Der Hausflur eines Mehrfamilienhauses, ein Reigen singender Kinder, vielleicht ein Geburtstag, Alltag. Doch leidvoll deplatziert. Gewehrsalven schlagen den Rhythmus zum Kinderlachen. Der Takt einer Stadt. Der Pulsschlag Sarajevos. Krieg.
Der Blick über die Schultern Rahimas. Lange Gänge eines Restaurants in den frühen Morgenstunden. Wieder Alltag. Mitten in der Nacht. Arbeitskollegen zetern und auch hier ein merkwürdiger Schrittmacher. Schüsse? Böller. Nur das nahende Silvestertosen.
Die Regisseurin Aida Begić wählt einen sehr individuellen Zugang zur Thematik ihres zweiten Spielfilms „Djeca – Children of Sarajevo“. Die dokumentarischen Aufnahmen zeigen Kinder in Bosnien und Herzegowina während des Krieges. Es sind Einblicke in die Belagerung Sarajevos und den Versuch seiner Bewohner, sich den Alltag nicht nehmen zu lassen. Das Lachen der Kinder ist es, dem sich die Wirklichkeit nicht zu entziehen vermag. Dabei verweisen die Aufnahmen auf Begićs persönliche Beziehung zur Stadt und dem Krieg. Geboren in Sarajevo, studierte sie dort an der Hochschule für Darstellende Kunst in der Fachklasse Regie und erlebte die Belagerung der Stadt am eigenen Leib. Den Alltag beschreibt sie als dasjenige, mit dem sich die Bürger Sarajevos den unwirklichen Geschehnissen widersetzten. „Die meisten Menschen wissen, wie Krieg in etwa aussieht: Das Fernsehen hat daraus eine alltägliche Darstellung gemacht. Aber der Krieg ruft bei jenen Menschen, die ihn wirklich erlebt haben, etwas ganz anderes hervor. In Kriegszeiten handeln Menschen, oder versuchen wenigstens so zu handeln, als befänden sie sich in einer normalen Situation. Während der Belagerung von Sarajevo machten wir viele Theaterstücke, Filme, Feste, feierten unsere Geburtstage. Die Kinder spielten wie alle andern Kinder dieser Erde.“ Bereits in ihrem Debüt „Snijeg – Snow“ 2008 beschäftigte sie sich mit der Nachkriegsgeschichte Bosnien und Herzegowinas und schilderte den Überlebenskampf einer Gruppe von Frauen, die ihre Männer bei einem Massaker in Ostbosnien verloren haben. Ausgezeichnet mit dem Grand Prix de la Semaine internationale de la Critique in Cannes, ist auch Djeca dem ‘Danach’ des Krieges gewidmet. Allerdings als ausgesprochener Leisetreter.
Die Blockade Sarajevos, die in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1992 begann, markierte den Anfang des Bürgerkrieges in Bosnien und Herzegowina. Mit der Einnahme des Flughafens durch die Truppen der Jugoslawischen Volksarmee zog sich die Schlinge um die Stadt zu. Das Leid der Stadtbevölkerung endete erst am 29. Februar 1996 und bildete mit 1425 Tagen den längsten Belagerungszustand im 20. Jahrhundert. Nach offiziellen Angaben fielen der Einkesselung insgesamt mehr als 11.000 Menschen zum Opfer, unter ihnen allein 1.600 Kinder. Der gesamte Bürgerkrieg, der in der ersten Hälfte der 1990er Jahre das ehemalige Jugoslawien erschütterte, forderte nach letzten Schätzungen 100.000 bis 110.000 Tote. Zusammen mit den ca. zwei Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, den vergewaltigten Frauen und Mädchen, den Kriegsinvaliden, -witwen und -waisen und der unbekannten Zahl an traumatisierten Menschen wird es kaum eine Familie geben, die vom Krieg und seinen Folgen verschont geblieben ist. Einen traurigen Höhepunkt dieses Krieges bildete das Massaker von Srebrenica, bei dem im Juli 1995 serbische Einheiten mehr als 8.000 Bosniaken töteten und in Massengräbern verscharrten.
Es ist das Bewusstsein um diesen Geno- und Urbizid, das das Hintergrundrauschen des Films erzeugt. Sparsam eingestreute Dokumentaraufnahmen vermitteln einen Einblick in die Lebensverhältnisse der Zeit. Bilder aus den Schützengräben, die die Bewohner Sarajevos nutzten, um sich in der Stadt zu bewegen, um Wasser und Nahrungsmittel zu besorgen, um Feuerholz in den umliegenden Parks zu schlagen, um Verwandte und Freunde zu besuchen. Doch es sind Details dieser Aufnahmen, die den Zuschauer irritieren: Die spielenden Kinder im Schützengraben. Zwischen den geduckt laufenden Menschen. Sie backen Sandkuchen mit Joghurtbecherförmchen und wirken seltsam unbeeindruckt von der menschenfeindlichen Umgebung. Es ist Aida Begićs ausdrückliches Anliegen, das Alltagsleben auch als Ausdruck des Aufbegehrens zu begreifen: „Die Bilder des Alltags während der Belagerung drücken ein intimes und komplexes Gefühl der Erinnerung aus, das man nur sehr schwer in Worte fassen kann: die Erinnerung an den Krieg besteht aus Schreckensbildern, aber auch aus schönen Momenten. Es zeigt, dass der Widerstand nicht nur mit Waffen stattfindet. Den Widerstand findet man auch in der Kraft der Menschen, in ihrer Fähigkeit, in abnormalen Zeiten ein normales Leben zu führen.“
Der Film entwickelt sich dabei als ein soziales Drama. Die 23-jährige Rahima versucht, sich und ihren 14-jährigen Bruder Nedim als Küchenhilfe durchzubringen. Sie sind Kriegswaisen und Rahima übernimmt die mütterlichen Fürsorgepflichten für ihren Bruder. Erzählerisch lässt Begić die erlebte Katastrophe der Belagerung in den Hintergrund treten. In der geschilderten Nachkriegsnormalität ist sie, abgesehen von den seltenen dokumentarischen Einschüben, gleichsam unsichtbar. Es ist der Alltag, der im Fokus des Plots steht. Rahima hat ihren Bruder aus dem Waisenhaus zu sich geholt und versucht sich nun in ihrer neuen Mutterrolle zu arrangieren. Für ihr Bekenntnis zum muslimischen Glauben erntet sie allgemeines Unverständnis. Sie hat sich erst vor kurzem ‘verhüllt’. Etwas, das in ihrer Umgebung auffällt, nicht verstanden und vom Bruder zum Vorwurf formuliert wird. Es ist ihre Vergangenheit als Punk und Rebell, die den starken Kontrast zu ihrer neuen Gläubigkeit bildet. Nedim leidet unter der Religiösität seiner Schwester und gerät darüber mit dem Sohn eines Ministers aneinander. Man hänselt ihn in der Schule. Er prügelt sich. Doch alles entwickelt sich sensationell emotionslos. Die meisten Szenen sind ertränkt in einer Alltäglichkeit, die dem Zuschauer als quälende Langeweile entgegentritt und nicht mit dessen Erwartungshaltung an eine traumatisierte Nachkriegsgesellschaft zusammenpassen will. Das Böllerknallen als Silvestereinstimmung verweist den Zuschauer permanent auf die Schüsse der Belagerung. Doch die Charaktere des Films wirken demgegenüber gleichgültig, oft eindimensional. Entwickelte Spannungsbögen fallen in sich zusammen. Es ist die Gnadenlosigkeit des Alltags, die das Geschehen dominiert. Arbeit, Haus, Haus, Arbeit. Selbst der Tod einer Nachbarin scheint lediglich ein letzter Abgesang auf das Leben der kaum Leid erzeugt. Auch Verweise auf das politische System Bosnien und Herzegowinas, das mit dem Abkommen von Dayton 1995 geschaffen wurde, erfolgen nur selten und immer indirekt. Fernsehbilder im Hintergrund deuten auf den hochsubventionierten failed state: Neureiche, Wirtschaftskrise, Entlassungen, Politiker voller Gnaden.
Nur stellenweise brechen die Kriegserfahrungen aus Rahimas kontrolliertem Jetzt-Korsett. Sie droht dem Minister, der ihr ein ‘unmoralische Angebot’ unterbreitet, faucht ihre Chefin an, ohrfeigt ihren Bruder. Der berührendste Moment des Films ist Rahimas Abnehmen des Kopftuchs. Die voyeuristische Teilnahme im close-up kompensiert die verspürte emotionale Banalität des geschilderten Alltags. Der Kontrast zwischen zäher Kälte und gleichzeitig enthüllender Intimität bildet die Chiffre für das Verständnis des Films. Eine gelebte Normalität auch nach durchlebter Katastrophe, überwiegende Langeweile im Alltag mit all seinen sozialen Problemen und vor allem: stille Momente des höchst Persönlichen. Ein Leben jenseits der großen Showdowns. Hierin liegt das zutiefst Menschliche des Films. Pfannkuchen sind es, mit denen Rahima und Nedim zu guter Letzt die Silvesternacht besiegeln und sich für das kommende Jahr wappnen.
Children of Sarajevo (Djeca), Regie: Aida Begíc, Bosnien-Herzegowina 2012
Zur Website des Verleihs: http://www.trigon-film.org/de/movies/Djeca