von Sebastian Kubon

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9. Februar 2022

 

Von den Simpsons ins Mittelalter

Matt Groening, der bekannte Schöpfer der Animationsserien „Die Simpsons“ und „Futurama“, hat sich mit „Disenchantment“ nun der Geschichte zugewandt. Die Serie (2018ff.) besteht bislang aus zwei Staffeln, von denen zum jetzigen Zeitpunkt dreißig von vierzig Folgen auf Netflix veröffentlicht wurden.[1] Am 9. Februar 2022 sollen die letzten zehn Folgen der zweiten Staffel veröffentlicht werden. Die Serie spielt in einer vormodernen Welt. Vielfach werden zwar Elemente genutzt, die eher der Frühen Neuzeit (oder auch der Antike) zuzuordnen wären, aber es ist eindeutig erkennbar, dass die Zuschauenden hier vor allem in ihren Vorstellungen vom europäischen Mittelalter angesprochen werden sollen.[2] Es überrascht daher kaum, dass Fantasy-Elemente, wie Drachen und Elfen etc., prominent einbezogen werden.[3] Hauptfiguren sind die trunksüchtige Prinzessin Bean mit dem Halbelfen Elfo und dem Dämon Luci im Königreich Dreamland.

 

Das Mittelalter boomt

Die Serie passt sich damit an den Mittelalter-Boom an, der seit vielen Jahren anhält. Dieser findet allerdings nicht an Schulen und Universitäten statt, an denen immer mehr Anteile der mittelalterlichen Geschichte in Unterricht, Forschung und Stellenausstattung gestrichen werden. Die Situation in Wissenschaft und Lehre ist gefühlt umgekehrt proportional zum Interesse an mittelalterlichen Sujets in der Popkultur. Die Fachwissenschaft selbst zeigt leider auch nur wenig vertieftes Interesse an solchen Phänomenen. In Filmen[4] und in letzter Zeit vor allem auch in (Streaming-)Serien ist immer häufiger das Mittelalter der Hintergrund der Handlung.[5] Das prominenteste Beispiel der jüngeren Zeit dürfte Game of Thrones sein, das es weltweit zum Forschungs- und Lehrgegenstand an den Universitäten gebracht hat.[6]

 

Das Mittelalter in der Popkultur…

Man tut den verschiedenen (aktuellen) Serien und Filmen mit Mittelalter-Setting sicherlich kaum Unrecht, wenn man ‚diagnostiziert‘, dass als tragende Elemente grob folgende Ausgestaltungen relevant sind: Das Mittelalter wird in aller Regel als weiß, patriarchalisch-männlich-misogyn-heterosexuell, religiös und wissenschaftsfremd, von Kampf und Gewalt sowie von einer klaren starr-hierarchischen Gesellschaftsstruktur geprägt gezeichnet. Dabei changieren die Vorstellungen von der mittelalterlichen Herrschaftsausübung nicht selten zwischen absolutistischer Königsmacht und charismatischer Führerherrschaft des 20. Jahrhunderts.

 

…und seine Probleme

Der stete Rekurs auf dieses sehr stereotype und bestenfalls konservative Mittelalter-Bild führt zu verschiedenen Problemen: Zum einen wird es natürlich dem komplexen Mittelalter – immerhin eine zeitliche Konvention, die ca. 1000 Jahre zusammenfassen soll – kaum gerecht. In diesen Serien der popkulturellen Darstellung wird in aller Regel fast ausschließlich auf das dunkle, gewalttätige Mittelalter rekurriert.[7] Die mittelalterliche Epoche war jedoch, wie die neueste Forschung mittlerweile sehr deutlich macht, wesentlich diverser und weniger monolithisch als es das Bild der meisten Serien und Filme suggeriert.[8] Insbesondere Herrschaft war deutlich mehr auf Konsens und Kooperation angelegt als es in der Regel dort skizziert wird.[9] Zum anderen bietet dieses Bild damit sogar Anknüpfungspunkte, oder doch nicht zuletzt wenigstens Überschneidungen zur politischen Nutzung des Mittelalterbildes durch die neuen und extremen Rechten,[10] in dem viele der genannten Aspekte noch radikalisiert werden, so z.B. durch einen starken antiislamischen und antisemitischen Impetus. Dort wünscht man sich in diese für ideal gehaltene Gesellschaftsformation des weißen, in seiner Herrschaftsstruktur deutlich ‚Führer-orientiert‘ vorgestellten Mittelalters zurück, das es in dieser Form so nie gegeben hat[11] – anders als es die allgegenwärtige visuelle popkulturelle Bearbeitung nahelegt.

 

Das „Disenchantment“-Mittelalter

Für all diejenigen, die ein solches Mittelalter erwarten, wie man es nun aus zahllosen anderen Filmen und Serien kennt, ist „Disenchantment“ sicherlich – im wahrsten Sinne – eine Enttäuschung. Zwar spielt Gewalt eine große Rolle, aber „Disenchantment“ zeigt ein Mittelalter, das nicht ausschließlich weiß ist, sondern in dem eine gewisse Diversität bei den Figuren abgebildet wird.[12] Dass die zentrale Agency bei einer trunksüchtigen jungen Frau liegt, die sich so gar nicht den Klischees einer Prinzessin entsprechend verhält und die die Erwartung an das vorherrschende (popkulturelle) Bild der Rolle der Frau im Mittelalter unterläuft, ist der wesentliche Kern der Serie und für viele wahrscheinlich überraschend. Auch ist das hier gezeigte Mittelalter eben ausnahmsweise mal nicht durchweg wissenschaftsfeindlich gezeichnet. Eindrücklich ist die Szene, in der in einer Bildergalerie ein Portrait einen Mann zeigt, der einen Globus hält. Die einzige Person, die diesen Umstand für merkwürdig hält, ist eine Figur, die als ausgesprochen tumb angelegt ist. Diese Episode zeigt sehr deutlich, dass den Machern der Serie bekannt ist, dass man seit der Antike durchaus wusste, dass die Erde eine Kugel ist – im Gegensatz zu den gängigen Klischees von den mittelalterlichen Vorstellungen.

 

Macht und Herrschaft in Dreamland

Am deutlichsten aber dürfte die Darstellung von Macht und Herrschaft den üblichen Stereotypisierungen von mittelalterlicher Herrschaftsausübung in Filmen und Serien zuwiderlaufen: Man findet in König Zøg von Dreamland – im Gegensatz zu vielen anderen Mittelalter-Serien – keinen Herrscher, der eine unumschränkte Führerfigur darstellt und der nicht in ‚absolutistischer‘ Weise herrschen kann. Vielmehr wird hier die gegenseitige Abhängigkeit von Herrschern und Beherrschten implizit gezeigt, bei der der König auf Kooperation mit seinen Untertanen angewiesen ist und für eine gerechte Herrschaft „Rat und Hilfe“ einholen, aber dafür gleichzeitig „Schutz und Schirm“ bieten muss.[13] Viele der komischen Momente in der Serie ergeben sich aus Situationen, in denen dieses gegenseitige Verhältnis von Herrschen und Beherrschtwerden[14] gestört wird.

 

Die Entzauberung der Mittelalter-Stereotypen?

„Disenchantment“ leistet damit mehr als die meisten Serien, die glauben, ein realistisches oder gar authentisches Abbild des Mittelalters liefern zu wollen oder zu können. Natürlich sind viele der Darstellungen in „Disenchantment“ auf die eine oder andere Weise problematisch. Dass aber hier die Thematisierung jedes üblichen Mittelalter-Klischees letztlich die zentrale Idee der Serie ist, ist anerkennenswert und sicherlich für viele eine intellektuelle Herausforderung. Die Pointe der Serie dürfte ohnehin sein, dass eigentlich gar nicht das Mittelalter oder eine wie auch immer geartete Vormoderne im Zentrum steht. Vielmehr wird die Überheblichkeit der Gegenwart aufs Korn genommen, alles Frühere, besonders alles Mittelalterliche, meinungsstark, aber kenntnislos für Idiotie und zurückgeblieben zu halten (oder es im Gegenteil eben zu glorifizieren). Dies geschieht durch die offensive Persiflage der Stereotypen über diese Epoche. Die Serie betreibt damit tatsächlich eine Art „Entzauberung“ der vielen problematischen Mittelalter-Konstruktionen der gegenwärtigen Popkultur. Man wird Matt Groening also nicht nur ein gutes Händchen für die Zukunft bescheinigen dürfen, wie die häufig zutreffenden Prognosen bei den „Simpsons“[15] belegen, sondern auch eine gedankenanregende Sicht auf die Vergangenheit bzw. Geschichte. Ob das auch bei den Zuschauer*innen entsprechend ankommt, oder ob diese hier nur ausschließlich eine Überzeichnung ins Groteske erkennen, wäre hingegen eine spannende Frage für die Rezeptionsforschung.

 


[1] Disenchantment, Matt Groening, Netflix, USA, seit 2018; letzter Zugriff 24.01.2022.

[2] In mehreren Folgen spielt die Serie in einer Steampunk-Welt; vgl. zu diesem Phänomen Stefanie Samida: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: Steampunk als Bricolage. In: Public History Weekly 6 (2018) 37; zuletzt abgerufen 16.12.2021.

[3] Zur mittlerweile beinahe selbstverständlichen Vermischung von Fantasy und mittelalterlicher Geschichte vgl. Paul Sturtevant: The Middle Ages in Popular Imagination. Memory, Film and Medievalism. London, New York 2018, bes. S. 32-36.

[4] Als erster Ansatzpunkt hilfreich: Thomas Fischer und Thomas Schuhbauer: Geschichte in Film und Fernsehen. Theorie – Praxis – Berufsfelder. Tübingen 2016. In diesem Buch werden aber Filme, die in „unmögliche(n) Welten“ spielen – in einer solchen unmöglichen Fantasywelt spielt „Disenchantment“ – von der Betrachtung leider ausgeschlossen, ebd., S. 34.

[5] Zum Mittelalter im Film vgl. die Beiträge des Sammelbandes: Mischa Meier und Simone Slanicka (Hrsg.): Antike und Mittelalter im Film. Konstruktion – Dokumentation – Projektion. Köln, Weimar und Wien 2007 sowie das Kompendium von Christian Kiening und Heinrich Adolf (Hrsg.): Mittelalter im Film. Berlin, New York 2006 und vor allem das monumentale Werk von François Amy de la Bretèque: L’imanginaire médiéval dans le cinéma occindetal. Paris 2004. Vergleichbares fehlt bislang für (Streaming-)Serien.

[6] Als erster Ansatzpunkt vgl. Carolyne Larrington: Winter is Coming. Die mittelalterliche Welt von Game of Thrones. Darmstadt 2016. Soviel Aufmerksamkeit von der geschichtswissenschaftlichen Welt hatte vorher wohl nur der Film „Der Name der Rose“ (ital. Originalausgabe 1980; deutsch 1982; Film 1986) nach dem Buch von Umberto Eco erfahren.

[7] Vgl. den klassischen Aufsatz von Otto Gerhard Oexle: Das entzweite Mittelalter, in: Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, hrsg. von Gerd Althoff. Darmstadt 1992, S. 7-28.

[8] Vgl. Seb Falk: The Light Ages. London 2020; Matt Gabriele und David M. Perry: The Bright Ages. A New History of Medieval Europe. New York 2021.

[9] Bernd Schneidmüller: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hrsg. v. Paul-Joachim Heinig et al. Berlin 2000, S. 53-87.

[10] Zur Instrumentalisierung von Geschichte durch die Neue Rechte vgl. Andreas Audretsch und Claudia Gatzka (Hrsg.): Schleichend an die Macht. Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen. Bonn 2020, bes. 31-37, wo auch der Rekurs auf die mittelalterliche Geschichte kurz angesprochen wird.

[11] Vgl. zu diesen Aspekten: Amy Kaufman und Paul Sturtevant: The Devil’s Historian. How Modern Extremists Abuse the Medieval Past. Toronto 2020. Der wesentliche Aspekt der Herrschaftsvorstellungen wird hier allerdings nur angerissen.

[12] Vgl. zu diesen und verwandten Fragen die Blog-Artikel-Serie: Race, Racism and the Middle Ages: Paul Sturtevant (Hrsg.): The Public Medievalist; letzter Zugriff 17.12.2021.

[13] So die geläufige Formel; vgl. Peter Moraw: ,Herrschaft’ im Mittelalter, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3. Stuttgart 1982 [NA 2004], S. 5-13, hier S. 8

[14] Ernst Schubert: „Landesherrschaft und -hoheit“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. V. München u.a. 1991, Sp. 1653-1656, hier Sp. 1655.

[15] Doch auch bei den Simpsons spielt zuweilen der Rekurs auf Geschichte eine Rolle, vgl. die Beispielstudie von Susanne Stamm: Gelbes Mittelalter. Die Simpsons und der Teppich von Bayeux, in: Blockbuster Mittelalter, hrsg. von Martin Fischer und Michaela Pölzl. Bamberg 2018, S. 205-215.