von Annette Vowinckel

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1. September 2008

Der deutsche Film unterscheidet sich vom nordamerikanischen Film unter anderem dadurch, dass darin nicht annähernd so viel geballert und gesprengt und gerast wird wie in Hollywoodproduktionen. Wir haben keinen Sylvester Stallone, keinen Ridley Scott, keinen Quentin Tarantino und keine Angelina Jolie. Selten werden für hiesige Filme Autos geschrottet oder Kulissen gesprengt. „Der Baader-Meinhof-Komplex“ ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt: Tatsächlich scheint die Geschichte der RAF der Stoff zu sein, der einen deutschen Produzenten (Bernd Eichinger), einen deutschen Regisseur (Uli Edel), eine deutsche Produktionsfirma (Constantin Film) und die Top 20 der deutschen Schauspielerzunft dazu verleitet, es mal richtig krachen und kokeln zu lassen.

Dabei beginnt alles ganz friedlich: Zum Auftakt bittet Janis Joplin ganz freundlich: „Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz?“, und Ulrike Meinhof verbringt den Sommerurlaub mit Ehemann Klaus Rainer Röhl und den Kindern auf Sylt. Doch dann passieren die Dinge, die längst Geschichte sind: Der Schah kommt nach Berlin, Benno Ohnesorg wird erschossen, in Vietnam wird gebombt, die Springer-Presse hetzt gegen die Linke, bis auf Rudi Dutschke ein Attentat verübt wird und einige unter den protestierenden Studenten finden, dass verbaler Protest gegen die Ungerechtigkeit der Welt nicht (mehr) ausreiche. 1970 wird die RAF gegründet; bis 1972 verüben ihre Mitglieder eine ganze Reihe von Anschlägen mit reichlich Todesopfern, bevor sie im Anschluss an die „Mai-Offensive“ von 1972 im Zuge von Großfahndungen fast alle weggesperrt werden. 1975 beginnt der Prozess gegen Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe in Stuttgart-Stammheim. 1976 nimmt sich Ulrike Meinhof das Leben, im Oktober 1977 folgen die anderen drei Gefangenen, nachdem weder die Entführung Hanns Martin Schleyers noch die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ zu einem Geiselaustausch geführt hat.

Das alles wissen wir, und doch kommt im Kino keine Langeweile auf. Erstens, das wurde bereits erwähnt, wird viel geballert. Zweitens tauchen ständig bekannte Bilder auf, die wir in Sekundenschnelle im unserem visuellen Gedächtnis abgleichen müssen; drittens sind die Dialoge zum Teil recht scharf: Baader schreit viel herum und wirft mit frauenfeindlichen Begriffen und Plattitüden wie „Nur die Knarre löst die Starre“ um sich; im Ausbildungslager in Jordanien erweist er sich – was auf den Zuschauer durchaus erheiternd wirkt – als der interkulturellen 2 Kommunikation nicht mächtig („Was ist denn das für ne scheißrepressive Truppe hier“ – gemeint sind die jordanischen Ausbilder, die für Disziplin zu sorgen versuchen). Auch miteinander pflegen die RAFniks keinen allzu freundschaftlichen Umgang. Auf Meinhofs Frage, wie man die Welt politisch verändern wolle, entgegnet Baader: „Was’n das für ne scheißbourgeoise Fragestellung?“ Allerdings gibt es im Film auch bessere und schlechtere Terroristen. Zu den besseren gehören die von Baader und Ensslin erst in die Gruppe hineingezogene und dann in den Selbstmord getriebene Ulrike Meinhof, die ermordete Petra Schelm sowie Susanne Albrecht, die nach dem Mord an Jürgen Ponto (der eigentlich ‚nur’ hatte entführt werden sollen) einen Nervenzusammenbruch erleidet; zu den schlechteren gehören vor allem der rücksichtslose und vergnügungssüchtige Baader und die kalt berechnende Ensslin.

So betrachtet reproduziert der Film gängige Ansichten, die sowohl im populären als auch im wissenschaftlichen Bereich verbreitet sind. Darüber hinaus reproduziert der Film Bilder, die entweder dokumentarischer Natur sind, wie das Bild des erschossenen Benno Ohnesorg vor einem VW-Käfer oder das Bild von Rudi Dutschke beim Vietnamkongress im Hörsaal der Freien Universität Berlin. Diese Bilder werden annähernd exakt nachgestellt und dann in schwarzweiße Standbilder verwandelt, die vom Original kaum mehr zu unterscheiden sind. Immer wieder flimmern Original-Tagesschauen in 70er-Jahre-Optik über die Fernsehgeräte, und schließlich werden Passagen aus früheren RAF-Filmen zitiert, die ihrerseits bereits Inszenierungen sind. Die Szenen im Gerichtssaal beispielsweise zitieren Rainer Hauffs Film „Stammheim“ (1986), die Bilder vom Innenleben der entführten „Landshut“ in Mogadischu sind ein Zitat aus Heinrich Breloers Fernsehfilm „Todesspiel“ (1997).

Vor allem aber lebt der Film davon, dass uns seine Helden (im negativen wie im positiven Sinn) so merkwürdig vertraut sind. In einer genial ausgeklügelten Besetzung tauchen scharenweise Schauspieler auf, die in Deutschland Rang und Namen haben. Es ist ein wenig, als säße man in der Stammkneipe, und nacheinander schauen sie, wie alte Bekannte, alle mal rein. „Hallo Nadja“ möchte man rufen, als Nadja Uhl alias Brigitte Mohnhaupt auf die Leinwand tritt; „Hallo Heino“ (zu Heino Ferch) oder „Hallo Jan, wann kommt der nächste Tatort?“ (zu Jan Josef Liefers). Der Film schafft damit eine eigentümliche Vertrautheit, die den Zuschauer auf besondere Weise in das Geschehen einbindet (manchmal allerdings auch zum Schmunzeln bringt, zum Beispiel bei dem Anblick von Heino Ferch im Bundeskriminalamt).

Dabei vollbringt die gesamte Truppe eine mimetische Meisterleistung: Die Schauspieler weisen eine frappierende Ähnlichkeit mit ihren historischen Vorbildern auf, die nicht nur durch authentische Kleidung (wie Ensslins berühmte rote Lacklederjacke im Gerichtssaal[1]) und eine erstklassige Maske hervorgerufen wird, sondern auch durch die Nachahmung von Stimme und Modulation (auffällig gut bei Gedeck/Meinhof), von Mimik, Gestik und Habitus der historischen Vorbilder (mit der kleinen Einschränkung, dass Wokalek alias Ensslin nicht schwäbelt). Die Mimesis reicht so weit, dass Identitäten ineinander zu fallen scheinen: Martina Gedeck ist Ulrike Meinhof, Moritz Bleibtreu ist Andreas Baader, Johanna Wokalek ist Gudrun Ensslin, Nadja Uhl ist Brigitte Mohnhaupt, Hannah Herzsprung ist Susanne Albrecht, Katharina Wackernagel ist Astrid Proll.

Das Ziel ist die Produktion von Authentizität, die bei der Produktion von Dokudramen stets als Messlatte dient und die schließlich doch Illusion bleibt.[2] Was wir sehen, ist natürlich nicht die RAF, sondern das Bild von der RAF, das sich Aust/Eichinger/Edel gemacht haben und das ein anderes ist, als es zum Beispiel Gerd Koenen in seinem Buch „Vesper, Ensslin, Baader“ zeichnet.[3] Ironischer Weise endet der Film jedoch ausgerechnet mit einem Appell von Nadja Uhl alias Brigitte Mohnhaupt, ihre Genossen sollten endlich aufhören, die Stammheimer Gefangenen „so zu sehen, wie sie nicht waren“. Mohnhaupt geht es darum, dass die Gefangenen nicht als passive Opfer von Staat und Justiz dargestellt werden sollen, sondern als Personen, die ihrem Leben konsequent und selbstbestimmt ein Ende setzten. Gleichwohl wirft sie damit auch die Frage auf, inwieweit die Bilder, die wir uns von Personen wie Baader, Meinhof oder Ensslin machen, überhaupt „richtige“ Bilder sein können – und beantwortet sie (unfreiwillig, denn Mohnhaupt meint ja, die Stammheimer besser zu kennen) mit einem klaren „nein“. Ob dies in der Absicht der Filmemacher lag, steht indes zu bezweifeln.

Bleibt festzuhalten: Der Baader-Meinhof-Komplex ist ein von schauspielerischer Meisterleistung getragener, aufwändig produzierter und als solcher durchaus gelungener Actionfilm. Es bleibt außerdem festzuhalten: Die RAF-Geschichte ist, abgesehen vom Nationalsozialismus, das einzige Kapitel deutscher Geschichte, das sich des Actionfilms als würdig erweist. Doch anders als bei den NS-Filmen müssen die Macher sich darauf einstellen, dass man sie der Glorifizierung und Mythologisierung der RAF bezichtigen wird. Dieser Vorwurf stand bereits im Raum, als die Berliner Kunst-Werke 2005 die RAF-Ausstellung zeigten, und er wird auch den RAF-Film treffen, so sicher wie das Amen in der Kirche. Allerdings hat diesmal, ganz unerwartet, Frank Schirrmacher in der „FAZ“ eine Lanze für den Film gebrochen. Er ist der Meinung, der Film sei „‘Heartbreaking’ gegen eigenen Willen und eigene Absicht und ohne, um das gleich an die Adresse konservativer Sittenpolizisten zu sagen, die Täter gegen die Opfer auszuspielen. [...] Schrecklich und mitleiderregend das Leid der Opfer. Aber zu sehen, wie Ulrike Meinhof allmählich zu begreifen beginnt, was mit ihr geschieht, zu sehen, wie Martina Gedeck dieses langsame und in Wahrheit zutiefst von der eigenen Angst verängstige Erwachen spielt, ist sehr unangenehm für den Betrachter, der sein Urteil sich schon gebildet hat und sich nun korrigieren muss.“ Für Schirrmacher hat der Film „etwas von Paralleluniversum und also die Kraft, seine eigene Zeit zu setzen, und womöglich die Kraft, die gesamte RAF-Rezeption auf eine neue Grundlage zu stellen“.[4]

Im Gegenzug hat Jan Schulz-Ojala im „Tagesspiegel“ die Constantin Film AG als „Geschichtsentsorgungsunternehmen“ bezeichnet, das „sich des strahlenden zeithistorischen Restmülls der Nation“ annehme und ihn „im Endlager der bewegten Bilder“ versenke.[5] Wie dem auch sei: Damit, dass der Film die RAF-Geschichtsschreibung oder auch nur die Debatte über Ursachen und Folgen des Terrorismus in Deutschland nachhaltig verändern wird, ist nicht zu rechnen. Eher ist zu erwarten, dass der Film eine kollektive Katharsis bewirken wird. Anders als beispielsweise Andres Veiels sehr nachdenkliche RAF-Dokumentation „Black Box BRD“ stellt „Der Baader-Meinhof-Komplex“ nämlich keine komplizierten Fragen, sondern gibt Antworten, die weder richtig noch falsch sind. Sie liegen im Bereich des brutal Faktischen, mit dem man sich eigentlich nur abfinden kann – und gerade deshalb bieten sie sich so wunderbar für das Genre Actionfilm an. Für Historiker, die sich wissenschaftlich mit der Geschichte der RAF befassen, mag dies eine bittere Pille sein. Den Prozess der gesellschaftlichen Verarbeitung dieser Geschichte, der auf eine gewisse Trivialisierung angewiesen ist, werden sie nicht stoppen können.

Der Film, der mit der freundlichen Bitte nach einem Mercedes Benz begann, endet nach kurzweiligen 150 Minuten allerdings nicht mit einem platten historischen Fazit, sondern mit Bob Dylans Worten: „How many roads must a man walk down/Before you call him a man? [...] The answer, my friend, is blowin’ in the wind/The answer is blowin’ in the wind…“ Die RAF: Vom Winde verweht, in Hollywood gelandet.

 

 

 

[1] Gerd Koenen, Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln 2003, S. 170.
[2] Vgl. dazu in anderem Zusammenhang bereits Michael Wildt, „Der Untergang“: Ein Film inszeniert sich als Quelle, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 131-142.
[3] Wie Anm. 1.
[4] Frank Schirrmacher, Diese Frau brauchte mich ganz. Der Film „Der Baader-Meinhof-Komplex“ ist eine Befreiung von der Erziehungsdiktatur, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.9.2008, S. 25.
[5] Jan Schulz-Ojala, Extrem laut und unglaublich fern, in: Tagesspiegel, 18.9.2008, S. 29.