Sonntag, 21. Mai 1972: Dr. Günther Nollau, der erst wenige Tage zuvor ernannte neue Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), sitzt in seinem Kölner Büro. Aufgebracht schreibt er einen Brief an den amtierenden Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP). Die Bundesrepublik sah sich zu diesem Zeitpunkt mit der größten Gewaltwelle seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert: der „Mai-Offensive“ der Roten Armee Fraktion (RAF). Seit dem 11. Mai hatte die RAF bereits vier Sprengstoffanschläge verübt. Der erste Anschlag richtete sich gegen das Hauptquartier des V. US-Korps in Frankfurt am Main. Oberstleutnant Paul A. Bloomquist wurde durch umherfliegende Glasscherben getötet. Einen Tag später wurden die Polizeidirektion Augsburg und das Landeskriminalamt in München Ziele von Bombenanschlägen. Drei Tage später, am 15. Mai, explodierte unter dem Auto des zuständigen Ermittlungsrichters für die RAF-Verfahren am Bundesgerichtshof, Wolfgang Buddenberg, eine Haftbombe und verletzt dessen Frau schwer. Sie überlebt durch ihre geistesgegenwärtige Reaktion wie durch ein Wunder. Am 19. Mai 1972 detonierten mehrere Bomben im Springer-Hochhaus in Hamburg. Mehrere Dutzend Menschen wurden bei den Anschlägen zum Teil schwer verletzt. Günther Nollau schrieb in dieser Ausnahmesituation folgende Worte: „Herr Minister, ich bitte um ihr Verständnis, dass ich Ihnen über operative Probleme dieser Art nur handschriftlich berichte.“[1]
Der steile Karriereweg Nollaus und NS-Kontinuitäten im Bundesamt für Verfassungsschutz
Der promovierte Jurist begann seine Laufbahn als Mitarbeiter des Inlandnachrichtendienstes 1950 im Anschluss an seine Flucht aus der DDR. Erst kurz zuvor, am 7. November 1950, war das Bundesamt für Verfassungsschutz gegründet worden. Nollau galt schon früh als „intimer Kenner der kommunistischen Praktiken und ihrer Ideologie“[2] und veröffentlichte u.a. die Bücher „Die Internationale“ (1959), „Rote Spuren im Orient“ (1963) und „Der Zerfall des Weltkommunismus“ (1963). Er machte rasch Karriere und wurde 1957 Leiter der Abteilung III (Linksradikalismus). Anfang 1967 wurde Nollau zum Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) ernannt. Im September 1970 übernahm er die Abteilung „Öffentliche Sicherheit“ im Bonner Bundesinnenministerium. Ende April 1972 geriet der amtierende Präsident des BfV Hubert Schrübbers aufgrund des Bekanntwerdens seiner Tätigkeiten in politischen Strafprozessen während der NS-Zeit unter massiven politischen Druck. Durch weitere öffentliche Berichterstattungen wurde bekannt, dass Schrübbers ehemalige SS-Angehörige im BfV mit Stellen versorgt hatte. Daraufhin wurde er in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.[3] Auch gegen Nollau wurden ernste Vorwürfe erhoben, als der damalige Ministerialdirektor als Nachfolger Schrübbers ins Gespräch gebracht wurde. Auch er sei in der NS-Zeit in Verbrechen verstrickt gewesen und habe aus der DDR fliehen müssen, um einer Strafverfolgung wegen Mordes zu entgehen.[4] Nollau bestritt vehement diese Anschuldigungen und wurde, trotz weiterer Bedenken u.a. aufgrund angeblicher Kontakte in die DDR, am 1. Mai 1972 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
Paradigmenwechsel: Das Schwerpunktprogramm „Innere Sicherheit“ der Bundesregierung
Bereits seit 1970 hatte die SPD-FDP-Koalition unter der Kanzlerschaft von Willy Brandt auf die Zunahme politischer Gewalt in der Bundesrepublik reagiert. Die damit verbundene Verschärfung der Gesetzgebung und der Ausbau des Sicherheitsapparats resultierten aus schwierigen politischen und administrativen Aushandlungsprozessen zwischen Bundesregierung und Opposition. Nach einer Vorlage des Bundesinnenministers Genscher wurde im November 1970 das von der Bundesregierung forcierte „Sofortprogramm zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung“ verabschiedet. Verbunden war diese Neuausrichtung der Politik der „Inneren Sicherheit“ mit einem Paradigmenwechsel von der äußeren zur inneren Sicherheit. Nicht mehr der Ostblock und die DDR, sondern linke politische Akteur:innen, Gruppen und Netzwerke in der Bundesrepublik wurden als die größten Gefahrenherde ausgemacht. Die zentralen Feinde der inneren Ordnung wandelten sich in dieser Zeit vom „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ über den „Partisanen“ und „Anarchisten“ hin zum „Stadtguerillero“. Die Polizeien der Länder, der Bundesgrenzschutz, die Verfassungsschutzämter sowie das Bundeskriminalamt wurden in Reaktion auf die Gefährdungen der „Inneren Sicherheit“ durch die de facto am 14. Mai 1970 gegründete RAF und die bereits in West-Berlin und München aktiven „Stadtguerillagruppen“ mit umfangreichen finanziellen Ressourcen ausgestattet. Die Personalbestände des Bundeskriminalamtes und der Verfassungsschutzbehörden wuchsen dabei am stärksten. Das BKA wurde mit dem neuen Chef an der Spitze, Horst Herold, als die zentrale Institution im Zentrum des Konzeptes „Innere Sicherheit“ etabliert.
Fehlende Observationskräfte in den Reihen des BfV
Inmitten der „Mai-Offensive“ der RAF schrieb Nollau einen Brief an Genscher. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz hatte zu seiner Überraschung und Verärgerung festgestellt, dass das „heutige Stellensoll des BfV an Observationskräften nur zu 50 (fünfzig) % erfüllt ist. Wenn diese Tatsache öffentlich bekannt wird, gibt es eine Blamage“, schrieb Nollau an Genscher. Des Weiteren führte Nollau aus: „Damit gewonnene Erkenntnisse vertieft werden können, müssen die Observationskräfte des BfV verstärkt werden.“ Nollau schlug zur kurzfristigen Stärkung des BfV vor, dass „sofort 60 BGS[5]-Beamte zum BfV zwecks Schulung und späteren Einsatz abzuordnen“ seien. Er fügte hinzu, dass er es für nicht vertretbar halte, „dass junge geeignete Kräfte beschäftigungslos – oder besser gesagt: ohne Beschäftigung mit einer akuten Gefahr an der Grenze [zur DDR] stehen, während sie hier an der Abwehr einer ernsten Bedrohung mitwirken können.“ Der frisch berufene Präsident des BfV fand sich in einer Behörde wieder, die den innenpolitischen Problemen, ausgelöst durch die Gewaltwelle der RAF, nicht im Ansatz gewachsen war. Dass das BfV zu diesem Zeitpunkt keinerlei Informationen über die RAF und deren Aktivitäten hatte, räumte Nollau im anschließenden Punkt ein.
Peter Urbach: V-Mann und Agent provocateur
Günter Nollau stellte in seinem Brief unter Punkt 3 fest: „Der Verfassungsschutz hatte in der Mahler-Baader-Meinhof-Gruppe eine Quelle (Urbach, Berlin), der die erste Festnahme Baaders und die Mahlers ermöglicht hat. Diese Quelle ist als Zeuge im ersten Mahler Prozess (auf Drängen des) sinnlos ‚verheizt‘ worden.“ Was meinte der Präsident des Verfassungsschutzes mit dieser Aussage?
Peter Urbach, aufgrund seiner Tätigkeit bei den Berliner Bahnbetrieben Szene-intern "S-Bahn-Peter“ genannt, war ein V-Mann und Agent provocateur des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz (BLfV) in den späten 1960er Jahren und weiter bis in das Jahr 1971 hinein. Zunächst versorgte Urbach nach dem versuchten Mordanschlag auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 mit dem Wissen des BLfV die Demonstrantinnen und Demonstranten bei den darauffolgenden militanten Demonstrationen gegen den Springer-Verlag in West-Berlin mit „Molowtow-Cocktails“. Urbach lieferte außerdem zwölf Sprengsätze mit Zeitzündern anlässlich des Kurzbesuchs des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon am 27. Februar 1969 in West-Berlin an spätere Mitglieder der Bewegung 2. Juni. Generell lässt sich feststellen, dass in der Frühphase der Radikalisierung militanter linker Gruppen in West-Berlin mit Peter Urbach der zentrale V-Mann des BLfV an der Bewaffnung verschiedener Kleinstgruppen aktiv beteiligt war. Damit hat der Verfassungsschutz in dieser Zeit direkt an der Militarisierung dieser Gruppen mitgewirkt und zum Teil die Schaffung der Waffenlogistik für spätere Anschläge und Attentate bewusst in Kauf genommen und gefördert. Urbach bot auch Horst Mahler und der frühen RAF immer wieder ungefragt Waffen und Sprengstoffe an, gab aber auch wichtige Hinweise, die u.a. zur Verhaftung von Andreas Baader und Horst Mahler führten, an die Polizei weiter. Weitere Beteiligungen an der Beschaffung von fertigen Bomben für Anschläge, nicht zuletzt der versuchte Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in West-Berlin am 9. November 1969 von einer Gruppe rund um Dieter Kunzelmann, sind bis heute nur zum Teil aufgearbeitet, da die Akten bei der Eingliederung des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz in die Berliner Senatsverwaltung des Inneren nicht freigegeben wurden und zudem als vermisst gelten. Als Urbach im Prozess gegen Horst Mahler 1971 als Zeuge gehört werden sollte, aber aufgrund einer vom Westberliner Innenministerium erteilten begrenzten Aussagegenehmigung als V-Mann des BLfV aufflog, tauchte er ab und wurde mithilfe eines Schutzprogrammes in die USA gebracht. Dieses aus Sicht von Nollau „verheizen“ einer so wichtigen Quelle beendete die Informationsbeschaffung der Ermittlungsbehörden aus dem direkten Umfeld der RAF.
Als die noch nicht inhaftierten RAF-Mitglieder ihren Wirkungsbereich von West-Berlin in die Bundesrepublik mit Standorten in Hamburg, Frankfurt am Main, Heidelberg und vielen anderen Städten verlagerten, endete die vorher deutlich leichtere Überwachung der RAF durch die Verfassungsschutzämter.
„Neue, unkonventionelle Wege müssen beschritten werden“ – Nollaus Überlegungen am 21. Mai 1972
Deshalb schrieb Nollau in seinem Brief an Genscher vom 21. Mai 1972: „Heute müssen (…), um wiederheranzukommen, unorthodoxe Massnahmen ergriffen werden.“ Was sich Nollau unter diesen Maßnahmen vorstellte, führte er weiter mit den Worten aus: „Ich habe mit meinen Mitarbeitern besprochen, eine kleine Anarchisten-Gruppe zu gründen, um Leute zu gewinnen, die an den Kernbereich Baader-Meinhof herangespielt werden können. Dazu brauchen wir politische Deckung, die aber auch durch Augenzwinkern gewährt werden kann.“ Weiter führte Nollau aus: „Diese Gruppe könnte sich auf Agitation beschränken. Diese müsste sie aber betreiben, um glaubwürdig zu sein. Wir haben Erfahrungen mit dieser Methode in den Anfangsjahren der Bekämpfung der illegalen KPD gesammelt.“ Nichts weniger als die Genehmigung einer Fake-RAF-Unterstützergruppe versuchte sich Nollau inmitten der „Mai-Offensive“ der RAF einzuholen. Hierbei handelt es sich eventuell um eine gängige Praxis bei der Beschaffung von Informationen, birgt aber eine ungeheure Gefahr aufgrund der finanziellen Unterstützung des direkten Logistikumfeldes bewaffneter Gruppen.
Aufbau einer Sondergruppe im Bundesamt für Verfassungsschutz – Das Konzept des „Sonder-V-Mann“
Offensichtlich erhielt Günther Nollau das von ihm gewünschte „Augenzwinkern“ von Genscher. In einem weiteren Brief von Nollau an Genscher vom 10. Januar 1973 schrieb der Präsident des BfV, dass er sich besonders im August 1972 Gedanken zum Konzept eines „Sonder-V-Mannes“ gemacht habe. Dieser „Sonder-V-Mann“ solle „nicht, wie das bisher die Regel gewesen ist, aus den Reihen des Gegners gewonnen, sondern in diese eingeschleust werden“. „Die Regel wird dabei sein, daß der Sonder-VM für die Zeit seiner Tätigkeit in den gegnerischen Reihen freier Mitarbeiter ist.“[6]
Leider ist es aufgrund der eingeschränkten Archiv-Nutzungsrechte für Historiker:innen nicht möglich nachzuvollziehen, was genau aus der Idee des „Sonder-V-Mannes“ in Bezug auf den Kampf gegen den „bundesdeutschen Linksterrorismus“ geworden ist.
Aufklärung und Freigabe der Akten als Zeichen der Demut vor den Opfer-Familien
Die zur historischen Aufarbeitung der Arbeit der Verfassungsschutzämter gegen den „bundesdeutschen Linksterrorismus“ nötigen Quellen, die in deutschen Archiven vorhanden sind, werden nur sehr restriktiv und, wenn überhaupt, nur mit starken Einschränkungen der Wissenschaft zur Verfügung gestellt. Es ist an der Zeit, 50 Jahre nach der „Mai-Offensive“ endlich die Archive zu öffnen, um Klarheit über die angewandten Maßnahmen staatlicher Akteure beim Kampf gegen den „Linksterrorismus“ zu schaffen. Nur so können vermeintliche Verschwörungserzählungen, wie die Tatbeteiligung der potenziellen „V-Person“ Verena Becker am Mord an Siegfried Buback, die weiterhin im Raum stehende Abhörung der inhaftierten RAF-Mitglieder während der „Todesnacht von Stammheim“ und absurde nachrichtendienstliche Eskapaden wie das „Celler Loch“ endgültig aufgeklärt werden. Gerade wenn damals die „Grenzen der Rechtsstaatlichkeit“, wie Helmut Schmidt selbst einräumte, zum Teil bis an das Maximum und eventuell darüber hinaus ausgereizt worden sind, ist es die Pflicht demokratischer Staaten, sich mit ihrem eigenen Fehlverhalten kritisch auseinanderzusetzen und dadurch die Möglichkeiten von langfristigen innerinstitutionellen Lernprozessen überhaupt erst möglich zu machen. Wer fordert, dass ehemalige Mitglieder bewaffneter Gruppen ihr Wissen über Tatbeteiligungen preisgeben sollten, um den Opferfamilien nach Jahrzehnten endlich die notwendige Gewissheit über den Tod ihrer Verwandten und Freunden zu ermöglichen, sollte in diesem Fall selbst mit gutem Vorbild vorangehen.
[1] Brief von Günther Nollau an Hans-Dietrich Genscher (ohne Titel), 21. Mai 1972, Privatarchiv Robert Wolff.
[2] Der SPIEGEL, Dr. Günther Konrad Nollau, 30.04.1972.
[3] Der SPIEGEL, Verfassungsschutz, Nichts Unsittliches, 23.01.1972, .
[4] Der SPIEGEL, Dr. Günther Konrad Nollau, 30.04.1972.
[5] Abkürzung für Bundesgrenzschutz.
[6] Brief von Günther Nollau an Hans-Dietrich Genscher, Bildung der Sondergruppe zur Gewinnung von Nachrichten auf dem Gebiet des Terrorismus, 10.01.1973, Privatarchiv Robert Wolff.