von Anne Chahine

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8. April 2017

English version down below

Köln: Dezember 2012
Ich sitze in einer Vorlesung zum Thema Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit an der Fachhochschule in Köln. Der Dozent ist hochmotiviert und berichtet von Ereignissen aus seiner journalistischen Arbeit. Begeistert erzählt er uns von einem Auftrag, der ihn vor kurzem in die neuen Bundesländer geführt habe. Er blickt in die Runde und fragt, ob denn jemand aus der ehemaligen DDR unter uns sei. Ein wenig verdutzt über diese Frage hebe ich zögernd meinen Arm. Die einzig andere Ostdeutsche in unserem Kurs hat sich geschickt aus seinem Blickfeld bewegt und hält den Kopf gesenkt. Plötzlich widmet mir der Dozent seine ganze Aufmerksamkeit. Ich bin sein Fixpunkt. Darauf versinke ich in meinem Stuhl und versuche mich unsichtbar zu machen. Zu spät.

Ich werde geradezu bombardiert mit Fragen über die Nacht, in der die Mauer fiel, über die Rolle der Frauen im Osten und wie ich mich mit meinem Leben „hier im Westen“ arrangiert habe. Von nun an bin ich seine Zeitzeugin, jene Person also, die seine Erfahrungen und Recherchen bestätigen kann und ihnen Leben einhaucht, sie quasi illustriert. Mir scheint, er spricht über ein Land am anderen Ende der Welt. Einen unzugänglichen Ort, der von der Mehrheit der Menschheit über sehr lange Zeit nicht zu erreichen war. Ein dunkles Nichts, regiert von grausamen Diktatoren, die ihr Volk über vierzig Jahre lang in Ketten legten. Ich bin verwirrt und werde zunehmend wütend. Die Fragen des Dozenten kann ich nicht wirklich beantworten, sie ergeben keinen Sinn, und ich versuche erfolglos, seinem durchdringenden Blick auszuweichen. Einem Blick, der eine irritierende Mischung aus Neugier und Mitleid in sich trägt. Mitleid für mich – die Fremde.

Ich war sieben Jahre alt, als die Mauer fiel. Ich verbinde wenig Konkretes mit meinen ersten Lebensjahren in der DDR. Die wenigen Erinnerungen sind jedoch meist positiv besetzt. Als Erstes fällt mir mein blaues Halstuch ein oder die zahlreichen Sportaktivitäten, an denen ich teilgenommen habe. Die Fragen des Dozenten bringen mich in Erklärungsnot und drängen mich in eine Ecke, in der ich mich fremd fühle. Ich bin unangenehm berührt von seinen Vorstellungen über die DDR. In mir kommt das Gefühl auf, etwas oder uns verteidigen zu müssen, ohne dass ich überhaupt je über ein "uns" nachgedacht habe, das es zu verteidigen gilt.

Berlin: Februar 2017
Über meine Identität als Ostdeutsche habe ich mir vor dieser Begebenheit in Köln nie Gedanken gemacht. Der Blick auf die Vergangenheit gestaltet sich in meiner Familie eher pragmatisch. Meine Eltern würde ich als Menschen beschreiben, die in der Gegenwart leben und vielmehr daran interessiert sind, nach vorn zu schauen. Der Fall der Mauer war aus ihrer Sicht eine geradezu erwartbare Notwendigkeit und die daraus resultierenden Freiheiten der Beginn einer Reihe unzähliger Reisen in die ganze Welt. Über die Zeit der Ungewissheit in den 1990er Jahren haben wir nie gesprochen. Und ich habe nie danach gefragt.

Die Auseinandersetzung mit meiner ostdeutschen Herkunft würde ich nicht als allgegenwärtige, sondern vielmehr als unregelmäßige Besucherin beschreiben. Das verstehe ich nicht unbedingt als etwas Negatives oder Ausweichendes. Dennoch erscheint mir eine Konfrontation mit Fragen an die Vergangenheit unausweichlich. Vor kurzem habe ich meinem Vater von einer Freundin aus Spanien erzählt, die seit knapp zehn Jahren in Deutschland lebt und arbeitet. Trotz ihres stabilen Arbeitsverhältnisses und eines gut funktionierenden sozialen Umfeldes ist die Integration aus ihrer Sicht noch lange nicht abgeschlossen. Noch immer versteht meine spanische Freundin es als täglichen Lernprozess, sich mit den zahlreichen kulturellen, sozialen und strukturellen Rahmenbedingungen ihrer Wahlheimat Deutschland auseinanderzusetzen. Zu meinem Erstaunen konnte sich mein Vater mit diesen Erzählungen ungemein gut identifizieren. Auch für ihn, so berichtete er, war es nach der Wende ein gutes Stück Arbeit, sich im geeinten Deutschland zu orientieren und die neuen Strukturen verstehen zu lernen.

Mein Vater hat seine eigenen Erfahrungen nach dem Fall der Mauer sozusagen gleichgesetzt mit den Erfahrungen einer Ausländerin im heutigen Deutschland. Obwohl meine Eltern nie ausgereist sind, waren sie 1989 Neuankömmlinge in einem neuen Deutschland, ihrem „eigenen“ Land, und mussten sich mit ähnlichen Herausforderungen auseinandersetzen wie vollkommen Fremde.

Power of the Past – ein Kurzfilmprojekt
Der Kurzfilm „Power of the Past“ (Kraft der Vergangenheit) ist im Rahmen des Masterstudiengangs Visual and Media Anthropology an der Freien Universität Berlin im Mai 2015 entstanden. Die Übung zielte darauf ab, gestalterisch frei und möglichst poetisch mit Film- und Bildmaterial umzugehen. Die einzige Vorgabe bzw. Inspiration stellte das Gedicht „Forza del Passato“ (Force of the Past) des italienischen Regisseurs und Dichters Pier Paolo Pasolini dar. Ich entschied mich dafür, die Zeilen Pasolinis umzuschreiben und meine eigene Familiengeschichte zum Thema des Kurzfilms zu machen. Pasolini beschreibt in seinem Gedicht einen Menschen, dem es unmöglich ist, sich in der modernen Welt zurecht zu finden und dem der Einfluss der Vergangenheit unbeschreiblich mächtig und allgegenwärtig erscheint. Ich denke, dass viele Menschen dieses Schicksal teilen. Das Festhalten an Gewohntem bzw. positiv besetzten Erinnerungen ist oft allzu verführerisch.

Mit dem Fall der Mauer lag den ehemaligen DDR-Bürgern über Nacht die ganze Welt zu Füßen, und es war plötzlich so vieles möglich. Gleichzeitig waren sie nun Teil eines ihnen fremden Gesellschaftssystems und mussten sich entsprechend arrangieren und anpassen. Auf die anfängliche Freude folgte oft knallharte Realität und Ernüchterung. Nicht wenige scheiterten an diesen Hürden und wünschten sich heimlich, aber oft auch lauthals die Mauer zurück. Meine Eltern haben die Wende als eine Chance begriffen und ihr Leben so gut es ging neu ausgerichtet. Die Vergangenheit ist mächtig, keine Frage. Sie zu überwinden oder schlicht aus ihr zu lernen, dafür benötigt der Einzelne Mut, Durchhaltevermögen und Stärke.

Um die Jahrtausendwende hatte mich mein Vater gebeten, alte Videoaufnahmen zu digitalisieren und sie vor einer möglichen Zersetzung zu retten. Just diese Videoschnipsel lagen also schon länger auf meiner Festplatte und warteten auf ihre Sichtung. Das private Archiv meiner Eltern bildete somit die visuelle Grundlage für das Projekt, und ein Teil der Bilder schaffte es somit wieder ans Tageslicht. Ich bin das Kind meiner Eltern und daher bin auch ich, ebenso wie sie, sehr pragmatisch. Ein anderer Teil meiner Persönlichkeit ist dagegen hoffnungslos chaotisch, hochemotional und sehr sensibel.

Das Projekt „Power of the Past“ ist ein intuitiver Schnellschuss und eher der chaotischen und emotionalen Ausprägung meines Charakters zuzuschreiben. Der Film ist eindeutig vor dem Erstellen eines Konzepts entstanden. Erst nachdem der Film fertig war, wurde mir bewusst, dass ich mit Hilfe der Filmsequenzen etwas zum Ausdruck gebracht habe, das ich verbal bis dahin nicht kommunizieren konnte. Als ich das Video in Umlauf brachte, war ich überrascht über die vielen Rückmeldungen meiner (ehemals) ostdeutschen Freunde. Sie konnten sich mit dem Film in hohem Maße identifizieren und waren glücklich darüber, ein Stück ihrer eigenen Kindheit noch einmal aufleben zu lassen.

Nachdem ich meinen Eltern den Film zum ersten Mal zeigte, saßen sie etwas irritiert und sprachlos neben mir im Wohnzimmer auf dem Sofa. Nach einem Moment des Schweigens ergreift meine Mutter das Wort und fragt verschmitzt: „Ist das eine Liebeserklärung an deine Eltern?"
„Ja, ist es,“ antworte ich.
„Das ist ja doll.“

Wir trinken noch einen Kaffee und bringen uns auf den neuesten Stand der Geschehnisse der letzten Wochen. Danach mache ich mich auf den Rückweg nach Berlin.

 

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Power of the Past (Kraft der Vergangenheit) - Eine ostdeutsche Familiengeschichte | 3min45s | 2015 |

Deutschland

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Power of the Past. A history of an East German family
(3min45s | 2015 | Germany)

Cologne – December 2012
I’m taking a university course called Journalism and PR. The lecturer is highly motivated and talks about his experience in the field as a journalist. The topic shifts to one specific assignment that sent him to the former German Democratic Republic and he asks if there is anyone from East Germany in the class. I raise my hand, still a bit startled by the question itself. I know there is one other woman in the class who comes from East Berlin; but she is clever and keeps her head bowed. Suddenly, all his attention is on me. I am his point of reference now. I slide down in my seat, trying to make myself invisible again, but I can’t.

I am bombarded with questions about the political system of the GDR, how I remember the night when the wall came down, about the different role of women and how I experience living in the West nowadays. I am his contemporary witness, the one person who can confirm his own findings. I feel like he is talking about a place on the other side of the planet, inaccessible to mankind for a very long time. A dark place ruled by a cruel dictatorship, holding its inhabitants in a tight grip for over 40 years.
I am confused and angry because I can’t answer most of his questions. I am trying to avoid his gaze, which holds a disturbing mixture of curiosity and pity for me – “the Other”.

I was seven years old when the Berlin Wall came down in 1989. I don’t remember much from the GDR but what I do remember is mostly positive. Usually, I connect it to the Pioneermovement and sporting activities. Nevertheless, I feel offended by my lecturer’s view of the GDR and its people. I feel the need to defend ‘us’, without being aware that there still is an ‘us’ to defend.

Berlin  February 2017
I had never really thought much about being an East German before the incident in Cologne. My family looks at the past in a rather pragmatic way. I would describe my parents as people who live in the present and like to look forward. In their understanding, the fall of the Berlin Wall was an expected necessity and presented to them the liberty to finally travel the world on numerous occasions. 

We never talked about the many uncertainties during the 1990’s.
And I never asked.
The inner dispute about my East German origin is not necessarily ubiquitous, but rather an irregular visitor. I don’t perceive this as something negative or evasive. But I do believe that the confrontation with the past is something that cannot be avoided in the long run.

Recently, I told my father about my friend from Spain, who lives in Berlin for more than 10 years now. In her opinion, even though she has a stable job and is surrounded by friends and family, the process of integration will never really come to an end. She describes her everyday encounter with German society as an ongoing learning process on a cultural, social and even structural level.

To my surprise, my father was able to identify with this story quite well. It has been hard work, he tells me, to orient himself in unified Germany and to understand how everything works in this new world.
My father somehow felt the need to draw a direct line between his personal encounter in the 1990’s as an East German and my friend’s experience as an immigrant nowadays. My parents have lived in the same area of Germany all their lives. Nevertheless, in 1989 they had turned into immigrants, without moving away. My father never shared these stories with me. And I never asked. Until now.

Power of the Past – a short documentary project
The short film “Power of the Past” has been developed as part of the master’s program Visual and Media Anthropology at the Freie Universität Berlin in May 2015. The assignment itself was aimed at dealing with media within a creative and poetic framework. The only inspirational source that we received beforehand was the poem‚ Forza del Passato’ (I am a force of the Past) from the Italian director and poet Pier Paolo Pasolini. I decided to rewrite the poem and made my family history the center of the short film. In his poem, Passolini describes a human being who is not able to come to terms with the modern world and who feels that the influence of the past is powerful and ever-present.

I believe that many people share this destiny. Clinging to things well known to us can be an ever-present temptation.
In 1989, a whole new world opened up for East German people and overnight so many things suddenly became possible.
At the same time, East German people were now part of a society unknown to them and had to arrange and adapt themselves to these new circumstances. The initial happiness and joy often turned into a tough disillusionment. Quite a few people failed at overcoming these hurdles and some of them even secretly wished for the return of the comforting wall itself.

My parents saw the reunification as an opportunity and arranged their life to the best of their abilities. The past can be overwhelming. You need strength, courage and resilience to overcome its ever-present influence and learn from it.
Around the millennium, my father had asked me to digitalize his old video footage to preserve it from degradation. Since then this video footage has been waiting on one of my hard discs for its re-discovery. My parents’ private archive forms the visual basis of this project and consequently some of these images were able to see daylight again.

As the child of my parents, a certain part of me is rather pragmatic and rational by nature. Another part of my personality is in contrast rather chaotic, highly emotional and quite sensitive.
The project “Power of the Past” is an intuitive, overhasty reaction and belongs to the chaotic and emotional part of my character. The film was created before developing any concept. I realized only after finishing the project that by composing these sequences I was able to express something visually that I had not been able to do verbally before.
After sharing the video, I was surprised by how many of my (former) East German friends responded to it. They were able to identify with the narration and were happy to relive a part of their own childhood through simply watching it.

When showing the film to my parents for the first time, the whole family was sitting beside each other on the living room sofa. After a moment or two of silence, my mother leaned forward and asked me with a slightly mischievous grin on her face, “Is this a declaration of love to your parents?”
“Yes, it is.” I said.
“Well, that’s quite nice.”

We soon have the usual coffee together and bring each other up to date. Afterwards, I head back to Berlin.