von Corinna Kuhr-Korolev

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10. Dezember 2020

Irina Alexandrowna Antonowa, die mit 98 Jahren verstorbene ehemalige Direktorin des Puschkin-Museums für Bildende Künste in Moskau, schien fast so unvergänglich wie die Kunst, die sie liebte. Von allen respektiert, nicht von allen geliebt, war sie eine feste Größe des sowjetischen und des russischen kulturellen Lebens.[1]

 

Konservativ – bürokratisch - der Zukunft zugewandt

„Das Museum ist einer der Orte, die die höchste Vorstellung vom Menschen vermitteln.“ Dieses Zitat leitet das Profil des „Irina Antonowa Clubs“ auf Vkontakte.com ein, eines in Russland populären sozialen Netzwerks. Übernommen ist der Satz von André Malraux, dem französischen Schriftsteller, Kunstkenner, Abenteurer und Kulturministers der Ära de Gaulle.[2] Bemerkenswert daran ist,  dass die fast hundertjährige Antonowa die sozialen Netzwerke zur Arbeit am eigenen Mythos nutzte. Ihr Leitmotiv huldigt einem alten französischen Freund und Kollegen, mit dem sie seit den 1960er Jahren zusammengearbeitet hat und es trifft den Kern des Verständnisses von Museumsarbeit, das Antonowa repräsentierte und lebte. Damit ist bereits angedeutet, dass ihre Persönlichkeit und ihr Wirken sehr viel facettenreicher war, als es die meisten deutschen Presseartikel vermitteln, die sie vor allem als erzkonservative Museumsfrau und unerbittliche „Hüterin der Beutekunst“ darstellen.[3] Es macht das Faszinierende an Irina Antonowa aus, dass sie als langjährige Direktorin des Puschkin-Museums einerseits dem Typus der sowjetischen Parteibürokratin entsprach, andererseits aber bis ins hohes Alter die Museumsarbeit zwar konservativ, aber trotzdem weltoffen, charmant, kunstsinnig und progressiv betrieb.

 

Sowjetische Musterbiografie

Antonowa hat ihre offizielle Biografie in zahlreichen Interviews über Jahrzehnte ausformuliert. Noch ist nur eine reflektierende Nacherzählung dessen möglich, was Antonowa selbst von sich preisgeben wollte. Persönliches gehörte kaum dazu. Es passte nicht zu dem Motiv, dass das Dasein erst durch die Arbeit für Bildung, Kunst und Kultur zum erzählwürdigen Leben wird.[4] Irina Antonowa wurde 1922 im Zentrum von Moskau als Tochter des überzeugten Parteigenossen und Ingenieurs Alexander Antonow und der aus Litauen stammenden Ina Chejfiz geboren. Der Vater kam aus einer Arbeiterfamilie aus St. Petersburg und arbeitete sich zum Direktor einer Fabrik für Glasproduktion hoch. Im Jahr 1929 bekam Alexander Antonow einen Posten im sowjetischen Außenhandel in Berlin. Für vier Jahre, im Alter zwischen 7 und 11 Jahren, lebte Irina Antonowa in Berlin und lernte die deutsche Sprache. Später kamen gute Kenntnisse des Italienischen, Französischen und Englischen hinzu. Vor und während des Zweiten Weltkriegs studierte sie in Moskau Geschichte, Philosophie und Literatur und arbeitete gleichzeitig als Krankenschwester. Nach dem Ende des Krieges bekam sie eine Stelle im Puschkin-Museum für Bildende Künste und arbeitete an einer Dissertation zur italienischen Kunst der Renaissance. Im Jahr 1945 lernte sie auch ihren späteren Mann kennen, den Kunsthistoriker und Spezialisten für westliche Kunst der frühen Neuzeit, Jewsej Rotenberg. Mit ihm lebte sie bis zu seinem Tod 2011 zusammen.

 

Die Rettung der „Sixtina“ als Mythos und Erweckungserlebnis

Das Jahr 1945 wurde für Irina Antonowa zum Schlüsseljahr. Ihre erste Begegnung mit dem Museum beschrieb sie vor einigen Jahren in einer Fernsehsendung vor allem als bedrückend. Die Räume seien kahl gewesen, weil sich alle Exponate noch am Evakuierungsort Novosibirsk befanden. Die Glasdecken waren durch Bombenbeschuss teilweise eingestürzt.[5] Sie hätte kaum atmen können zwischen den marmornen Wänden, die Mitarbeiterinnen wären ihr alt und uninspiriert vorgekommen. Dann hieß es, sie bekäme eine besondere Aufgabe: Bei Dresden habe die Rote Armee die ausgelagerten Kunstwerke der Dresdner Sammlungen in schlechtem Zustand aufgefunden. Sie solle mit einer Delegation dorthin fahren und die Bestände sichten. Sie bekam eine Uniform und den Rang eines Majors. Mit dieser Uniform sei sie als 23-jährige über die Hauptstraße Twerskaja gelaufen und deutlich ältere Soldaten hätten mit Ehrerbietung salutiert. Schließlich wurde sie doch als zu jung für die Aufgabe angesehen und ihr die Uniform wieder abgenommen. Mit Jewsej Rotenberg und anderen übernahm sie dennoch den Empfang der Dresdner Bilder.[6] Besonders eindrucksvoll beschrieb sie die Ankunft der „Sixtinischen Madonna“, dem berühmtesten Gemälde der Sammlung.
 

„Im August 1945 kam sie. Ich werde es nie vergessen, wie wir sie auspackten, im italienischen Hof. Die Soldaten kamen herein, stellten die Kiste in den italienischen Hof, nahmen den Deckel ab und es stellte sich heraus, dass das Gemälde in weiße, weiche Decken eingewickelt war. Wir haben diese Decken abgemacht, dann waren da noch einige Lagen, das Bild tauchte auf. Das war ein unvergesslicher Eindruck. Ich glaube, niemand hat sie jemals wieder so gesehen, wie wir damals. Wir, die wir … – gerade hatte der Krieg geendet, bei allen war etwas passiert, wo ist der Bruder, wo ist der Vater, wo die Mutter, viele hatten im Krieg Menschen verloren, und ich hatte immerhin im Hospital gearbeitet […] ich habe auch das Gesicht des Krieges gesehen, auf dem Tisch, auf dem man Beine amputiert hat […] – alles das hatten wir gesehen. Und deshalb sahen wir sie so. Erinnern sie sich an die wundervolle Geste, die sich Raffael ausgedacht hat, […] wie sie dieses Neugeborene an sich zieht und Ihnen gleichzeitig hinreicht. Diese Geste hat zwei Bedeutungen. Das Opfer und die unendliche Liebe. Und diese Geste war unvergesslich. Nichts anderes haben wir wahrgenommen […] wir sahen nur diese wunderschöne junge Frau, die ihr Kind weggibt.“[7]

 

Die Schilderung dieser emotionalen Begegnung mit der „Sixtina“ mag dem Mythos um das Bild geschuldet sein oder tatsächlich einen entscheidenden Impuls für das Kunstempfinden Antonowas gegeben haben. Auf jeden Fall blieb das Bild als ein Objekt der sogenannten Trophäenkunst ein Thema, mit dem sie sich immer wieder auseinandersetzen musste.[8] 1954 stellte das Puschkin-Museum die teilweise restaurierten Dresdner Gemälde aus, bevor sie zwischen 1955 und 1958 an die DDR zurückgegeben wurden.[9] Insgesamt handelte es sich um über 1,5 Millionen Objekte, die aus sowjetischen Museen an DDR-Museen zurückgingen, darunter auch der Pergamon-Altar.[10] Diese umfangreiche Rückgabe ist in der deutschen Öffentlichkeit weit weniger bekannt als die Bestände, die in der UdSSR in sogenannten spezfondy verblieben und erst in den 1990er Jahren wieder thematisiert wurden.

 

Akteurin sowjetischer Kulturdiplomatie

Im Jahr 1961, während der Regierungszeit Chruschtschows, wurde Irina Antonowa zur Direktorin des Puschkin-Museums ernannt. Sie behielt diesen Posten 52 Jahre lang bis zum Jahr 2013.[11] Dabei stand sie immer in engem Kontakt mit der politischen Führung und wurde mit einer Vielzahl staatlicher Orden bedacht. Gleichzeitig zeigte sie großen Mut in der Organisation von Ausstellungen, die aus politischen oder ideologischen Gründen umstritten waren. Schon 1956 beteiligte sie sich federführend an einer Picasso-Ausstellung. In den 1960er und 1970er Jahren gelang es ihr, westeuropäische Kunst aus den führenden Museen der Welt in Moskau zu zeigen. Das legendärste Ereignis war die Präsentation der „Mona Lisa“ im Jahr 1974, die Millionen Moskauer*innen sehen wollten.[12] In den 1980er Jahren fand die spektakuläre „Paris – Moskau-Ausstellung“ statt, der 1990 die nicht weniger aufsehenerregende „Moskau – Berlin-Ausstellung“ folgte. Irina Antonowa gehörte zu den sowjetischen Museumsleuten, die aktiv mit westlichen Partner*innen zusammen arbeiteten. Lange Zeit war sie stellvertretende Vorsitzende des Internationalen Council of Museums (ICOM) und organisierte die 11. Generalkonferenz 1977 in Leningrad und Moskau. Bei dieser Gelegenheit entstand die Idee des „Tag(es) der Museen“, der heute an jedem 18. Mai weltweit begangen wird.[13]

 

Kontinuitäten und Aufbrüche

Die internationalen Kontakte konnte Antonowa seit den Jahren der Perestroika intensivieren und sicherlich halfen die vielfältigen, teilweise sehr persönlichen Kontakte mit westlichen Museumskolleg*innen, Sammler*innen und Mäzen*innen bei der Überwindung der vielen Probleme der 1990er Jahre und der Modernisierung des Museums. Auch in dieser Phase war es wieder erstaunlich, wie Antonowa einerseits in Führungsstil, Auftreten und Härte ihrer Positionen das alte System repräsentierte und andererseits ständig neue Ideen entwickelte und umsetzte. Einer ihrer letzten Pläne war die Wiedergründung eines Museums für neuere westliche Kunst in Moskau, das bis zur Schließung durch Stalin im Jahr 1948 existierte. Der Plan hätte die Rückführung von Beständen aus der St. Petersburger Ermitage bedeutet und traf bei dessen Direktor, Michail Piotrowskij, und der russischen Museumswelt auf Unverständnis. Es heißt, der Konflikt darum habe den Anlass gegeben, sie 2013 ihres Amtes zu entheben und durch Marina Loschak abzulösen. Allerdings bekam Antonowa den Ehrentitel der Präsidentin verliehen und behielt ihr legendäres Arbeitszimmer hinter den hohen, schweren Holztüren inmitten der Ausstellungsräume im ersten Stock des Museums.

 

Die „eiserne Lady“ der Beutekunstfrage

Hinsichtlich der „Trophäenkunst“ blieb sie bis zuletzt bei ihrem Standpunkt, dass Russland einen moralischen Anspruch auf die Kunstwerke aus Deutschland habe. Angesichts der Verbrechen an der sowjetischen Zivilbevölkerung und der von Deutschen verursachten, verheerenden Zerstörungen des Landes sah sie dies als Wiedergutmachung und Mahnung an die Welt.[14] Nachdem sich seit 1991 nicht mehr leugnen ließ, dass unter anderem der Schatz des Priamos und der Eberswalder Goldschatz in den Depots des Puschkin-Museums aufbewahrt werden,[15] vereinbarte Antonowa eine Reihe bilateraler Arbeits- und Ausstellungsprojekte. Zuletzt, im Frühjahr 2020, präsentierte das Museum online ein russisch-deutsches Restaurierungsprojekt.[16] Der dafür gewählte Titel „Zweifach gerettet“ ist nicht neu und drückt die russische Lesart, beziehungsweise die Argumentation Antonowas aus. Sie lautet: Sowjetische Kunsthistoriker*innen haben 1945 die Kunstwerke aus den Trümmern der zerstörten deutschen Städte gerettet und seitdem retten die russischen Restaurator*innen sie durch ihre Arbeit ein zweites Mal.[17]
Ist das ein Grund zur Entrüstung? Oder ist es eher beschämend, dass sich die deutsche Seite bei Restitutionsverhandlungen beharrlich auf das Völkerrecht und die Haager Landkriegsordnung beruft, nachdem das nationalsozialistische Deutschland beides im Krieg auf jede nur erdenkliche Art und Weise verletzt hat?[18] Jedenfalls konnte Irina Antonowa bei aller Durchsetzungskraft den deutschen Unterhändlern zwar Achtung und Respekt abringen, jedoch nicht die Bereitschaft, den juristischen Standpunkt gegen einen moralischen abzuwägen.

 


[1] Das Titelzitat stammt aus dem Spiegel-Gespräch „Eine Lektion für die Welt“ mit Irina Antonowa, Spiegel, 09.07.2012, [03.12.2020].

[2] Vgl. Nado priznat‘, čto muzej – odno iz tech mest, gde ideja čeloveka dostigaet naivysšego razvitija [1.12.2020], franz: Le musée est un des lieux qui donnent la plus haute idée de l’homme, [dt. Übers. ckk].

[3] Ausnahmen bilden die Artikel von Journalist*innen, die sie über Jahrzehnte erlebt haben: Kerstin Holm, Eiserne Lady mit polyglottem Charme, FAZ, 02.12.2020, [03.12.2020]. „Sie war eine Institution“. Wolfgang Eichwede im Gespräch mit Stephan Koldehoff, Deutschlandfunk, 01.12.2020, [04.12.2020].

[4] Ihre Biografie findet sich in Kürze auf der Seite des Puschkin-Museums. [02.12.2020].

[5] Fotos vom Museum während des Krieges s.: Chraniteli. Vojna i mir v Muzee. GMII im. A.S. Puškina v 1941-1955 godach [Kustoden. Krieg und Frieden im Museum. Das Staatliche Puschkin-Museum der Bildenden Künste in den Jahren 1941-1955], o.D. [03.12.2020]. Vgl. auch Corinna Kuhr-Korolev, Ulrike Schmiegelt-Rietig, Elena Zubkova, (in Zusammenarbeit mit Wolfgang Eichwede), Raub und Rettung. Russische Museen im Zweiten Weltkrieg, Köln 2019.

[6] Vgl. Regine Dehnel, Einmal in die Sowjetunion und zurück?  26.03.2015, [02.12.2020].

[7] Linija žizni [Lebenslinie], Irina Antonova, 15.07.2018, [02.12.2020], Min. 9.00-12.40, (dt. Übers. ckk). Zum Mythos von der Rettung der Sixtinischen Madonna vgl. Lydmila Markina, The Sistine Madonna in Dresden and Moscow, in: The Tretyakov Gallery Magazine, Nr. 1 (2020) 66, [02.12.2020].

[8] Vgl. Digitale Datenbank: Konfiskationen und Transfer von Kulturgut aus Ostdeutschland in die Sowjetunion (Einsehbar in der Bibliothek des ZZF) [02.12.2020].

[9] Vgl. 1955g. Vystavka kartin Drezdenskoj galerei v Moskve [1955. Die Ausstellung der Gemälde der Dresdner Galerie in Moskau], [02.12.2020].

[10] Vgl. Projekt „Verlust und Rückgabe“ des Deutsch-Russischen Museumsdialogs 2008, [02.12.2020]; Anne Kuhlmann-Smirnow, Ralph Jaeckel, Rückkehr der Dresdner Schätze, in Arsprototo 4 (2014) [02.12.2020].

[11] Mit der Kontinuität von Eliten von der sozialistischen in die postsozialistische Zeit beschäftigt sich derzeit der Leibniz-Forschungsverbund „Legacies of communism“ am ZZF Potsdam, [03.12.2020]. Im Rahmen des Verbundes forscht die Autorin an dem Projekt: „Networks of Russian Museum Professionals from Late Socialism to the Putin-Era“.

[12] Vgl. Mona Liza v Moskve v 1974 godu [Mona Lisa 1974 in Moskau] , 07.03.2016 [02.12.2020].

[13] Vgl. 60 let IKOM Rossii [60 Jahre IKOM in Russland] , 09.12.2017, [02.12.2020].

[14] Ohne Umschweife erklärt sie ihre Position in dem eingangs erwähnten Spiegel-Interview „Eine Lektion für die Welt“, Spiegel, 09.07.201. [03.12.2020].

[15] Den ersten ausführlichen Bericht über die geheimen Depots in sowjetischen Museen, der in den USA erschien, verfassten die Kunsthistoriker Akinsha und Kozlov. Antonowa entließ daraufhin Kozlov, der zu diesem Zeitpunkt Mitarbeiter im Puschkin-Museum war. Konstantin Akinsha, Grigorii Kozlov. Spoils of War: The Soviet Union's Hidden Treasures, in: ARTnews 90, no.4 (April 1991), S. 130-141, nochmals veröffentlicht. [03.12.2020].

[16] Vgl. Dvaždy spasennye [Zweifach gerettet], (02.12.2020).

[17] Ausführlich dazu mit weiterführenden Literaturangaben: 1984–1985: Die doppelte Rettung der Sixtina, kommentiert von Simon Lindner, in: Translocations. Ikonographie: Eine Sammlung kommentierter Bildquellen zu Kulturgutverlagerungen seit der Antike, 10.10.2018, [03.12.2020].

[18] Kurze Übersicht zur Thematik und weiterführende Literatur: Karikatur von Merkels Beutekunst-Diplomatie, kommentiert von Susanne Meyer-Abich, in: Translocations. Ikonographie: Eine Sammlung kommentierter Bildquellen zu Kulturgutverlagerungen seit der Antike, 11.12.2018, [03.12.2020].