Einer Telefonnotiz in den Archivakten zum Frankfurter »Brandstifterprozess« zufolge wurde Gudrun Ensslin schon einmal am 18. Dezember 1971 in Beirut festgenommen, also rund ein halbes Jahr vor ihrer endgültigen Verhaftung in Deutschland. Daran ist nicht nur bemerkenswert, dass sie demzufolge zwischenzeitlich wieder auf freien Fuß gekommen ist. Außerdem hätte sich die Verhaftung im Libanon nur relativ kurze Zeit vor der sogenannten »Mai-Offensive« der RAF ereignet. Aber noch weitere Details in der Aktenüberlieferung sind erstaunlich.
Der Rückruf kam erst einen Monat später
Demnach stellt es sich so dar, dass an diesem 18. Dezember ein Beamter der Sicherungsgruppe Bad Godesberg gegen 11.35 Uhr den für die Ermittlungen gegen Ensslin zuständigen Oberstaatsanwalt in Frankfurt zu erreichen versuchte. Nicht nur ihre Verhaftung wollte er melden, sondern ihn zugleich darauf hinweisen, dass nun möglichst rasch ein Auslieferungsersuchen gestellt werden musste. Aber der Frankfurter Staatsanwalt war gerade telefonisch nicht erreichbar und der BKA-Beamte wollte es um 12.15 Uhr noch einmal versuchen. Auch dieser Versuch blieb erfolglos, so wie auch in den darauffolgenden Tagen kein Gespräch zustande kam. Ein ganzer Monat verging, bis sich der Frankfurter Justizbeamte endlich zu einem Rückruf in Bad Godesberg durchringen konnte. Und was erfuhr er da, als er schließlich am 18. Januar 1972 – sogar exakt einen Monat später – mit der Sicherungsgruppe telefonierte? Erstens, dass sich Gudrun Ensslin noch immer in Beirut aufhielt. Und zweitens: »beamter des -bka- befindet sich bereits dort. ensslin steht z. zt. unter observation.«[1]
Um es vorweg zu nehmen: Weder gibt die Akte etwas zu den mit der Observation in Zusammenhang stehenden Ermittlungsergebnissen preis, noch erfährt man, was danach geschah, weil die Überlieferung an dieser Stelle abrupt endet. Aber einem SPIEGEL-Bericht vom 30. Januar 1972 ist zu entnehmen, dass es tatsächlich zeitnah in Beirut zu Razzien kam (»auf deutsches Ersuchen hin«), bei denen »42 junge Leute« in Hotels und Jugendherbergen überprüft worden sind.[2]
Black Box Beirut
Insbesondere über die Kontakte der ersten RAF-Generation zu palästinensischen Organisationen im arabischen Raum ist wenig bekannt, auch weil das zunächst für nicht relevant erachtet wurde. Ob das schon eine Erklärung dafür ist, dass besagter Libanon-Aufenthalt Gudrun Ensslins zum Jahreswechsel 1971/72 noch nirgends erwähnt wurde, ist eine andere Frage. Die Geschichtsforschung ging jedenfalls »zwischen Ende 1970 und Mitte 1972« von einer »Lücke in den Beziehungen der beiden zukünftigen Partner«[3] aus. Und publizistisch wurden die Nahost-Beziehungen der ersten RAF-Generation von Anfang an eher ins Lächerliche gezogen. Erst entstand hier ein exotistisch ausgeschmücktes Bild von linksmilitanten »Hippie-Urlaubern«[4], das anschließend in populären Veröffentlichungen aufgegriffen und weiterverbreitet, aber leider auch in der Forschungsliteratur nie so recht in Frage gestellt wurde. Letztlich nimmt es da nicht wunder, wenn weder von publizistischer Seite her noch auf wissenschaftlich fundierte Weise Anreize für eine eingehendere Auseinandersetzung mit den internationalen Verflechtungen der frühen RAF gesetzt wurden.
Ein Libanon-Aufenthalt Gudrun Ensslins zu dieser Zeit fiele allerdings genau in die weiter oben erwähnte »Lücke« und könnte sogar für eine gewisse Kontinuität in den besagten Beziehungen sprechen. Nachdem die Gruppe um Horst Mahler, der auch Andreas Baader und Gudrun Ensslin angehörten, im Sommer 1970 in einem jordanischen Fatah-Camp an den Waffen ausgebildet worden war, wurde die Fatah zunächst weitgehend aus Jordanien vertrieben Im darauffolgenden Jahr verlagerte sie sich aber in den Libanon. So scheint es fast, als wären ab 1970 im arabischen Raum immer auch dort RAF-Mitglieder anzutreffen gewesen, wo die palästinensische Fatah gerade politisch einflussreich war.
Stammheim liegt nicht am Jordan
Dass ein aktenkundig gewordener Libanon-Aufenthalt Ensslins aber nicht einmal im Stammheim-Prozess Erwähnung fand, so auch bei der Zeugenbefragung Manfred Grashoffs nicht, obwohl der sich sehr ausführlich über die RAF im »internationalen Rahmen« äußerte und dass sie sich durchaus mit der »palästinensische[n] Revolution dort unten«[5] verbandelt sah, erscheint für sich genommen erstaunlich. Immerhin war schon die Bundesanwaltschaft Ende 1971 so weit, dass sie die RAF nach ihrer Rückkehr aus Jordanien als »kriminelle Vereinigung« ansah und sogar die »Geburtsstunde der Organisation« dementsprechend datierte (anstatt etwa auf die gewaltsame Haftbefreiung Andreas Baaders am 14. Mai 1970, wie vielerorts zu lesen ist.[6]
Da hätte es eigentlich auch im Stammheim-Prozess nahegelegen, die immerhin mögliche Beteiligung internationaler Akteure an den Anschlägen zwischen dem 11. und 24. Mai, worauf sich ja die Hauptanklagepunkte bezogen, zumindest anzusprechen. Doch stattdessen fiel man Grashoff immer wieder ins Wort, weil es angeblich nichts »zur Sache« beitrug, wenn er sich über die Fatah-Beziehungen äußerte. Zumindest, was die »erste Generation« anging, war danach die Frage nach den internationalen Verflechtungen auch juristisch ad acta gelegt.
Selbsterfüllende Prophezeiungen
Wie es scheint, war die Wahrnehmung der ersten RAF-Generation und ihrer Taten über lange Zeit fast schon systematisch auf den innenpolitischen Kontext eingeengt. Ausgedehntere Nahost-Aufenthalte ihrer Mitglieder bis 1972 lagen somit freilich außerhalb dieses Fokus. Aber auch die kuriose Begebenheit, dass sich in diesem Zusammenhang ein Staatsanwalt einen ganzen Monat Zeit ließ, bis er auf Gudrun Ensslins Verhaftung im Ausland überhaupt erst reagierte, hinterlässt Fragen.
Zwar hatte zur gleichen Zeit schon die Bundesanwaltschaft Befürchtungen geäußert, Ermittlungen auf Grundlage des §129 (»Bildung einer kriminellen Vereinigung«) könnten alles noch verkomplizieren, weil sich dann »zuweilen Bundesstaatsanwaltschaft und Sicherungsgruppe, zuweilen auch nur die Landeskriminalämter und örtlichen Staatsanwaltschaften für zuständig erklären«[7] könnten. Nun, das war aber schon vorher der Fall – auch ohne Bundesstaatsanwaltschaft. So lange allerdings noch kein Ermittlungsverfahren gemäß §129 lief, brauchte auch der örtliche Staatsanwalt nicht anders vorgehen, als er es im Falle anderer »gewöhnlicher« Verbrechen getan hätte. Zugleich wäre das die einfachste Erklärung für seine enorm ausgedehnte Reaktionszeit, auch wenn sie im Rückblick noch so unverständlich scheint. Den Spuren nach zu urteilen, die sie in den »Brandstifter«-Akten hinterlassen hat, war zur gleichen Zeit allerdings die Sicherungsgruppe schon ganz auf den »Frontalangriff gegen die Gesellschaftsordnung«[8] eingestellt. Zunehmend eigenmächtig erweiterte sie ihre Zugriffe: Im Inneren mit immer mehr Hausdurchsuchungen, im Ausland, indem sie BKA-Beamte vorauseilend dorthin schickte. Das fatale Grundmuster der kommenden Jahre ist also bereits hier zu erkennen: Je mehr die Polizeibehörden ihr Handeln intensivierten, umso mehr schien das auch das Bild jenes »Bullenstaats« zu bestätigen, das die RAF davor schon heraufbeschworen hatte. Und je mehr Unbeteiligte sich dadurch beeindrucken ließen und sich radikalisierten, desto mehr schien sich auch für die Polizei – einer selbsterfüllenden Prophezeiung gleich – die Annahme eines »Sympathisantenmilieus« zu bewahrheiten.
Paradoxe Effekte und perspektivische Verengungen
Nur ließe sich all das – bis zu einem gewissen Grad zumindest – ironischerweise sogar als Bestätigung rechtsstaatlicher Prinzipien sehen, auch wenn diese bisweilen paradoxen Effekte in der Praxis der Strafverfolgung hatten. Denn die offensichtliche Behäbigkeit des Staatsanwalts mag vielerlei bedeuten, nur als Rechtsbeugung lässt sie sich kaum auslegen, was sich über das vorauseilende Handeln der Polizeibehörden aber nicht uneingeschränkt sagen lässt. So steht der gesamte aktenkundige Vorgang um die Verhaftung Ensslins zwar einerseits in der langen »Tradition« von Behördenversäumnissen bei der Aufklärung politisch motivierter Gewalt, akzentuiert dabei aber eher strukturelle Paradoxien auf institutioneller Ebene. Ganz sicher verdeutlicht der Fall jedoch, dass die Gründungsphase der RAF noch viel zu wenig aus einer internationalen Perspektive erforscht wurde. Dass diese Verhaftung bisher keinerlei Erwähnung fand, hat schon für sich genommen einen gewissen Aussagewert. Aber vielleicht wären gerade hiervon neue Erkenntnisse zu den internationalen Verstrickungen der ersten RAF-Generation zu erwarten.
[1] Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, 461 Nr. 34687.
[2] N.N., »In die Bank und durchgeladen. Fortsetzung«, in: Der Spiegel 6/1972. (zuletzt: 4.9.2023)
[3] Thomas Skelton-Robinson, »Im Netz verheddert: Die Beziehungen des bundesdeutschen Linksterrorismus zur Volks-front für die Befreiung Palästinas (1969-1980).« In: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus. Hamburg 2006, Bd. 2 (S. 828-904), S. 857.
[4] Vgl. N.N., Der Baader-Meinhof-Report: Dokumente – Analysen – Zusammenhänge. Aus den Akten des Bundeskri-minalamtes, der »Sonderkommission, Bonn« und dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Mainz 1972, S. 42ff.
[5] Prozessprotokoll zum 139. Verhandlungstag am 25. August 1976.
[6] N.N., »In die Bank und durchgeladen.« Der Spiegel 5/1972 (23.01.1972), S. 34. (zuletzt: 4.9.2023)
[7] Ebd.
[8] Gisela Diewald-Kerkmann, »Justiz gegen Terrorismus: ›Terroristenprozesse‹ in der Bundesrepublik, Italien und Großbritannien.« In: Johannes Hürter (Hrsg.), Terrorismusbekämpfung in Westeuropa: Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren. Berlin 2015 (S. 35-61), S. 40.