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1. Juli 2020

Am 7. März 1965 marschierten über 500 Menschen in einem friedlichen Protestzug über die Edmund Pettis Bridge in Selma, Alabama, im Süden der USA, um für die Durchsetzung des Wahlrechts für schwarze Amerikaner*innen zu demonstrieren. Auf der anderen Seite angelangt, wurden sie von berittener Polizei niedergeknüppelt und mit Tränengas beschossen. Die Polizeigewalt am „Bloody Sunday“ wurde live in die Wohnzimmer des Landes ausgestrahlt und sorgte für Entsetzen. Zwei Wochen später, am 21. März, konnten nunmehr fast 8000 Demonstrant*innen unter Führung von Martin Luther King ihren Protestmarsch Richtung Alabamas Hauptstadt Montgomery fortsetzen. Präsident Lyndon B. Johnson legte in einer Rede vor dem Kongress ein klares Bekenntnis zum Voting Rights Act ab, den er am 6. August des Jahres unterschreiben konnte. Im Jahr hatte zuvor hatte er bereits gegen viele Widerstände vor allem auch aus seiner Demokratischen Partei, die damals den amerikanischen Süden dominierte, ein wichtiges Bürgerrechtsgesetz durchgesetzt.

Leaders of the Selma-Montgomery March, Edmund Pettis Bridge, 10. September 2016. Foto: Roland Arhelger. Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 4.0.

Fünfzig Jahre später stand der erste afroamerikanische Präsident der USA ebenfalls auf der Edmund Pettis Bridge. Mit bestimmten Orten und Ereignissen, so Barack Obama, seien Wendepunkte der amerikanischen Geschichte verbunden. Dazu gehöre auch Selma. „We gather here to honor the courage of ordinary Americans willing to endure billy clubs and the chastening rod; tear gas and the trampling hoof; men and women who despite the gush of blood and splintered bone would stay true to their North Star and keep marching towards justice.”[1] Aber längst sei nicht alles erreicht: „We know the march is not yet over. We know the race is not yet won (…) but we’re getting closer.”[2]

Obama verteidigte die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung gegen diejenigen, die angesichts der weiterhin andauernden Polizeigewalt und der massiven strukturellen Benachteiligung der afroamerikanischen Minderheit jeglichen Fortschritt verneinten. Denn das würde bedeuten, „to rob us of our own agency, our own capacity, our responsibility to do what we can to make America better.”[3]

 

 

Brutale rassistische Gewalt, ob von weißen Einzeltätern, Mobs oder der Polizei, aber auch die Tatsache, dass die Schuldigen meist nicht dafür bestraft wurden, lösten immer wieder Proteste aus. In seiner „I have a dream”-Rede erwähnte Martin Luther King 1963 zweimal explizit „police brutality“.[4] Immer wieder gab es Ereignisse, die auch international für Entsetzen sorgten, wie die Ermordung des 14-jährigen Emmett Till in Mississippi im Jahre 1955, den Tod von Trayvon Martin in Florida im Jahre 2012 und von George Floyd durch Polizisten in Minneapolis am 25. Mai dieses Jahres. Und immer wieder wurden Rufe nach Reformen laut. Untersuchungsberichte wie der Ferguson Report von 2015 bestätigten systematische Polizeivergehen mit deutlichem „racial bias“, die neben vielen anderen weiterhin aktuellen Problemen auch in dem 1968 veröffentlichten nationalen Untersuchungsbericht zu Unruhen in schwarzen Ghettos aufgelistet waren.[5]

„Our nation”, so die zentrale Aussage des sogenannten Kerner Reports, „is moving toward two societies, one black, one white – separate and unequal.”[6]

 

Erleben wir momentan wieder einen wichtigen Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte? Die aktuellen Proteste gegen Polizeigewalt und die wachsende Unterstützung der als Reaktion auf Polizeigewalt in Ferguson entstandene „Black Lives Matter“-Bewegung haben eine beeindruckende Größe erreicht und finden bis weit in die Mitte der Gesellschaft Unterstützung. Aber weil sich heute gleich mehrere schwere Krisen überlagern, ist „Selma“ nicht der richtige Vergleichsfall, sondern eher die Jahre um 1968. Damals waren die USA ein tief gespaltenes Land, politisch und auch zunehmend kulturell. Student*innen kämpften für Redefreiheit und die Demokratisierung von Universitäten und Gesellschaft. Sogar Veteranen protestierten öffentlichkeitswirksam gegen den Vietnamkrieg. Die moderne Frauenbewegung entstand und Umweltschutz wurde zum Thema. Mit den von John F. Kennedy zunächst zögerlich und dann von seinem Nachfolger Johnson mit großem Eifer und einem weit willigeren Kongress umgesetzten Programme übertrafen die Demokraten mit ihren zahlreichen Reformen im sozialen Bereich, in der Einwanderungspolitik, bei Bürgerrechten und auf vielen weiteren Feldern, sogar den New Deal von Franklin D. Roosevelt in den Jahren der Großen Depression. Das Land war auf vielfältige Weise in Bewegung geraten, wandelte sich, aber zugleich organisierte sich eine konservative Gegenbewegung, die einen bis heute andauernden Kulturkampf ausrief.

Richard Nixon appellierte im Präsidentschaftswahlkampf 1968 erfolgreich an die „große schweigende Mehrheit” jener Amerikaner*innen, die arbeiteten und brav Steuern zahlten, gesetzestreu und gläubig waren – „people who love this country“.[7] Sie konnten sich oft nicht mit dem Wandel identifizieren und fühlten sich ausgegrenzt, von Washington und den liberalen Medien „vergessen“, anders als die Protestler*innen und Krawallmacher*innen. Nixon setzte wie die meisten Republikanischen Präsidenten nach ihm nicht auf Einigkeit, sondern auf Spaltung. Statt afroamerikanische Wähler*innen zurückzugewinnen, zielte seine „Southern Strategy“ darauf, künftig Mehrheiten mit den Stimmen der „negrophoben Weißen“[8] im Süden der USA zu erlangen, wie es einer seiner wichtigsten Wahlstrategen formulierte. Mit Ronald Reagan begann dann in den 1980er Jahren der republikanische Siegeszug gegen „big government“, für Deregulierung und massive Steuersenkungen.

Richard Nixon auf Wahlkampftour in Paoli, Philadelphia, Juli 1968. Foto: Ollie Atkins, White House photographer. Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: Public Domain.

Die Republikanische Partei hat sich seit den Zeiten von Nixon, der immerhin noch half, die amerikanische Umweltbehörde EPA ins Leben zu rufen, und von Reagan gewandelt. Sie hat sich auch schon vor der Übernahme durch Donald Trump immer weiter nach rechts bewegt. Mit Trump an der Spitze steht die „Grand Old Party“ heute unter anderem für Rassismus, die Unterminierung staatlichen Handelns, die Missachtung des Rechtsstaates, eine unmenschliche Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik und gigantische Haushaltsdefizite. Sie kann als „Erfolge“ lediglich auf die Ernennung von 200 auf Lebenszeit berufenen konservativen Bundesrichter*innen und auf Steuererleichterungen vor allem für die reichsten Amerikaner*innen verweisen. Auch das internationale Ansehen der USA ist massiv beschädigt und selbst Amerikas Bündnistreue steht in Frage. Donald Trump spielte 2016 erfolgreich auf einer ähnlichen Klaviatur wie Nixon. Seitdem hat er, so auch der ehemalige Verteidigungsminister Jim Mattis, nur auf die Spaltung der Gesellschaft abgezielt und gebe nicht einmal vor, das Land einen zu wollen.

Im aktuellen Wahlkampf beschwört Trump erneut eine „silent majority“.[9] Doch die eigentliche Mehrheit hat sich längst gegen Trump und die republikanische Politik formiert. Und sie ist nicht mehr still, sondern wird immer lauter, auch wenn nicht alle auf die Straße gehen oder Petitionen unterschreiben. Selbst Kernwähler*innengruppen der Republikaner wenden sich von einem Präsidenten und einer Partei ab, die eine katastrophale und völlig unzureichende Antwort auf die Corona-Pandemie zu verantworten haben und selbst noch in der größten Gesundheitskrise seit 100 Jahren an der Abschaffung von Obamacare arbeiten. Gerade jetzt, wo die USA zudem eine der größten Wirtschaftskrisen der Geschichte erleiden, zeigt sich, wie wichtig ein starker und handlungsfähiger Staat mit entsprechenden Behörden wäre, der auch wirtschaftliche und finanzielle Hilfen leisten soll.

Trump hat die Wahl noch nicht verloren, aber viele Zeichen deuten auf einen massiven Backlash gegen die seit Nixon so erfolgreiche konservative Wende, die in Trumpismus gemündet ist. Ein Präsident Joe Biden und eine mögliche Mehrheit der Demokraten auch im Senat wären nicht um die gewaltigen Reparaturaufgaben zu beneiden. Aber darin liegt auch eine große Chance. Nach Obamas Wahlsieg 2008 beschrieb sein Stabschef Rahm Emanuel das angesichts der damaligen Wirtschafts- und Finanzkrise so: „You never want a serious crisis to go to waste, and what I mean by that is an opportunity to do things that you didn't think you could do before.”[10] Als Außenministerin griff Hillary Clinton diesen Satz in prägnanter Weise wieder auf: „Never waste a good crisis.“[11] Momentan durchleiden die Vereinigten Staaten leider gleich mehrere „gute“ Krisen. Es gibt zumindest ein bisschen Hoffnung, dass diese nicht „verschwendet“ werden, sondern zu einer neuen Reformzeit führen und dass 2020 zu einem „historischen“ Jahr wird.

 


[1] Barack Obama: Remarks by the President at the 50th Anniversary of the Selma to Montgomery Marches, 7. März 2015, [zuletzt abgerufen am 1. Juli 2020].
[2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Martin Luther King, Jr., „Have a Dream”. Address Delivered at the March on Washington for Jobs and Freedom, 28. August 1963, [zuletzt abgerufen am 1. Juli 2020].
[5] Ferguson: United States Department of Justice Civil Rights Division, Investigation of the Ferguson Police Department, 4. März 2015, [zuletzt abgerufen am 1. Juli 2020].
[6] Kerner: Report of the National Advisory Commission on Civil Disorders (Kerner Commission), 1968, [zuletzt abgerufen am 1. Juli 2020].
[7] Richard Nixon, Acceptance of the Republican Nomination for President, August 8, 1968, [zuletzt abgerufen am 1. Juli 2020].
[8] „negrophobe” zit. in: James Boyd, Nixon's Southern strategy 'It's All In the Charts', in: New York Times, 17. Mai 1970, [zuletzt abgerufen am 1. Juli 2020].
[9]  Donald Trump: z.B.: Das Wahlvideo We are the Silent Majority”, 7. November 2016, und Trumps-Rede bei Campaign Rally in Tulsa, Oklahoma am 20. Juni 2020, [zuletzt abgerufen am 1. Juli 2020].
[10] Rahm Emanuel zit in: Gerald F. Seib, In: Crisis, Opportunity for Obama, in: Wall Street Journal, 21.11.2008, [zuletzt abgerufen am 1. Juli 2020].
[11] Hillary Clinton zit in: Pete Harrison, Never Waste a Good Crisis, Clinton Says on Climate, Reuters, 6. März 2009, [zuletzt abgerufen am 1. Juli 2020].