von Eva Schöck-Quinteros, Sergio Grez

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22. Oktober 2020

Chile despertó – Chile ist aufgewacht

Im Oktober 2019 begann in Chile eine Aktion von Schüler*innen gegen die Erhöhung der Fahrpreise für die Metro, die sich unglaublich schnell zu einem aus vielen verschiedenen Gruppen getragenen Estallido Social beziehungsweise einer Rebelión popular entwickelte. Breite und Intensität der sich bald über das ganze Land erstreckenden Bewegung ist neu. Ein von Anfang an auf Plakaten und Mauern häufig verwendeter Satz beschreibt die Stimmung: „Sie haben uns alles genommen – auch die Angst“ (span.: „Nos quitaron tanto, que hasta nos quitaron el miedo“).
Trotz des immer wieder verhängten Ausnahmezustandes und der eskalierenden Gewalt der Carabineros, trotz der über 30 Toten, Tausenden Verletzte, darunter über 400 durch Schüsse verursachte schwere Augenverletzungen und der rund 2.500 Verhafteten, gehen nicht nur junge Menschen auf die Straße und fordern ein Leben in „Dignidad“ ein – ein wichtiger, wenn nicht der zentrale Begriff der Aktivist*innen. Mit diesem Begriff eng verbunden ist auch die Erinnerung an „Unidad popular“, an den Präsidenten Salvador Allende, wieder breit belebt.
Wichtigste Forderungen der Rebelión popular sind: Wiederherstellung des Gesundheitswesens, der Alterssicherung, des Bildungssystems und der Wasserversorgung als öffentliche Güter – und damit Rückgängigmachung der Privatisierung. Am 25. Oktober stimmen die Chilen*innen ab, ob sie eine neue Verfassung wollen oder ob die unter Pinochet im Jahr 1980 geschaffene Verfassung weiterhin bestehen bleiben soll. Mehr als 14 Millionen Menschen können wählen, darunter etwa eine Million Chilen*innen im Ausland. In Chile gibt es weder Brief- noch elektronische Wahl, die Abstimmung findet ausschließlich vor Ort statt – und dies obwohl Chile eines der weltweit zehn Länder mit den meisten Infektionen (24.622 pro Million Einwohner) und mehr als 13.000 Todesfällen aufgrund der Covid-19 -Pandemie (Stand: 20.10.2020) ist. Die Pandemie nutzte Präsident Piñera, um das Datum des Plebiszits um ein halbes Jahr, vom 26.4. auf den 25.10. zu verschieben. Umfragen lassen auf einen positiven Ausgang hoffen. Das Tor zu einem neuen Chile kann sich am 25. Oktober öffnen; der Weg zu einem Chile, das allen Chilen*innen ein Leben in „Dignidad“ ermöglicht, ist jedoch noch lang. Das Plebiszit kann der erste Schritt sein.

Eva Schöck-Quinteros

Foto: Chilenische Proteste kurz nach Bestätigung der ersten Fälle von schweren Augenverletzungen bei Protestant*innen durch die Polizei, November 2019. Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 4.0.

Der chilenischen Historiker Sergio Grez hat in einem von Pablo Parry im April 2020 geführten Interview, das von der Zeitschrift Revista De Frente veröffentlicht wurde, den Stellenwert der Verfassung von 1980 sowie Entwicklung und Forderungen der aktuellen Rebelión popular in die Geschichte Chiles eingeordnet und analysiert.

Das Interview wurde am 13. April 2020 in der Revista De Frente veröffentlicht.
Die Übersetzung des Textes für zeitgeschichte|online übernahm freundlicherweise Elisabeth Schmalen.

 

Pablo Parry: Was ist die beste Bezeichnung für das, was in Chile seit dem 18. Oktober 2019 passiert: Rebelión popular, estallido social, Revolution?

Sergio Grez: Der Begriff estallido social ist unpräzise, weil er weder das Ausmaß noch die Situation dessen wiedergibt, was seit dem 18. Oktober 2019 in Chile geschieht. Er kann höchstens für den Ausgangsmoment der Bewegung verwendet werden, weil „Explosion“ den Eindruck einer ungeordneten Entladung gesellschaftlicher Unzufriedenheit vermittelt, eines rein emotionalen Abreagierens, eines „Ausbruchs“, wie er in der Geschichte so oft vorkommt, einer kurzlebigen Bewegung, deren politische Absichten – wenn es denn welche gibt – nur schwer oder gar nicht zu erfassen sind. Was wir hier erleben, ist etwas Anderes.

Auch wenn die Proteste völlig spontan entstanden (niemand hatte sie geplant, organisiert oder dazu aufgerufen), war schon nach wenigen Tagen klar, was all den Forderungen, die Millionen von Menschen auf ganz unterschiedliche Weise im ganzen Land stellten, gemeinsam war: Sie lehnten den Neoliberalismus, den subsidiären Staat, die soziale Ungleichheit und den Machtmissbrauch durch die großen Unternehmen und Berufspolitiker*innen ab und verlangten stattdessen staatlich garantierte, universelle soziale Rechte. Außerdem forderte die Bewegung schon bald eine Änderung der Verfassung durch eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung. Aufgrund dieser offenkundig politischen Züge lässt sich die Bewegung (die zu Beginn des durch die COVID-19-Pandemie erzwungenen Rückzugs fünf Monate andauerte) als Rebelión popular bezeichnen, nicht nur als „Explosion“ und erst recht nicht nur als einfache „Unruhen“. Andererseits ist der Begriff politische Revolution hier nicht – oder noch nicht – zutreffend, weil es bisher keine grundlegenden Veränderungen der Machtstrukturen oder auch nur weitreichende Reformen gegeben hat.

Auch der Begriff soziale Revolution ist hier nicht ohne Weiteres zu verwenden, weil er eine tiefgreifende Veränderung der gesellschaftlichen Beziehungen voraussetzt, wozu auch eine Übernahme der politischen Macht gehören kann, wie es nach sehr langen Zeiträumen oft der Fall ist. Da der Ausgang der großen Machtprobe, die dieses Land gerade erlebt, noch ungewiss ist, erscheint es mir nicht nur unnütz, sondern sogar leichtsinnig, unreflektiert Begriffe zu verwenden, die nicht die Realität abbilden, sondern die Wünsche derjenigen zum Ausdruck bringen, die sie prägen und verbreiten. Wir Soziolog*innen, Historiker*innen und politischen Analyst*innen können immer nur „den Ereignissen hinterherlaufen“, das ist unvermeidlich. Deshalb lohnt es, vernünftig zu sein und sich nicht zu Beurteilungen hinreißen zu lassen, die nicht auf einer soliden empirischen und theoretischen Grundlage beruhen; denn letztendlich wird die Realität bestimmte schwer haltbare Begriffskonstruktionen widerlegen oder sogar lächerlich machen.

 

Parry: Was halten Sie von der Verfassungsreform, die Michelle Bachelet angestoßen hat?

Grez: Der „verfassungsgebende Prozess“ von Bachelet war nichts als ein geschickter politischer Schachzug, der verhindern sollte, dass die Souveränität des Volkes durch die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung ausgeübt werden konnte, und der die Durchführung dieses Prozesses den gleichen gesellschaftlichen und politischen Kräften überließ, die das neoliberale System seit einem Vierteljahrhundert verwalten. Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass dieser „Prozess“ undurchführbar sei, weil die von Bachelet angestrebte Vorgehensweise vorsieht, die in der Verfassung des Diktators Augusto Pinochet von 1980 festgeschriebenen, mehrheitsübergreifenden und unerreichbaren Zustimmungsquoren auf deren eigene Reform anzuwenden. Erinnern wir uns noch einmal an die Kernpunkte des Vorschlages der ehemaligen Präsidentin. Der Nationalkongress, der noch auf der Grundlage des binomialen Wahlsystems gewählt worden war, sollte dem nächsten Parlament (das ab März 2018 im Amt war) ermöglichen, mit einem Quorum von 3/5 zu entscheiden, wer über den von der Regierung vorgelegten Verfassungsentwurf verhandeln und ihn verabschieden sollte. Dafür schlug Bachelet im Oktober 2015 vier Alternativen vor: eine aus Vertretern beider Kammern – Senatoren und Abgeordneten – zusammengesetzte Kommission; einen aus Parlamentariern und Bürgern gemischten Verfassungskonvent; eine verfassungsgebende Versammlung sowie ein vom Kongress organisiertes Plebiszit, damit die Bürger*innen entscheiden können.

Wenige Stunden nach Bachelets Ankündigung erklärten wir, dass es, genau genommen gar keine vier Wahlmöglichkeiten gab, weil die verfassungsgebende Versammlung bereits vom Tisch war. Ihre rein theoretische Aufnahme in die Liste sollte nicht nur dazu beitragen, die Spannungen innerhalb der Nueva Mayoría[1] auszugleichen (die vier Alternativen stellten alle Mitglieder mehr oder weniger zufrieden), sondern war nichts weiter als ein Feigenblatt, das die Leichtgläubigen verführen und dem „linken“ Flügel der Regierungskoalition ermöglichen sollte, seinen Anhängern gegenüber eine gewisse Glaubwürdigkeit zu bewahren. Bachelet versprach, dem Nationalkongress zu Beginn des zweiten Halbjahres 2017 einen Entwurf für eine neue Verfassung vorzulegen, über den im Anschluss durch eine verbindliche Volksabstimmung entschieden werden sollte, um so die Zustimmung der Bürger*innen einzuholen. Nichts davon geschah, außer dass eine Reihe von cabildos (Räten) entstand, die vom Präsidentenpalast organisiert und absolut machtlos waren (weil ihre Beschlüsse nicht bindend waren), und dass man dem Parlament im März 2018 – weniger als eine Woche vor Ablauf der Amtszeit der Präsidentin! – einen Vorentwurf für eine neue Verfassung vorlegte, den ihre Berater*innen ausgearbeitet hatten. Wir vom Foro por la Asamblea Constituyente[2] haben diese Vorgehensweise immer öffentlich kritisiert und darauf hingewiesen, dass es nicht angemessen sei, wenn der Prozess aus dem Parlament heraus betrieben wird, da die verfassungsgebende Macht nicht bei diesem konstituierten Organ liege, sondern bei den Bürger*innen. Darüber hinaus unterstreichen wir den Scheincharakter der von der Regierung geförderten cabildos, ebenso wie die Tatsache, dass das von Bachelet auferlegte mehrheitsübergreifende Quorum unerreichbar ist. Letzteres lässt sich unserer Ansicht nach dadurch erklären, dass Bachelet der traditionellen Rechten einen wichtigen Teil der Entscheidungsmacht zugestehen wollte, damit keine grundlegenden Verfassungsänderungen stattfinden, um das seit 1990 von beiden Seiten des Duopols mitverwaltete Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu erhalten. Auf diese Weise können sich die Verteidiger*innen des Status quo aus dem „progressiven“ Lager auf das altbekannte Argument berufen, dass ihnen „die nötigen parlamentarischen Mehrheiten fehlen“, um die vom Volk nachdrücklich geforderten Änderungen vorzunehmen. Das dürfte ihnen auch dazu dienen, die Wähler*innen einmal mehr dazu aufzurufen, ihre Kandidat*innen zu wählen, um so eine Parlamentsmehrheit für die Reformen zu erlangen, wobei sie die Aussicht auf eine verfassungsgebende Versammlung als rein wahltaktisches Argument hochhalten, um damit Stimmen zu gewinnen. Der Ausgang der Ereignisse wird diese Analyse bestätigen.

 

Parry: Wie deuten Sie es, dass der Begriff „verfassungsgebende Versammlung“ im „Abkommen für den sozialen Frieden, die neue Verfassung“ vom 15. November 2019 und in der Verfassungsreform von Dezember 2019, die den offiziellen Fahrplan zu einer möglichen neuen Verfassung vorgibt, durch den des „Verfassungskonvents“ ersetzt wurde?

Grez: Der Begriff „verfassungsgebende Versammlung“ findet sich weder im „Abkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung“ noch in der daraus folgenden Verfassungsreform, die am 24. Dezember 2019 veröffentlicht wurde, weil in den Plänen der Parlamentarier*innen, der für die Verfassung zuständigen Berater*innen und der politischen Führung, die den offiziellen Fahrplan zur Verfassung übernahmen, damals wie heute keine Einberufung einer freien und souveränen verfassungsgebenden Versammlung vorgesehen ist. Schon der Name des Abkommens vom 15. November 2019 – das buchstäblich mitten in der Nacht verkündet wurde – ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass diese Entente cordiale in erster Linie auf den „sozialen Frieden“ abzielt, das heißt, auf den Erhalt des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells (mit mehr oder weniger Reformen, je nach Lesart).

Es war ein verzweifeltes Manöver der politischen Kaste, um die Millionen Menschen zu besänftigen, die ihren Protest und ihre Forderungen seit dem 18. Oktober 2019 – trotz harter Repressionen – immer wieder auf den Straßen zum Ausdruck brachten. Das Versprechen eines verfassungsgebenden Verfahrens war der Schlüssel zu diesem Ziel. Doch dabei handelt es sich nicht um ein verfassungsgebendes Verfahren, in dem sich die ureigene verfassungsgebende Macht frei entfalten kann, sondern um einen vom Parlament definierten, organisierten und abgesteckten Prozess, da alle Vorschläge des zukünftigen Gremiums, das den Text der neuen Verfassung formulieren würde, auf eine Zweidrittelmehrheit im Parlament angewiesen wären und bestimmte Tabuthemen festgelegt wurden, die dieses Gremium nicht anrühren dürfte (etwa die internationalen Verträge, die Chile unterzeichnet hat).

Damit ist selbst die „progressivste“ Alternative, die bei der Volksabstimmung am 25. Oktober 2020 zur Wahl steht – der Verfassungskonvent – weit von einer freien und souveränen verfassungsgebenden Versammlung entfernt – es sei denn, eine wirklich progressive Mehrheit derjenigen, die in das Gremium gewählt werden, verfügt über die Weitsicht und den politischen Mut, im Augenblick der Konstituierung entsprechend zu handeln.

 

Parry: Ist es möglich, ohne Einverständnis der politischen und wirtschaftlichen Eliten eine Verfassungsänderung vorzunehmen? Wie sieht der historische Kontext dazu aus – insbesondere in Hinblick auf den gescheiterten Versuch, während der ersten Amtszeit von Arturo Alessandri Palma (1920-1925) eine verfassungsgebende Versammlung zu veranlassen?

Grez: Das Verhalten der wirtschaftlichen und politischen Eliten in Chile hat sich im Verlauf der mehr als 200 Jahre alten Geschichte der Republik in dieser Hinsicht im Grunde kaum verändert. Sie haben niemals zugelassen, dass der eigentliche Souverän – das Volk – sein Recht auch ausübt, sondern die Staatsgewalt immer durch verschiedene Strategien an sich gerissen: das Zensuswahlrecht, Wahlmanipulationen, Bestechungen, abgekartete Verfassungsgebungsverfahren, mehr oder weniger direkten Druck durch das Militär etc. 1925 waren es nicht nur die wirtschaftlichen und politischen Eliten (die „Alten aus dem Senat“, wie sie der Präsident der Republik bezeichnete), sondern Alessandri Palma selbst war es, der ohne Rücksicht auf sein Versprechen, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, quasi willkürlich zwei Kommissionen ernannte, von denen nur eine funktionierte – jene, die er selbst leitete und die de facto nicht als verfassungsgebende Versammlung gelten kann, weil die Sitze nach den Vorgaben des Staatschefs und seiner Berater vergeben wurden.

Foto: Der chilenische Präsident Arturo Alessandri (Zweiter v. l.) beim Unterschreiben der Verfassungsreform im Roten Saal des Palacio de La Moneda am 18. September 1925. Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain.

Und damit nicht genug – der Präsident ließ den Generalinspekteur des Heeres (den damaligen Oberbefehlshaber) Druck auf die Kommissionsmitglieder ausüben, damit diese dem Zeitplan und dem Inhalt des Verfassungsentwurfes von Alessandri Palma zustimmten. So wurde die Verfassung von 1925 in einer Volksabstimmung angenommen, die mit nur einem Monat Vorlauf stattfand, unter dem Druck des Militärs und mit einer Beteiligung von gerade einmal 42,18 Prozent der damals stark begrenzten Gruppe der Wahlberechtigten (es durften nur Männer wählen, die mindestens 21 Jahre alt waren, lesen und schreiben konnten). Obwohl das der vorherrschende Grundton aller verfassungsgebenden Verfahren in unserer Geschichte war, ist es offensichtlich, dass wir es seit dem 18. Oktober 2019 mit einer ganz neuen Situation zu tun haben, in der zum ersten Mal eine echte Chance besteht, dass es der Mehrheit des Volkes gelingt, eine demokratische Änderung der Verfassung herbeizuführen, indem sie durch andauernde Demonstrationen und eine geeignete politische Strategie die richtigen Bedingungen dafür schafft.

 

Parry: Weite Teile der Bevölkerung betrachten eine neue Verfassung als eine Art „Spielregel“, die den immensen Privilegien der herrschenden Elite in Chile ein Ende setzen oder sie zumindest begrenzen sollte, bis hin zu einer vollständigen Überwindung des neoliberalen Modells. Teilen Sie diese Ansicht in Bezug auf den verfassungsgebenden Prozess?

Grez: Jede Verfassung bildet bestimmte soziale und politische Machtverhältnisse ab, auch in den Punkten, über die scheinbar allgemeine Einigkeit herrscht, denn meistens interpretieren die verschiedenen Akteure denselben Text durchaus unterschiedlich. Deshalb ist die Verfassung, ähnlich wie die Gesetzgebung im Allgemeinen, Anlass zu ständiger Auseinandersetzung. Eine neue Verfassung in Chile – wie auch immer sie inhaltlich aussähe – wäre Ausdruck eines Machtverhältnisses, der Fähigkeiten der einzelnen Gruppierungen, so viel Zustimmung und Unterstützung wie möglich für ihre Interessen und Forderungen einzuholen. Natürlich wird kein Block in der Lage sein, sein Programm, seine Vorstellungen und Prinzipien vollständig durchzusetzen, weshalb man davon ausgehen kann, dass der Text der neuen Verfassung (so sie denn zustande kommt) eine neue „Spielregel“ sein würde, nach der ein bedeutender Teil der zukünftigen sozialen und politischen Kämpfe stattfindet. Das macht deutlich, wie wichtig die Auseinandersetzung über den Inhalt der neuen Verfassung ist. Die große Mehrheit, die ökonomisch benachteiligten und progressiven Teile der Bevölkerung, sind objektiv daran interessiert, möglichst viele vom Staat garantierte soziale Rechte und eine größtmögliche Stärkung der Demokratie in der neuen Verfassung zu verankern.

 

Parry: Wie deuten Sie das erratische Verhalten des Präsidenten Piñera, seine oft unnötigen Provokationen, etwa seine „Kriegserklärungen“ oder seinen Auftritt auf der Plaza de la Dignidad zu einer Zeit, als für die Anwohner*innen rund um diesen berühmten Platz eine Ausgangssperre herrschte?

Grez: Ich bin weder Psychologe noch Psychiater und möchte mich daher in meiner Interpretation auf die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Umstände beschränken, die sein Verhalten erklären könnten. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Piñera zu den 0,1 Prozent der reichsten Menschen des Landes zählt, als Schlüsselfaktor für seine beharrliche Verteidigung des Status quo zu sehen, selbst wenn er dafür zu Repressionen greifen muss, die ihm einen Platz weit vorn unter den abscheulichsten Persönlichkeiten in der Geschichte dieses Landes verschaffen. Seine Zugehörigkeit zum mikroskopisch kleinen Sektor der Ultraprivilegierten – den „Besitzern von Chile“ – und deren typischen politischen Fürsprechern, der „klassischen“ Rechten, erklären seine „politische Blindheit“. Erinnern wir uns daran, dass nicht nur Piñera, sondern seine gesamte Schicht und darüber hinaus auch weite Teile der politischen Kaste von der „sozialen Explosion“ überrascht wurden, weil sie glaubten, dass nichts vorhersehbar gewesen wäre.

Im Gegensatz dazu gab es im sozialen und intellektuellen Milieu schon lange viele kritische Stimmen, die davon ausgingen, dass es früher oder später zu einem großen „gesellschaftlichen Knall“ kommen würde, auch wenn wir nicht wussten, wann und wie genau. Letztendlich war es sogar mehr als nur ein „Knall“ oder eine „Explosion“, weil daraus eine Rebelión popular hervorging, die andauert. Die wirtschaftliche und politische Elite, die sich in ihrer Welt des Reichtums, der Privilegien und der Macht verschanzt und glaubt, dass wir in der „Oase Lateinamerikas“ leben, sah das, was sich an der Basis der Gesellschaft zusammenbraute, nicht kommen. Sie konnten und wollten es nicht sehen. Piñera ist ein Inbegriff dieses Phänomens, ein weiteres Beispiel dafür, wie bestimmte gesellschaftliche Interessen und Ideologien ein falsches Bewusstsein schaffen und jeden halbwegs klaren Blick auf die Realität verschleiern können. Piñeras psychopathische Züge und sein ausgeprägter Narzissmus haben das Übrige getan.

Foto: Straßenbarrikade in Santiago de Chile, Oktober 2019. Quelle: flickr, Lizenz: CC BY 2.0.

Parry: Wie geht es angesichts der abrupten Wende seit Mitte März und der Verschiebung der Volksabstimmung über die Verfassung jetzt weiter?

Grez: Die weitere politische Entwicklung im Land ist angesichts der fragilen, ungewissen und komplexen Situation, die wahrscheinlich noch lange anhalten wird, unvorhersehbar. Seit dem 18. Oktober 2019 befindet sich Chile in einem fortdauernden Zustand sozialer Unruhen und politischer Instabilität, der mindestens zwei oder drei Jahre andauern wird. Der Ausgang des Geschehens wird eng mit dem weiteren Verlauf des verfassungsgebenden Prozesses verbunden sein. Wenn dieser mit der Volksabstimmung am 25. Oktober 2020 endet, wenn sich die Option Rechazo – „ich lehne ab“ – durchsetzt, werden die Protestaktionen wahrscheinlich weitergehen, aber im Hintergrund, im Verborgenen, mit weniger Menschen auf den Straßen, als es bis Mitte März dieses Jahres der Fall war, was den repressiven Kräften und ihren Auftraggebern erlauben würde, mit erhöhter Brutalität vorzugehen, da die Protestierenden eher in kleineren Gruppen und weiter verstreut agieren würden. Wenn, was höchst wahrscheinlich ist, die Option Apruebo – „ich stimme zu“ – gewinnt, in Verbindung mit einem Verfassungskonvent, wäre damit noch nichts entschieden, doch dann ständen weiterhin mehrere Möglichkeiten offen, darunter auch eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung, die durch einen demokratischen Umbruch erreicht werden könnte, der die engen und betrügerischen Vorgaben des „Abkommens“ und der Verfassungsreform, die die Vorgehensweise des offiziellen Verfassungsprozesses festlegt, überwindet. In beiden Szenarien wird die Lage in Chile grundlegend von gesellschaftlichen Protesten und harten staatlichen Repressionen geprägt sein.

Davon ausgehend müssen auch andere Faktoren bedacht werden, die die Situation noch komplexer machen, etwa die Haltung des Militärs und der großen Unternehmen. Wie lange werden sie bereit sein, Piñera und seine Regierung zu stützen? Werden sie weiter darauf vertrauen, dass er es schafft, den Aufstand durch einschüchternde Ansprachen und brutale Unterdrückung in Schach zu halten? Oder kommen sie irgendwann zu dem Schluss, dass seine Person verschlissen ist und zuviele Fehlentscheidungen getroffen hat und für den Erhalt des Status quo daher nur noch ihr Abgang ratsam wäre? Als Alternative – auf die sich die klassische Rechte, die alte Concertación[3], und die Unterzeichner*innen des „Abkommens“ vom 15. November 2019 einigen könnten – wäre denkbar, dass Piñera bis zum Ende seiner Amtszeit bleiben darf, allerdings nur pro forma oder im Rahmen einer Regierung der „nationalen Einheit“, mit dem Ziel, den „sozialen Frieden“ und eine Stabilisierung zu erreichen. Auf diese Weise könnten alle Beteiligten an diesem neuen Pakt auf mögliche Wahlerfolge und gute Ergebnisse in einer „normalisierten“ politischen Situation hoffen.

Dabei noch gar nicht berücksichtigt sind die Auswirkungen, die sich unweigerlich aus der lang andauernden Gesundheitsnotlage durch COVID-19 ergeben werden. Die Anweisung an weite Teile der Bevölkerung, sich ganz oder teilweise in Quarantäne zu begeben, die Ausgangssperren, das Leid, dass das Virus verursacht und noch verursachen wird, die vermehrten sozialen Kontrollen unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung, die Vernichtung von Arbeitsplätzen, der rasante Anstieg der Arbeitslosigkeit und der finanziellen Ungewissheit in den unteren und mittleren Bevölkerungsschichten, die daraus folgende Zunahme der Armut und der gesellschaftlichen Unzufriedenheit, die psychischen Probleme, die das lange eingesperrt sein und die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit mit sich bringen, werden zu einer noch explosiveren Grundstimmung beitragen, als wir sie Ende des letzten Jahres erlebt haben.

In einer derart komplexen und unbeständigen Situation, in der mächtige Gruppierungen den Fortbestand des aktuellen Modells – mit mehr oder weniger umfassenden Reformen – anstreben und weite Teile des Volkes keinerlei Fürsprecher*innen haben, die die politische Führung übernehmen könnten (die Unidad Social[4] hat es bisher nicht geschafft, diese Rolle angemessen auszufüllen), sind die Aussichten für die Interessen der großen Mehrheit nicht gerade vielversprechend. Aber die zukünftige Geschichte ist noch nicht geschrieben, sie ist ein offenes Buch, dessen nächste Seiten in einem dialektischen Wechselspiel von allen Akteuren dieses Dramas geschrieben werden. Angesichts der Gefahren, die die Pandemie und die Wirtschaftskrise für den psychologischen, politischen, moralischen und kulturellen Zustand des Landes bergen, hoffen wir, dass es den Vertreter*innen der Rebelión popular gelingt, ihre gesamte Mobilisierungsfähigkeit, Kreativität und politische Intelligenz abzurufen und so einen Ausgang herbeizuführen, der ihren Wünschen, Träumen und Zielen so weit wie möglich entspricht.

Hoffen wir und tun wir, was nötig ist, damit das Virus „einen geistigen Sprung auslöst, wie ihn keine politische Predigt bewirken konnte“, wie es der italienische Philosoph Franco „Bifo“ Berardi vor Kurzem formulierte, sodass die Gleichheit wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt und den „Ausgangspunkt für die Zeit danach“ bildet.[5] Im Augenblick ist es am wichtigsten das Leben, die Gesundheit und die Existenzgrundlage der Bevölkerung zu schützen, vor allem der Mittel- und Unterschicht, deren Fragilität durch die aktuelle Pandemie noch sichtbarer wird. Die Rebelión popular muss einen Weg finden, weiterzumachen, zumindest latent, sie muss diese Monate dazu nutzen, eine stabilere Grundlage politischer Geschlossenheit zu erreichen, ihre Forderungen auszuarbeiten und sich besser zu organisieren, um vorbereitet zu sein für die nächste Phase des sozialen Kampfes, der aller Voraussicht kurz vor dem geplanten Termin des Plebiszits (25.10.2020) wieder aufgenommen werden wird.

 


[1] Mitte-Links –Bündnis, das 2013 von Michelle Bachelet gegründet wurde.

[2] Forum für die verfassungsgebende Versammlung wurde 2013 von Wissenschaftler*innen der Universität von Chile gegründet.

[3] 1988 gegründete Mitte-Links-Bündnis, das von 1990 bis 2010 die Regierung stellte.

[4] Unidad Social besteht vor allem aus Gewerkschaften. Die größten sind: CUT, No + AFP, la Asociación Nacional de Empleados Fiscales (ANEF)und El Colegio de Profesores.

[5] Franco „Bifo“ Berardi, „Crónica de la psicodeflación“, in Giorgio Agamben, Slavoj Zizek et al., Sopa de Wuhan. Pensamiento contemporáneo en tiempos de pandemias, Editorial A.S.P.O. (Aislamiento Social Preventivo Obligatorio), März 2020, S. 54.