Mit dem Beginn der russischen Totalinvasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 war das Leben von Millionen Menschen bedroht. Tausende von Zivilist*innen, darunter auch Kinder, erlitten Traumatisierungen aufgrund der Raketenschläge, Luftangriffe, Artilleriebeschuss von Siedlungen an unzähligen Orten unseres Staates, aber vor allem an der Frontlinie. Viele von ihnen waren gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen, um einen sichereren Ort zum Leben zu finden und ihre emotionalen und physischen Kräfte zu regenerieren. Allein durch Lviv kamen in den ersten drei Monaten des Krieges 5 Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen. Viele Menschen mussten sich nicht nur um ihre Verwandten kümmern, sondern auch Unbekannten helfen, sich selbst evakuieren, als Freiwillige arbeiten oder für unterschiedliche Zwecke spenden. Alle diese Erfahrungen nahmen verschiedene Formen an: in Fotos, in Aufzeichnungen von Gedanken, beim Sprechen mit anderen über Emotionen und Gefühle, beim Verfolgen der Nachrichten und der Signale des Luftalarms. In allen Regionen des Landes mobilisierten sich die Menschen, alle in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich, um der Invasion zu widerstehen und um jenen Hilfe zu leisten, die sie brauchten.
Archivierung in Echtzeit
Mit Blick auf die sich überstürzenden Ereignisse und das Risiko, die erinnerten Erlebnisse zu verlieren, hat ein Team des Zentrums für Stadtgeschichte, einer historischen Forschungseinrichtung in Lviv (Lvivcenter), die Dokumentation dieses historischen Moments initiiert. Mit großer Unterstützung von internationalen Partner*innen wurden Projekte ermöglicht, deren Ziel es war, visuelle Dokumente des Krieges zu sammeln, ein Telegram-Archiv des Krieges einzurichten und Ego-Dokumente aufzuzeichnen, vor allem mündliche Selbstzeugnisse, Tagebücher und Träume. Sie wurden zur Grundlage des Lvivcenter-Forschungsprojektes „Dokumentation von Kriegserfahrungen“.[1]
Als eine der ersten Institutionen in der Ukraine begann das Lvivcenter gemeinsam mit wissenschaftlichen Organisationen in Polen, Luxemburg und Großbritannien die Umsetzung eines Dokumentationsprojekts für Oral History unter dem Titel "24.02. 22, 5 Uhr morgens: Zeugnisse aus dem Krieg".[2] Die Situation in der Ukraine änderte sich rasch, und wir setzten uns zum Ziel, die Erfahrungen der Menschen festzuhalten, um sie zu archivieren und für die Zukunft aufzubewahren.
Im Bewusstsein einer ganzen Reihe von Sicherheitserwägungen, ethnischen und methodologischen Herausforderungen, die mit Vorhaben dieser Art verbunden sind, erarbeitete das Projektteam gemeinsam mit Kolleg*innen, die Erfahrungen mit wissenschaftlicher Arbeit unter den Bedingungen extremer Gewalt haben, ein maximal flexibles Instrumentarium und Verfahrensformen mit komplexen Emotionen. So konnte das Risiko minimiert werden, gefährdete Interviewpartnerinnen und -partner einzubeziehen, und sichergestellt werden, dass Gespräche nur dort stattfanden, wo das unter einem Sicherheitsgesichtspunkt gerechtfertigt war. Wir zeichneten Interviews mit Menschen auf, die infolge der russischen Invasion geflüchtet waren, und auch mit Freiwilligen, die diese Leute auf die eine oder andere Weise unterstützten.
Im Zeitraum zwischen März und September war das Projektteam in 12 ukrainischen Städten und Gemeinden und sammelte 155 Zeitzeugnisse. Unsere Interviewpartnerinnen und -partner waren Frauen und Männer aus Kyjiv und 14 Gebietshauptstädten, außerdem aus verschiedenen kleineren Orten in acht Gebieten (Doneck, Zakarpattja, Zaporižžja, Kyjiv, Luhansk, Poltava, Charkiv und Cherson). All diese Geschichten betreffen den Kriegsalltag: das Leben unter Beschuss, das Umdenken über Werte; die Evakuierung und die Geographien, die eine ganz neue Materialität annahmen; das eigene Zuhause; die erstarrte und die geraubte Zeit, die Orientierung in den Informationsflüssen, das Suchen nach dem eigenen Platz, die Angst, die Liebe, das Vertrauen und die Hoffnung.
Gemeinsam mit ihren Interviewpartner*innen durchlebten die Mitglieder des ukrainischen Teams alle Umschwünge der ersten Kriegsmonate. Aber auch die Mehrheit von ihnen hatte ihr Zuhause aufgrund der Besatzungsherrschaft oder der Kriegshandlungen verlassen. Dank der schnellen Reaktion unserer ausländischen Partnerorganisationen, die Stipendien vergaben, konnte das Lvivcenter Forscher*innen aus Kyjiv, Charkiv, Zaporižžja und Mariupol aufnehmen und unterstützen, und außerdem jene, die schon 2014 die Erfahrung der Umsiedlung aus dem Donbas gemacht hatten. Daher unterschieden sich beim Projektstart die Teamteilnehmer*innen nicht wesentlich von den potenziellen Interviewpartner*innen.
Psychologische Unterstützung der Forschenden
Eine Supervision des Teams durch eine Psychologin und eine flexible Arbeitsorganisation für jede*n Forscher*in ermöglichten es, die heftigen Reaktionen auf traumatischen Stress zu überwinden und das Projekt effizient durchzuführen. Die Rolle der Psychologin beschränkte sich nicht auf Konsultationen nach Bedarf, sondern sie wurde faktisch Teil des Teams, da die Treffen mit ihr regelmäßig jede Woche stattfanden. Diese Treffen wurden nicht nur zu einem Ort, um Probleme und Herausforderungen zu besprechen, die mit der Durchführung der Forschung zusammenhingen, sondern sie waren auch ein geschützter Raum für die emotionale Entlastung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Dieser Ansatz hat sich zu 100 Prozent bewährt, weil er eine positive individuelle und gruppenbezogene psychisch-emotionale Dynamik bei den Teammitgliedern begünstigte und so auch eine positive Dynamik für die Realisierung des Projekts ermöglichte.
In den fast zwei Jahren der totalen russischen Militäraggression hat sich die Bevölkerung der Ukraine, vor allem ihre Wissenschaftsgemeinde, einigermaßen an die Kriegsrealität angepasst – das ist der menschlichen Seele eigen. Währenddessen hält der Krieg an und jede Nacht erleiden Städte und Dörfer jenseits der Frontlinie Dutzende von Raketen- und Drohnenangriffen. In den frontnahen Gebieten ertönt der Luftalarm mehrmals am Tag.
Das alles verstärkt den Dauerstress, der sich auf die Gesundheit und die Produktivität der Menschen auswirkt. Daher ist es unter den derzeitigen Bedingungen wichtig, dass das Lvivcenter dank der Zusammenarbeit mit ausländischen Partnerinstitutionen Forscher*innen aus den stärker bedrohten Regionen die Möglichkeit geben kann, in einer vergleichsweise ruhigen Region des Hinterlandes zu arbeiten.
Insgesamt ist die ukrainische Wissenschafts-Community, vor allem die geschichtswissenschaftliche, allen Kriegsumständen zum Trotz offener für Innovationen und für eine Neubewertung der historischen Vergangenheit und des kulturellen Erbes geworden, sei es im Rahmen unseres Staates, sei es in Europa oder in der Welt. Weiter zu leben und zu arbeiten, bedeutet für die ukrainischen Forscher*innen im jetzigen Moment vor allem eins: SIEGEN.
Übersetzung aus dem Ukrainischen von Anna Veronika Wendland.
[1] Siehe Dokumentuwannja doswidiw wijny, Website des Zentr miskoji istoriji Zentralno-Schidnoji Jewropy, abgerufen am 05.02.24.
[2] Siehe 24.02.22, 5 ranku: Swidtschennja s wijny, Website des Zentr miskoji istoriji Zentralno-Schidnoji Jewropy, abgerufen am 05.02.24.