von Martin Schmitt

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1. April 2016

„[E]ine Atmosphäre wachsender Reizbarkeit und Ungeduld, die häufige Überreaktion auf geringfügige Herausforderungen und das zunehmende Gefühl des Verlierens der Zeit“[1] – so charakterisiert Joachim Radkau das Zeitalter der Nervosität in seinem Buch über die technische Veränderung der Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine Ausstellung in Berlin fragt nun, ob wir in Zeiten von Big Data, informationstechnologischer Abhängigkeit und wohlwollender Vollüberwachung unseres Lebens wieder am Rande eines Nervenzusammenbruches stehen. 

Unsere Umwelt ist menschengemacht. Wir leben im Zeitalter des Anthropozän, uns umgibt eine Infosphäre wie die Luft zum Atmen. Aber wie können wir ihr Entstehen erklären? Mit dieser Leitfrage initiierte der künstlerische Leiter des Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW), Anselm Franke, eine Ausstellungsreihe unter dem Titel 100 Jahre Gegenwart, die 2015 begann. Für Franke ist die Entstehung unserer globalen digitalen Welt nur in der historischen Rückschau bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs zu verstehen. Im Jahr 2013 hatte Franke mit dem Verschwinden des Außens eine Ausstellung zu Gegenkultur und Kybernetik konzipiert. Nun lenkt er, gemeinsam mit Stephanie Hankey vom Tactical Technology Collective, mit den Nervösen Systemen den Blick auf unsere Alltags- und Arbeitswelt, die inzwischen von digitalen Technologien bestimmt wird. Dabei rekurieren die Ausstellungsmacher/innen auf das Motto der diesjährigen Transmediale, einem der größten europäischen Festivals der Netzkultur, die ebenfalls am HKW stattfand und nach den verschiedenen Stadien der Angst im Digitalen Zeitalter fragte. Wie veränderte sich unsere Selbstwahrnehmung, seit wir uns primär innerhalb hoch-normativer Informationsumgebungen bewegen? Wie veränderte sich unser Blick auf die Welt, seit er hauptsächlich technologisch vermittelt wurde? Welche Rolle spielt das Individuum in den Netzen von staatlichen, wirtschaftlichen und privaten Akteuren? Bringt der Traum von System- und Selbstmanagement unbekannte Monster hervor, die wir nicht bewältigen können?

Ausstellungs-Aufbau: Sind Sie nervös?

Beim Betreten der Ausstellung wird der Besucher/in zuallererst mit einem Aufsteller des dänischen Künstlers Henrik Olesen konfrontiert, der die Entscheidung bei der Frage: How do I make myself a body? fordert.
Zur Auswahl stehen, neben dem Maschinenkörper und dem selbstversklavten masochistischen Körper, auch der Körper Alan Turings. Eine Hommage an dessen Konzeption des Computers als universelle Maschine. Gleichzeitig ist es auch der Verweis auf dessen Homosexualität, einer Orientierung, die im Großbritannien der 1950er Jahre nicht zur Wahl stand. Dergestalt entkörperlicht, aber noch nicht sonderlich nervös taucht der Besucher in ein Informationsuniversum ein.[2]

Die Ausstellung zeigt die Arbeiten von insgesamt 28 Künstler/innen und Wissenschaftler/innen. Inhaltlich vernetzt werden sie dabei von der Metapher der nervösen Systeme, eine Anspielung auf die Doppeldeutigkeit des englischen nervous system und gleichzeitig auf die kybernetische Analogiebildung des Computers als elektronischem Gehirn. Vor allem die frühen Kybernetiker um Norbert Wiener, Warren McCulloch und John McCarthy erhofften sich in den 1950er Jahren durch die Modellierung des Menschen als informationsverarbeitendes System einen Erkenntnisgewinn über dessen Verhaltensweisen. Dabei lieferten ihnen gerade neurologische Störungen Hinweise über die tieferen Funktionsmechanismen der menschlichen Psyche wie auch von Informationssystemen per se. Auf diese kybernetischen Prinzipien der Analogie und der Störung verweisen zahlreiche Arbeiten in der Ausstellung, die sich durch ihre historische Tiefenschärfe auszeichnen. Eingeordnet in die Reihe 100 Jahre Gegenwart stellen sie die Entwicklung datengetriebener Steuerungskonzepte und Selbsterfassungen des Menschen in Daten über den Zeitraum des letzten Jahrhunderts dar. Den Arbeiten ist durch ihren konkreten Blick auf das Individuum an einer sachlichen Darstellung jenseits von Techno-Utopismus und Dystopie gelegen, wie Anselm Franke in der Ausstellungsbeschreibung betont. Präsentationsmittel sind dabei neben Stellwänden auch sechsseitige Pyramidentische, sogenannte „Triangulationen“, deren Seiten jeweils in Kurzform durch ein Thema des Jahrhunderts führen.  Diese anschauliche Kombination aus längeren Textpassagen, Ausstellungsobjekten und Filmbeispielen funktioniert außerordentlich gut. Angeordnet sind die Tische und Wände innerhalb des Raumes in dem Grid, einem in sich durch Verweislinien verbundenen Raster, gleichsam selbst ein kybernetisches Informationssystem, dessen Teil der Besucher wird und mit dem er intra-agiert.

 

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Von analogen Navigationstechniken bis hin zum ersten Navigationsgerät aus den 1980er-Jahren: Historischer Informationsaufriss in den Triangulationen. Foto: Martin Schmitt

 

Von analogen Navigationstechniken bis hin zum ersten Navigationsgerät aus den 1980er Jahren: Historischer Informationsaufriss in den Triangulationen.
Foto: Martin Schmitt

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Paradebeispiel ist hier die Triangulation Orit Halperns, einer Medien- und Design-Historikerin der Concordia University in Kanada. Im Smart Mandat, so der Titel ihrer Triangulation, geht sie der Frage nach der Genese smarter Städte aus den kybernetischen Forschungslaboren des Kalten Kriegs nach. Sie beginnt mit einem Diktum des Vaters der Kybernetik, Norbert Wiener, der in der Stadt „vor allem ein Kommunikationszentrum“ sah, das „denselben Zweck [erfüllt] wie ein Nervenzentrum im Körper“.[3] Wieners Beschreibung überlasteter Infrastrukturen erinnert an die neurasthenischen Straßenbilder Ernst Ludwig Kirchners der Jahrhundertwende, deren buntes Gewirr aus Menschen und Gebäuden die Nervosität jener Zeit spürbar macht. Zwar versuchten die Stadtplaner, vor allem mit technologischer Unterstützung dieses Gewirr innerhalb eines ausgeglichenen Stromes von Datenpunkten einzuhegen. Allerdings stießen sie damit schnell an die Grenzen kontingenter Urbanität. Die Grenzen stadtplanerischer Bemühungen führt einem die zweite Seite der Triangulation Halperns vor Augen, auf der sie Nicolas Negropontes berühmtes Software Experiment aus den 1970er Jahren darstellt. Negroponte, digitaler Vordenker und zu jener Zeit Leiter des Media Labs am Massachusetts Institute of Technology (MIT), ließ in einer Ausstellung am Jüdischen Museum in New York Ratten in einer maschinengesteuerten, modellierten Stadtumgebung leben. Das Experiment ging furchtbar schief, es kam zu einem Hardware-Software-Konflikt, die Anpassungsmechanismen schlugen fehl und die verwahrlosten Ratten fielen in der Folge übereinander her. 1978 schließlich, die dritte Seite der Triangulation, entwarfen die Wissenschaftler aus der Forschungsgruppe Negropontes mit der Aspen Movie Map einen der ersten dreidimensionalen Stadträume im Auftrag des US-Militärs. Wie ein Vorläufer von Googles Streetview war die Aspen Map die interaktive Darstellung einer Stadt, die zu Trainingszwecken von Soldaten eingesetzt wurde. Eine Videoarbeit Harun Farockis hängt nicht von ungefähr in der Nähe. Halpern will darauf hinweisen, wie die Architekten solcher Modelle nicht nur einen virtuellen Raum gestalteten, sondern auch einen ganzen kulturellen Raum um ihn herum imaginierten, der in der Art seiner Nutzung und Interaktion bis heute wirkmächtig erscheint.

Ergänzt wird das Grid durch den White Room des Tactical Technology Collective. Im Stile der Apple Stores ganz in steriles Weiß gehüllt, steht der Zugriff der Aktivisten auf die wirtschaftlichen und staatlichen Grundbedingungen des digitalen Zeitalters im Vordergrund. Neben Verkaufsgesprächen zu datenschutzfreundlicher Technologie warten hier Kunstwerke auf den Besucher, welche die dominante Lesart alltäglicher Informationstechnologie als Verbesserung der Welt dekonstruieren. Nicht nur ein dreidimensionales Modell der Akquisen Googles seit 1998, dargestellt durch immer weiter ausgreifende Holzbalken in den fröhlichen Farben des Konzerns, der längst mehr als eine Suchmaschine ist, regen zur einer kritischen Reflexion der eigenen Datennutzung an, sondern auch zahlreiche Videoinstallationen über unsere alltäglichen Aktivitäten. Während die unbedarften Nutzer im vermeintlich geschützten Raum ihren Status posten, setzen „Einhörner“ – der technologische Fachbegriff für Startups, die mehr als eine Milliarde Dollar wert sind - mit dem aus unseren Daten generierten Gewinn zur risikoreichen Eroberung der Welt an, ruft uns das Werk The Shire entgegen.[4] Als Beispiel wählten die Künstler das Software- und Finanzunternehmen Palantir, das sich auf Big Data-Analysen von öffentlichen, privaten und ökonomischen Datensammlungen spezialisiert hat und inzwischen eines der reichsten Technologieunternehmen der Welt mit Verbindungen zu CIA, NSA und anderen Regierungs- und Finanzorganisationen ist.

 

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Lila Einhorn im privaten Wohnbereich vor Risikokarte.  So harmlos manche Unternehmen anmuten, steht im Hintergrund doch immer eines: Ihr Geschäftsinteresse, oftmals ein riskantes. Foto: Martin Schmitt

Lila Einhorn im privaten Wohnbereich vor Risikokarte. So harmlos manche Unternehmen anmuten, steht im Hintergrund doch immer eines: ihr Geschäftsinteresse, oftmals ein riskantes. Foto: Martin Schmitt

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Digitales Finanzwesen und anatomische Paranoia

Aus Sicht des Digitalhistorikers[5] mit einem spezifischen Interesse an den finanzwirtschaftlichen Dimensionen des digitalen Wandels und seiner Wechselwirkung mit dem Menschen fallen vor allem die Werke von Ben Hayes, Emma Charles und die Retro-Digitalisierung des Films Ellis D. Kropotechev and Zeus, a marvelous Time-Sharing device ins Auge, das bereits leicht nervös zuckt.[6]

Grundlage aller Quantifizierung des  Lebens war das interaktive Computing. Unter Mitwirkung John McCarthys, Time-Sharing Pionier und prägend für den Begriff der künstlichen Intelligenz, produzierte der damalige Stanford-Student Arthur M. Eisenson im Jahr 1967 einen Film über die neue Technik. Der Film zeigt einen jungen Programmierer in Zeiten, als Computer noch mit der Stapelverarbeitung operierten und ein Rechnerlauf gerne einen ganzen Tag dauern konnte. Erst mit dem Time-Sharing, also der gemeinsamen, interaktiven Nutzung der Rechenleistung eines Computers beschleunigte und vereinfachte sich deren Benutzung deutlich. Architektur, Programmierung, aber auch militärische Anwendungen profitierten beträchtlich vom Time-Sharing. Ohne diese Technologie wären viele der interaktiven, individuellen Daten- und Überwachungspraktiken, die in der Ausstellung zu sehen sind, undenkbar. Das Video ist Dokument einer Zeit, die angesichts ubiquitärerer Rechenleistung schon fast vergessen ist, aber verdeutlicht, wie tiefgreifend der digitale Wandel innerhalb einer kurzen Zeit war.

 

Computernutzung in den 1960er Jahren konnte mühsam sein:
Arthur M. Eisensons D. Kropotechev and Zeus, a marvelous Time-Sharing device.
Video: Youtube, User: Kobe Vrancken: Ellis D. Kropotchev Silent Film, Veröffentlicht am 18.05.2014

 

Am Beispiel einer Videoinstallation über Lower Manhatten veranschaulicht die Künstlerin Emma Charles in Fragments on Machines, wie sich die rohen Industriegebäude des 19. Jahrhunderts allmählich in Serverfarmen des Digitalen Zeitalters verwandeln. Charles begleitet mit langen Einstellungen die Fassaden der Backsteinbauten, die Installation von Server-Racks und das Innenleben der Rechenzentren, die im Auftrag von Banken arbeiten. Für sie vollzieht sich mit der Digitalisierung der Kreditwirtschaft ein Morphing der Marx’schen Geschichte der Industrialisierung in die Gegenwart.[7] Marx beschrieb, wie sich der Produktionsprozess von anfänglicher Arbeitsteilung über die umfassende Automation der Arbeitsschritte bis hin zur immer größeren Integration von Mensch und Maschine entwickelte. Am Ende blieben die Arbeiter entfremdet zurück. Ähnlich ging es den Bankern, deren Aufgaben zergliedert, automatisiert und immer stärker integriert wurden, wie auch ihren Kunden, deren Daten informationalisiert auf den Servern ruhten. Inzwischen arbeiten, so Emma Charles, die Maschinen nur noch, bedient von wenigen Menschen, in einer zunehmend entleerten, von der Arbeit entfremdeten Stadt.

 

Virtueller Rundgang durch einen Teil der Ausstellung.
Im Zentrum Emma Charles Videoarbeit Fragments on Machines.
Video: Martin Schmitt

 

Nach den Veränderungen unserer Arbeitswelt durch Mechanismen der Quantifizierung und Informationalisierung fragt auch Nishant Shah in seiner Triangulation Mechanical Labor. Körper und Technologie seien nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern die Technologie als Ausdruck, ähnlich wie die Maßeinheit der Körperlichkeit. Damit wendet er sich gegen das Diktum Marshall McLuhan’s von der Technik als Ausweitung und Verbesserung des Körpers, also den Internetkabeln als dem Nervensystem, das sich über die Welt stülpt.[8] Technik ist für Shah Voraussetzung für unsere Existenz. Er beginnt mit den medizinischen Checklisten, die Fabrikbesitzer in den 1920er Jahren über ihre Arbeiterinnen erstellten, indem sie ihren gesamten Körper von ihrem Gesundheitszustand bis hin zu ihrer Periode minutiös zu erfassen suchten. Diese körperlichen Erfassungsmechanismen konnten im Digitalen Zeitalter auf den Menschen externalisiert werden, sei es in Form von Fitnessarmbändern oder mit Hilfe zahlreicher Apps. Als Beispiel für den sich dabei vollziehenden Entfremdungseffekt führt Shah den invisible boyfriend an, einem Onlineservice, bei dem Frauen für 25 Dollar ihren virtuellen Traummann erschaffen und Crowdworker sowie eine Software mit künstlicher Intelligenz die Beziehungsarbeit in der Beantwortung von Textnachrichten übernehmen. Einige der Frauen verliebten sich in ihr real-virtuelles Gegenüber, einige der Crowdworker wurden nervös und stiegen aus angesichts des emotionalen Fremdbetruges wie auch eines erschreckenden Gefühls von ferner Nähe. Sind das erste Anzeichen eines Panikherzens?[9] Hier hätte mehr Potenzial gelegen für die Frage, wie und aus welchen Motiven sich der Mensch in das gemachte Nest/Werk digitaler Arbeitsauslagerung setzt und selbst seine emotionale Versorgung an die Technik delegiert. Körperlichkeit und Identität werden mit Technik hervorgebracht. Ein direkter Rückverweis auf die Arbeit Olesens. Spätestens jetzt ruft das Smartphone in der Tasche des Besuchers ein Gefühl des Unwohlseins hervor und fragt: Mit wem schreibst du da eigentlich? Zeig mir deine Apps, und ich sage dir, wer du bist.

 

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Besucherin als Teil des Informationssystems  Foto: Martin Schmitt.

 

Besucherin als Teil des Informationssystems.
Foto: Martin Schmitt

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Ab wann ein Kunde für eine Bank zu einem Risiko wird, erkundet Ben Hayes in seiner Arbeit Anatomical Paranoia. Indem er schlicht die Kündigungsschreiben von Banken abdruckt, die ihren Kunden aufgrund interner Risikoanalysen und externer Regularien ohne eine genaue Begründung kündigen, verdeutlicht er auch die Fragilität unserer finanziellen Identitäten. Ohne Girokonto fällt ein Überleben in der modernen vernetzten Welt schwer, aber der Weg, zu einem der vielen unbanked people zu werden, kann sehr kurz sein. Er ist nicht viel länger als einige Zeilen auf Papier. Oft ist es für die Bank teurer, den Anfangsverdacht der Softwaresysteme wie von der Firma Palantir zu überprüfen, als dem Kunden direkt das Konto zu kündigen. Die nervösen Zuckungen der Märkte an einem Ende der Welt übertragen sich in den hochvernetzten Systemen bis in die sozialen Kapillaren, die zwischenmenschlichen Beziehungen des Nervensystems "Gesellschaft". Das Tactical Tech Collective wies im White Room bereits eindrucksvoll darauf hin, wie in China mit Hilfe eines Scoring-Verfahrens aus Kreditwürdigkeit eine Sozialwürdigkeit werden konnte. Sozusagen als eine „Entscheidungshilfe“ für die Personalverantwortlichen in Vorstellungsgesprächen, für die Partnersuchenden auf Dating-Plattformen – oder für den Staat? Deutlich wird hier das Paradox, das in der Übersetzung von biologischen Systemen in technologische Systeme liegt, mit deren Hilfe die Menschen eine weitreichende Kontrolle über das Leben zu erlangen suchen, Fehler ausmerzen wollen und absoluter Effizienz huldigen. Tatsächlich beschränken sich die Nutzer der Systeme aber in den konkreten Anwendungen selbst, spätestens dann, wenn die neuen Technologien letztlich nur kommerziellen Zwecken dienen. Mit seiner Arbeit setzt Ben Hayes fort, worauf bereits Orit Halpern hinwies: die Auseinandersetzung mit kybernetischen Analogiebildungen zwischen technischen und menschlichen Systemen.

Der Ausstellungsaufbau zeichnet sich überhaupt durch die feinen Querverbindungen aus, die sich innerhalb des Raumes zwischen den einzelnen Objekten spannen. Und schließlich wird selbst der Besucher Teil der Schau. Er kann in den Handbücher des Algorithmic Trading blättern, den Nachbau des Zimmers Julian Assanges in der Ecuadorianischen Botschaft in London erkunden oder einfach nur den Videos folgen, deren Ton unter zielgerichteten Boxen nur er allein hören kann. Er kann sehen, wie Videokameras ihn wahrnehmen, und nachvollziehen, wie er mehr und mehr Teil der navigierbaren digitalen Welt wird.
 
Aber was bietet uns Erlösung von der Nervosität, wenn die digitale Totalverweigerung schon längst nicht mehr möglich ist? Vielleicht die historische Gewissheit, dass das alles so neu nicht ist? Oder die Menschen ganz in Weiß, die im steril leuchtenden Raum am Ende des Systems warten?

 

 

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Pressegrafik HKW Ausstellungsansicht The White Room Erlösung von der Neurasthenie? Mitarbeiter/innen des Tactical Technology Collectives © Laura Fiorio / Haus der Kulturen der Welt

 

Pressegrafik HKW Ausstellungsansicht The White Room. Erlösung von der Neurasthenie?
Mitarbeiter/innen des Tactical Technology Collective
© Laura Fiorio / Haus der Kulturen der Welt

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Fazit

In ihrer perspektivischen Vielfalt überzeugt die Ausstellung. Der Besucher verlässt sie mit einem anderen Blick auf die Praktiken der Datennutzung im Digitalen Zeitalter und ihrer Genese im Laufe des 20. Jahrhunderts. Neben den zahlreichen Videoinstallationen, für die er/sie ausreichend Zeit mitbringen sollte, vermitteln vor allem die Triangulationen einen schnellen Überblick über die einzelnen Aspekte heutiger Kommunikationssysteme. Nicht immer greift die Metapher der Nervosität, lassen sich viele der Prozesse doch besser mit anderen Konzepten wie dem der Optimierung erfassen. Unerklärt bleibt auch die Frage, warum bei manchen Menschen die Nervosität selbst nach den tiefgreifenden Erkenntnissen ausbleibt, die Edward Snowden an die Öffentlichkeit brachte. Vielmehr stand wohl die schöne Doppeldeutigkeit dem Titel Pate, das die englische Übersetzung der nervous system bot.

Dennoch bietet die Ausstellung unter dem Rubrum der Nervosität neue Blickwinkel auf zahlreiche Prozesse individueller Datennutzung, die einer Reflexion harren. Die Hinzunahme einer dezidiert historischen Lesart liefert einen echten Erkenntnisgewinn und hilft, eben nicht in Panik zu verfallen, sondern die Wandelbarkeit und Kontingenz der Entwicklung zu erkennen – gerade letztere hätte angesichts der Machbarkeitsphantasien einen größeren Stellenwert einnehmen können. Kybernetische Prognosemodelle rechnen nicht mit dem Faktor Zufall - und das führt oft zu ihrem Scheitern.

Leider werden die Objekte dem Anspruch einer sachlichen Darstellung nicht immer gerecht, rutschen sie doch häufig in eine normative Kritik der Praxis von Informationssammlung und -verarbeitung und deren Wechselspiel mit dem Individuum ab. Kurz gesagt: Sie malen individuelle Datennutzung schwarz. Informationstechnologie kann das Leben ungemein bereichern. Die positiven Seiten ihrer Nutzung kommen in der Darstellung jedoch oft zu kurz. Das ist zwar keineswegs verwerflich, richtet sich die Aufmerksamkeit der Menschen doch nur allzu selten auf die tatsächlichen Konsequenzen, die sich aus der Technologienutzung ergeben, bevor es zu einem GAU kommt. Aber die Frage, warum sich eigentlich so viele Menschen freudestrahlend den neuen technologischen Möglichkeiten trotz eines unguten Gefühls in die Arme werfen, wird nicht thematisiert. Es ist eine Mischung aus Sicherheits- und Selbstdarstellungsbedürfnis, dem Wunsch zu „zählen“, zu kommunizieren, sichtbar zu werden, gepaart mit einer rationalen Bequemlichkeit, die viele Menschen dazu treibt, sich der nervösen Systeme anzunehmen. Ausdruck der Systemnutzung ist die schizophrene Freude wie auch der Stress, den der permanente Nachrichtenstrom auf dem eigenen Smartphone auszulösen vermag, wenn der Nachrichtenton wie eine Pawlow’sche Glocke dem Menschen vermittelt: Du bist wichtig. Motivation ist jedoch auch das zutiefst menschliche Bedürfnis, sich mit anderen Menschen auszutauschen und mehr über den anderen zu erfahren.
Schon allein um mehr über jene Bedingungen zu erfahren, unter denen sich dieser Austausch vollzieht, lohnt sich der Ausstellungsbesuch für jede/n, der Informationstechnologien nutzt.

 

Die Ausstellung Nervöse Systeme ist im Haus der Kulturen der Welt (Berlin) noch bis zum 9. Mai 2016 zu sehen.

 

[1] Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, München [u.a.] 1998, S. 459.
[2] Referenz auf den Akten-Charakter der Präsentation der Ausstellungstücke, die einen quellengestützten Blick auf 100 Jahre Gegenwart eröffnen.
[3] MIT Archives, Wiener Papers, Box 29A, Ordner 638.
[4] Tactical Technology Collective in Kooperation mit La Loma: The Shire. 2016, Modell.
[5] Unter Digitalgeschichte ist eine „neue historische Perspektive auf die fundamentale Umwälzung klassischer historischer Kategorien wie beispielsweise Raum, Zeit, Identität, Arbeit oder Nationalstaat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Informations- und Kommunikationstechnologien [zu verstehen]. Digitalgeschichte beschränkt sich nicht nur auf die Computergeschichte als Geschichte eines spezifischen Artefaktes, sondern umfasst alle auf binärdigitaler Codierung basierenden, elektronischen Technologien, beispielsweise auch Kommunikationsnetzwerke oder Mensch-Maschine- Hybride“. Vgl. Martin Schmitt et. al.: Digitalgeschichte Deutschlands, In: Technikgeschichte 83, H. 1, 2016, S. 33-70. Zur Definition S. 33-34.
[6] Arthur Eisenson: Ellis D. Kropotechev and Zeus, a marvelous Time-Sharing device, 1967, Digitalisierter 16mm-Film, Farbe, Ton; 9’. Courtesy Stanford University, Department of Computer Science, Films, Stanford Digital Repository.
[7] Morphing „ist ein computergenerierter Spezialeffekt bei Ton- oder Bildaufzeichnungen. Beim Morphing werden zwischen zwei Einzelbildern bzw. zwei Klängen Zwischenübergänge berechnet. Im Gegensatz zur Überblendung wird beim Morphing ein Bild in ein anderes Bild durch Einsatz von zusätzlichen gezielten Verzerrungen überführt“ (Seite „Morphing“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 27. April 2015.  (Abgerufen: 12. April 2016). Als Metapher beschreibt Morphing einen Übergangsprozess von einem historischen Zustand in den nächsten, der zwar erkennbare Züge einer bereits dagewesenen Situation enthält, aber mehr ist als eine direkte Wiederholung der Geschichte.
[8] „By continuously embracing technologies, we relate ourselves to them as servomechanisms. That is why we must, to use them at all, serve these objects, theses extensions of ourselves, as gods or minor religions”, McLuhan, Marshall/Fiore, Quentin: The medium is the massage. An inventory of effects, New York [u.a.] 1967, S. 46.
[9] Von Stuckrad-Barre, Benjamin: Panikherz, Köln 2016. Darin greift er die Geschichte der Popkultur der letzten 20 Jahre auf.