Times Square in New York an Silvester 1999
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Paul Mannix, Times Square on New Years' Eve 1999-2000, New York, USA, Wikimedia Commons, CC BY 2.0.

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Paul Mannix, Times Square on New Years' Eve 1999-2000, New York, USA, Wikimedia Commons, CC BY 2.0.

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Paul Mannix, Times Square on New Years' Eve 1999-2000, New York, USA, Wikimedia Commons, CC BY 2.0.

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Paul Mannix, Times Square on New Years' Eve 1999-2000, New York, USA, Wikimedia Commons, CC BY 2.0.

Enttäuschte Erwartungen

Eine Zwischenbilanz zu den ersten fünfundzwanzig Jahren des 21. Jahrhunderts

Jahre, Dekaden und Jahrhunderte sind Konstrukte, an die sich der historische Wandel nicht hält. Dennoch laden Jubiläen zu Bilanzen ein. Nach 25, 50 oder 75 Jahren blicken wir zurück, bevor nach 100 Jahren die ganz großen Festakte starten. Zum Jahresende 2025 begehen wir nun auch das erste Quartal des 21. Jahrhunderts. Wie fällt das Zwischenfazit aus?  

Die Rückschau zeigt vor allem, wie ungewiss und unzutreffend Erwartungen an die Zukunft sind. In vieler Hinsicht war es bislang ein Jahrhundert der Enttäuschungen, die auf den Optimismus nach dem Ende des Kalten Krieges folgten. Zu Beginn des Jahrhunderts, im September 2001, erhielt Wladimir Putin noch großen Applaus im Bundestag, da viele auf eine Demokratisierung Russlands hofften. Auch in Deutschland schien die radikale Rechte besiegt, die in den 1990er Jahren in die Parlamente eingezogen war und massenhaft Gewalt ausübte. Heute sind rechte Nationalisten von Russland bis Argentinien vielfach an der Macht.

Auch die Hoffnung, Diktatoren und Kriege durch multilaterale Sanktionen und Interventionen einzugrenzen, scheiterte in den letzten 25 Jahren immer wieder. Während es in den 1990er Jahren noch gelang, etwa die Kämpfe und Gewalt im ehemaligen Jugoslawien einzudämmen, erscheint das bei heutigen Konfliktherden illusionär. Das massenhafte Morden in Staaten wie Sudan wird zugelassen, ohne dass die Weltgemeinschaft interveniert.

Die große Zäsur des neuen Jahrhunderts schien 9/11 im Jahr 2001 einzuläuten. Der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus blieb seitdem ein Leitthema. Die Mordanschläge, die London, Madrid und schließlich auch deutsche Städte erschütterten, dienten als Rechtfertigung für militärische Einsätze. In Israel begann die zweite Intifada und der Oslo-Friedensprozess scheiterte. Doch weder hohe Mauern noch Raketen auf Israels Feinde dämmten die Gewalt ein. Die langen US-geführten Einsätze in Irak oder Afghanistan führten nicht zum Aufblühen von Demokratien. Bislang zeigte sich vielmehr, dass religiös grundierte kulturelle Konflikte nicht militärisch zu lösen sind, sondern vermutlich nur durch beidseitige Kompromisse, die Vielfalt akzeptieren.

Mit Fehlannahmen ging auch die Entwicklung der Migration einher. Um 2000 schien Migration kein zentrales Thema mehr zu sein. Die Einschränkung des Asylrechtes, der begrenzte Zuzug von Spätaussiedlern und der Ausbau der EU-Außengrenzen ließen die Zuwanderung sinken. Das 21. Jahrhundert zeigte dagegen, dass Gesetze, Zäune und Entwicklungshilfe Migration nicht abbremsen. Kriege und Verfolgung, Klimawandel und Armut treiben Menschen weiterhin aus ihrer Heimat.

Gescheitert scheint auch die privilegierte Migration für bestimmte Gruppen, wie für hochqualifizierte Besserverdiener oder für christlich-europäische Kriegsflüchtlinge. Die um 2000 umworbenen indischen Programmierer kamen kaum. Ukrainer*innen wurden mit guten Gründen privilegiert aufgenommen, aber ihre Beschäftigungsquoten blieben auch nach drei Jahren sehr gering. Heute fehlen auf dem Arbeitsmarkt vor allem Menschen, die einfache Tätigkeiten ausüben.    

 

Enttäuschte Erwartungen: Die Digitalisierung

Die begrenzte Prognosekraft zeigte sich auch bei der Digitalisierung. Im Jahr 2000 sah kaum jemand voraus, welche Dynamik Social Media entwickeln würden. Ebenso wurden selbst Expert*innen davon überrascht, wie die digitale Kommunikation nur einige Jahre später per Smartphone den Alltag veränderte. Die dynamische Ausbreitung von KI-Programmen zeigt erneut, wie unabsehbar die digitalen Innovationen sind. Gewiss ist nur, dass sie weiterhin alle Lebensbereiche beeinflussen werden. Die Digitalisierung des Alltags ist bislang vermutlich die beständigste Signatur des 21. Jahrhunderts.

Doch selbst die Digitalisierung ging in den letzten 25 Jahren mit enttäuschten Erwartungen einher. Obgleich wir nun unsere Rechnungen und Steuererklärungen digital einreichen, hat die deutsche Bürokratie nicht abgenommen. Bei Behörden warten wir weiter auf Termine, um einen Antrag einzureichen. Mails, Zoom und Messenger beschleunigten unsere Kommunikation, aber alle klagen darüber, dass sie vor lauter Nachrichten und Meetings kaum Zeit für ihre Arbeit und Freizeit haben. Wir buchen Urlaube online, doch die Auswahl dauert ewig, und Monate vorher sind die Traumhäuser ausgebucht. Kurzum: Entgegen aller Erwartungen hat die Digitalisierung nur begrenzt dazu beigetragen, dass im 21. Jahrhundert Stress und Überlastung abgenommen haben. Im Gegenteil.

Die Digitalisierung barg das Versprechen der Demokratisierung. Social Media und andere Plattformen gaben vielen Menschen eine Stimme. Die veröffentlichten oft erstaunlich kluge, witzige und einflussreiche Dinge, obgleich sie keine studierten Edelfedern waren. Aber auch hier fällt die Bilanz nach 25 Jahren eher pessimistisch aus. Twitter, TikTok & Co förderten langfristig eher eine politische Radikalisierung und Polarisierung. Das gilt nicht nur für den Rechtsruck der Jungwähler.      

Auch der arabische Frühling unterstrich ab 2010, dass Social Media zwar massenhafte Proteste anstoßen konnten, aber die Waffen der Autokraten siegen. Die Hoffnungen auf Reformen in Iran platzten immer wieder. 2020 brach auch die letzte Demokratie des kurzen arabischen Frühlings in Tunesien zusammen. Assads Regime wurde in Syrien besiegt, ebenso der „Islamische Staat“. Aber in beiden Fällen war es der Kampf mit Waffen, nicht Social Media, der die Unterdrückung beendete. Social Media bremsten auch nicht den Vormarsch und die Kriege von Autokratien wie Russland. Nicht nur digitale Medien, sondern digital aufgerüstete Armeen werden über Machtfragen im restlichen 21. Jahrhundert entscheiden.

 

Klimawandel und Alltagsverhalten

Nicht minder ernüchternd fällt die ökologische Bilanz aus. Um 2000 war die steigende Erderwärmung längst allen bewusst. In Deutschland begann die rot-grüne Regierung mit dem Ausbau erneuerbarer Energien und dem Ausstieg aus der Atomkraft. Die Bekämpfung des Klimawandels schien technisch lösbar und sogar mit ökonomischer Prosperität vereinbar. Aber auch dieser kurze Aufbruch verlor rasch an Fahrt. Die einbrechenden Preise für Öl und Gas begünstigten Pipelines aus Autokratien, nicht mehr Solarzellen in Sonnenregionen. Die Flug- und Reisebranche boomte weiter. Und die steigenden Wohnungspreise trieben den Bauboom an. Obgleich bekannt ist, dass der Bau und Betrieb von Häusern für 40 Prozent des CO2-Ausstoßes verantwortlich ist, wuchsen die Ansprüche an große Neubauten, die die Vorstädte versiegeln. Die gebauten Träume aus Zement zeigen wie schwer Veränderungen im Alltag sind.

Zu den großen Erschütterungen des 21. Jahrhunderts zählte die Covid-Pandemie. Sie galt 2020 rasch als die Zäsur, die alles verändert: Als Ende des hedonistischen Großstadtlebens, der Großevents, des unbeschwerten Reisens, ja als Einbruch der Globalisierung. „De-Globalisierung“ wurde zum neuen Schlagwort, verbunden mit dem Protektionismus der Autokraten. Am Ende war die Pandemie ein weiterer Beleg dafür, wie unzutreffend die Prognosen im 21. Jahrhundert ausfielen. Von den Hardrockern in Wacken bis zu den Karnevalisten in Rio umarmen sich die Massen heute bei Events. Die Großstädte sind weiterhin gefragter denn je. Und trotz Zoom fliegen heute wieder deutlich mehr Menschen als 2019. Die Aufrüstung wird ebenfalls gewaltige ökologische Kosten auslösen. Die Angriffe auf Atomkraftwerke in der Ukraine unterstreichen, dass AKWs keine sichere Zukunftsoption sind. Von deren weltweitem Ende gingen um 2000 viele aus. Heute boomen sie in vielen Staaten.

Viele dramatische Krisen des 21. Jahrhunderts sind rasch in den Hintergrund gerückt. So galt nach 2007 die Finanzkrise als der Einbruch, der den Kapitalismus wandeln würde. Die ökonomische Krise, die Europa von Griechenland bis Irland erschütterte, schien die EU, den Euro und den Neoliberalismus als solchen mitzureißen. Abermals kam es anders, diesmal im positiven Sinne: Die Europäische Union und der Euro sind im Vergleich zu den frühen 2010er Jahren gefestigt. Und die einstigen Armenhäuser, von Irland bis Portugal, haben sich dank niedriger Steuern zu begehrten Oasen für Investoren entwickelt. Verstärkt wurde dadurch vor allem eines: Die wachsende soziale Ungleichheit, eine weitere globale Signatur des 21. Jahrhunderts.

 

Jenseits des Pessimismus

Die geplatzten Hoffnungen der letzten 25 Jahre legen es nahe, dem weiteren 21. Jahrhundert pessimistisch entgegen zu blicken. Erderwärmung, Kriege und Rechtspopulismus scheinen die Zukunft zu prägen. In früheren Zeiten gab der Generationswandel Hoffnung. Nun stimmen auch junge Menschen, besonders die jungen Männer im Osten, vor allem für die AfD. Früher dachte man, mit den Alten sterben die Nazis aus. Derzeit sind die alten Boomer, die künftig die Rententöpfe und Gesundheitskosten belasten, die treuesten Anhänger der demokratischen Parteien. Diese Generation hatte sich seit den 1970er Jahren vielfältig ehrenamtlich und politisch engagiert. Jetzt gilt sie als Ballast für die nächsten 25 Jahre, der man die Schuld für viele Probleme zuschiebt.

Natürlich gibt es vieles, was sich im 21. Jahrhundert verbessert hat. Das gilt besonders für die Gleichstellung von Frauen. Trotz weiterhin ungleicher Verteilung von Care Work partizipieren sie heute deutlich gleichberechtigter und selbstverständlicher in der Politik, Arbeit und Gesellschaft als im Jahr 2000. In der Gesundheitspolitik zeigt sich eine starke Resilienz: Tödliche Krankheiten, von Aids über Ebola bis Covid, konnten letztlich erstaunlich rasch eingedämmt werden.

Angesichts der Parolen der Rechten, die den Niedergang Deutschlands betonen, lohnt ein Blick auf Statistiken. So war es in den späten 1990er Jahren deutlich gefährlicher in deutschen Städten und Straßen. Die Zahl der Tötungsdelikte sank stark, ebenso die Zahl der Verkehrstoten. Einige Feuilletons beklagen zwar den Niedergang der Bildung, da Goethe, Kant und Adorno kaum noch gelesen würden. Tatsächlich bescherte das 21. Jahrhundert einen Ausbau der Bildungschancen, die mehr jungen Menschen Abitur und Studium ermöglichen als im scheinbar glorreichen 20. Jahrhundert. Die damals dominierenden Haupt- und Realschulen vermittelten zwar Gedichte von Schiller, aber kaum Fremdsprachen und Naturwissenschaften. Der deutsche Literaturkanon hat zweifelsohne stark an Bedeutung verloren. Die Abiturienten drängen nicht mehr zur Germanistik und Soziologie, sondern studieren heute vor allem BWL, Informatik, Jura, Medizin oder Ingenieurwissenschaften. Für die Bewältigung künftiger Herausforderung muss das nicht schlecht sein.

Die ersten fünfundzwanzig Jahre des 21. Jahrhundert strahlen keinen Optimismus aus. Aber es kann auch etwas Tröstliches haben, dass die Prognosen aus der Zeit um 2000 versagten. Das 21. Jahrhundert hat gezeigt, dass es anders kommen kann als geplant. Putins plötzlicher Tod oder Trumps Abwahl könnten neue Richtungen bescheren. Die Bewältigung der großen Zukunftsprobleme hängt jedoch nicht nur von einzelnen großen Männern ab, sondern vom Verhalten von uns allen. Wie wir konsumieren, wohnen und mit diskriminierten Gruppen umgehen, wird das nächste Quartal des 21. Jahrhunderts prägen. Wir alle haben es in der Hand, dass der Rückblick 2050 anders ausfällt.

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Zitation

Frank Bösch, Enttäuschte Erwartungen. Eine Zwischenbilanz zu den ersten fünfundzwanzig Jahren des 21. Jahrhunderts, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://zeitgeschichte-online.de/enttaeuschte-erwartungen