oktober 2023, dass mindestens 84 Mitglieder seiner Universität im Krieg gefallen seien.[15]
Wissenschaftliches Arbeiten in Zeiten des Krieges – Drei Perspektiven
Auch unsere Gastautor*innen berichten von der Zerstörung ihrer Fakultäten und den schwierigen Umständen ihrer Arbeit im Angesicht des Krieges. Um sichtbar zu machen, unter welchen Bedingungen die Kolleg*innen in der Ukraine seit Beginn des Totalangriffs arbeiten müssen, entwickelte die Erlanger Osteuropa-Historikerin Julia Obertreis eine Panelidee für den Historikertag 2023, an die wir und unser Kollege Stefan Rohdewald (Leipzig) uns anschlossen. Anna Veronika Wendland und ihr Mann Roman Osadchuk übernahmen die Übersetzung.
Aus unterschiedlichen Universitätsstädten der Ukraine sollten Kolleg*innen sprechen, um auch diejenigen Besucher*innen des größten deutschen Fachkongresses zu erreichen, in deren Alltag die Ukraine und der Krieg gegen das Land höchstens über Zeitungslektüre vorkommt. Einige Wochen später konnte unter Federführung des Leibniz-Netzwerks Östliches Europa eine Studie zur Situation der ukrainischen Wissenschaft vorgestellt werden, die Science at Risk erarbeitete, und deren Ergebnisse in den Einführungstext einflossen.[16]
Einblicke in ihren Alltag und den ihrer Kolleg*innen und Studierenden gaben Marija Parchomenko aus Charkiw, Volodymyr Potulnytskyi aus Kyjiw und Valentyna Schewtschenko aus Lwiw, um die Beitragenden nach ihren von Ost nach West gelegenen Universitätsstädten vorzustellen. Sie forschen und lehren über die Vormoderne, zur neueren Geschichte und zur Zeitgeschichte der Ukraine.
Marija Parchomenko ist Historikerin an der Wasyl-Karasin-Universität Charkiw. Derzeit ist sie Gastwissenschaftlerin an der Universität Erlangen. Sie promovierte über die Alltagsgeschichte im byzantinischen Chersones auf der Halbinsel Krim. Volodymyr Potulnytskyi ist Historiker und Politologe und arbeitet in Kyjiw an der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Archäographie und Quellenkunde. Sein Spezialgebiet ist die Geschichte des politischen Denkens in der Ukraine. Valentyna Schewtschenko ist Historikerin. Sie hat über Wirtschafts- und Finanzgeschichte der südlichen Ukraine, über den Ersten Weltkrieg und zu stadthistorischen Themen gearbeitet.
Sie berichteten von den Bedingungen der Lehre und der Forschung, und von den offenen und versteckten Kosten des Angriffskriegs für die ukrainische Geschichte und Geschichtswissenschaft. Russische Besatzer*innen plündern Museen und Archive, so dass künftigen Forschungen Grundlagen entzogen werden. Gerade im Bereich der Neueren und Neuesten Geschichte werden Materialien weggeschafft, die sowjetisch-russische Verbrechen belegen können. Zu den direkten Folgen gehören gefallene Historiker*innen. Allein am Institut von Volodymyr Potulnytskyi betrifft dies zwei Kollegen.
Auf die Geschichtswissenschaft haben allerdings die leisen Zersetzungserscheinungen die größten Auswirkungen. Eine Arbeit, die auf Konzentration und Versenkung basiert, ist schwer möglich in Phasen der Angst um das eigene Leben, der Angst um das Leben der Liebsten, ob kämpfend oder ihrem Alltag nachgehend, jederzeit von russischen Raketen oder Drohnen bedroht, und auch der Angst um die eigene berufliche Identität. Da über die Hälfte des ukrainischen Etats inzwischen in die Verteidigung fließt, sind die sowieso schon spärlichen Gehälter im wissenschaftlichen Bereich weiter beschnitten worden. Es ist den ukrainischen Dozierenden bewusst, dass der Wiederaufbau andere Prioritäten haben wird als die Geisteswissenschaften, wenngleich die Geschichte als durchaus Legitimität stiftende Wissenschaft eine andere Ausgangsvoraussetzung haben wird als andere Fächer. Depressionen werden in den Texten von Parchomenko, Potulnytskyi und Schewtschenko, offen angesprochen. Der Bedarf an psychologischer Behandlung wird nach den Traumata des Krieges in der Ukraine enorm sein, in jeder Gesellschaftsschicht und in jedem Beruf.[17]
Mut, dem ukrainischen Leid weiterhin zuzuhören – ein Appell an die deutsche (geschichtswissenschaftliche) Öffentlichkeit
All diese bitteren Wahrheiten sprachen unsere Kolleg*innen aus. Zu der bitteren Realität der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft gehörte, dass den ukrainischen Kolleg*innen bei einem geschichtswissenschaftlichen Kongress mit ca. 2000 Teilnehmer*innen – Fachwissenschaftler*innen, Geschichtslehrer*innen und Studierende – kaum Jemand zuhörte. Nur ca. 60 Personen, davon zahlreiche Osteuropahistoriker*innen, fanden sich an jenem Donnerstagmorgen ein. Irritierend war die Diskrepanz zu den Sektionen des Historikertags, an denen auf rein analytischer Ebene über die Ukraine und die neoimperiale Aggression der Russischen Föderation gesprochen wurde. Diese waren sehr gut besucht. Ebenfalls sehr gut besucht war eine moderierte Diskussion mit russischen Aktivist*innen von Memorial. Mehrere Hunderte Personen hörten deren Geschichten des Engagements und der Verfolgung. Es wäre am bequemsten, die unterschiedlichen Zuschauerströme mit den Unwägbarkeiten eines Mammutkongresses zu erklären, mit der zentralen Feier am Vorabend oder der zeitgleich stattfindenden Vorstellung der DFG-Fachgremien.
Doch die unbequeme Wahrheit ist, dass es durchaus Mut Bedarf, sich den andauernden und konkreten Leiden der ukrainischen Historiker*innen – und der ukrainischen Gesellschaft – nach zwei Jahren des Angriffskriegs zu stellen. Denn es fehlen uns Antworten. So mag es leichter sein, auf der analytischen Ebene zu verbleiben, eine analytische Ebene über dem konkreten Leid zu sprechen und zuzuhören. Dass viele jenen Mut zum Konkreten nicht fanden, blieb den vortragenden ukrainischen Kolleg*innen nicht verborgen, denn sie besuchten am Vortag die gut besuchten Panels und sahen die Anzahl der Menschen, die dort zuhörten. Es war folglich sicher nicht die deutliche Solidaritätsadresse in ihre Richtung, die wir organisierenden Kolleg*innen uns gewünscht hätten.
Damit die Geschichten jedoch einen weiteren Leser*innenkreis erreichen können, soll diese Veröffentlichung bei zeitgeschichte|online dienen. Gewidmet ist die Publikation Julia Obertreis, der klugen Historikerin des östlichen Europas mit großem Engagement für die Ukraine, die das Panel initiierte und für die der Historikertag leider der letzte Einsatz werden sollte. Sie starb am 11. Oktober 2023 an ihrer schweren Krankheit.
[1] Andreas Kappeler: Revisionismus und Drohungen. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in: Osteuropa 71 (2021), Nr. 7, S. 67–76 doi: 10.35998/oe-2021-0054; Anna Veronika Wendland: Hilflos im Dunkeln. „Experten“ in der Ukraine-Krise. Eine Polemik, in: Osteuropa 64 (2014), Nr. 9-10, S. 13–33.
[2] Iryna Hamalij: Okupanty poschkodyly 43 saklady wyschtschoji oswity w Ukrajini, – Schkarlet, in: LB.ua online, 13. Juni 2022.
[3] Siehe Ministry of Education and Science of Ukraine: https://mon.gov.ua/ua/news/ministry-education-and-science-ukraine-launch..., zitiert nach: Yuliia Yevestiunia u.a. (Hrsg.): Science at Risk Monitoring Report. Ukraine 2022 – 2023: Threats to science and higher education after the full-scale Russian invasion, November 2023, S. 9.
[4] Richard Stone: Hero City. Kharkiv was Ukraine’s science hotbed until Russia attacked, in: Science 378 (6624), Washington D.C., 09. Dezember 2022.
[5] Yevestiunia u.a. (Hrsg.): Science at Risk Monitoring Report, November 2023, S. 13.
[6] Ministry of Education and Science of Ukraine: Education in emergency, URL: https://saveschools.in.ua/en/, abgerufen am 23.11.2023.
[7] Ministry of Education and Science of Ukraine (letter No. 3/4693-23 dated 25.08.2023), zitiert nach: Yevestiunia u.a. (Hrsg.): Science at Risk Monitoring Report, November 2023, S.9.
[8] Arnold Bartetzky, Karin Reichenbach: Biete Förderung, suche Wissenschaftler, in: FAZ online, 09.03.2022.
[9] Letter of the Ministry of Education and Science of Ukraine No. 1/3463-22 of 15.03.2022, zitiert nach: Yevestiunia u.a. (Hrsg.): Science at Risk Monitoring Report, November 2023, S. 6.
[10] Minfin: Wpersche wydatky na oswitu swedenoho bjudschetu u 2022 rozi peredbatschajut ponad 7% WWP ta stanowljat 392,2 mlrd hrywen | Kabinet Ministriw Ukrajiny, URL: kmu.gov.ua, zitiert nach: Yevestiunia u.a. (Hrsg.): Science at Risk Monitoring Report, November 2023, S. 9.
[11] Yevestiunia u.a. (Hrsg.): Science at Risk Monitoring Report, November 2023, S. 15.
[12] Zahlen nach Dies. u.a. (Hrsg.): Science at Risk Monitoring Report, November 2023, S. 12 und 13.
[13] Andrea Backhaus: Fedir Shandor: „Natürlich habe ich Angst, getötet zu werden“, in: Zeit online, 02.03.2023.
[14] Wiktorija Andrjejewa: Dyplomy, jaki nikoly ne wydadut: u Lwowi wschanuwaly pam'jat sahyblych na wijni s RF studentiw, in: UP.Schyttja online, 12. August 2022.
[15] Mark Sawenko: S potschatku wijny sahynulo 90 praziwnykiw ta studentiw KNU Schewtschenka, - rektor, in: ukranews online, 24. Oktober 2023.
[16] Vorgestellt wurde die Studie am 20. November 2023 in Berlin im Rahmen einer Veranstaltung des „Leibniz-Netzwerks östliches Europa“. Siehe Pressemitteilung der Leibniz Gemeinschaft vom 10.11.23, bzw. Bedrohte Wissenschaft. (abgerufen am 12.12.2023).
[17] Die psychologischen Folgen des Krieges in der Ukraine diskutiert Jurko Prochasko u.a. im Podcast Ostausschuss. Salonkolumnisten: Traumata und Zukunft der Ukraine mit Jurko Prochasko. Podcast Ostausschuss (S01E17) vom 07.05.23 (abgerufen am 12.12.23).