von Jan C. Behrends

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1. Mai 2015

Die Debatte um die Teilnahme der Bundeskanzlerin an den Feierlichkeiten am 9. Mai in Moskau und die Aufregung um den vereitelten Triumphzug der Rockergruppe „Nachtwölfe“ nach Berlin haben die öffentliche Aufmerksamkeit auf das russische Gedenken an den „Großen Vaterländischen Krieg“ gelenkt.
Kaum ein anderes Land betreibt derzeit eine so offensive Geschichtspolitik wie Russland. Die Interpretation der Zeitgeschichte ist in diesen Tagen ein weiteres Feld, auf dem Moskau dem Westen die Stirn bietet. Doch dieser geschichtspolitische Konflikt reicht weiter zurück als die gegenwärtige Beziehungskrise zwischen Ost und West. Die sowjetische Regierung dekretierte seit dem Kriegsende eine spezifische Form des Erinnerns und Vergessens, die bis heute den Kult um den „Großen Vaterländischen Krieg“ prägt.

Am Anfang war Stalin. Der sowjetische Diktator prägte nach dem deutschen Überfall den Begriff des „Großen Vaterländischen Krieges“ – in Anlehnung an den „vaterländischen Krieg“ von 1812 gegen Napoleon. Damit stellte er den Konflikt bewusst in die national-imperiale russische Tradition – der Kampf gegen den Faschismus trat zunächst in den Hintergrund. Nicht ideologische, sondern nationale und auch völkische Traditionen fanden sich in der sowjetischen Kriegspropaganda wieder. So inszenierte der Kreml bereits im Sommer 1941 eine internationale „slavische Bewegung“, die die sowjetische Verteidigung unterstützen sollte. Zugleich wurden selektiv Helden und Symbole aus der imperialen Vergangenheit rehabilitiert. Doch nach dem Triumph von 1945 galt die gesamte Aufmerksamkeit zunächst dem Sieger und Befreier selbst: Die Erinnerung an den Sieg wurde Teil des Führerkults um Stalin, der bis 1953 die sowjetische Öffentlichkeit dominierte. Im Stalinismus begann auch der Angriff der Herrschenden auf die kollektive Erinnerung, der bis in die Gegenwart anhält. In Filmen wie „Die Stalingrader Schlacht“ (1949) oder „Der Fall von Berlin“ (1949/50) wurde diese Meistererzählung auf Celluloid gebannt. Früh zeigte sich hier die kulturelle Dimension des Siegeskultes, in dessen Namen immer neue Artefakte produziert wurden und werden. Neben Stalins überdimensionierter Persona gab es keinen Platz für andere Helden. In der sowjetischen Welt sollten nur die Taten des vožd‘ (dt. Führer) erinnert werden. Seine Person verdeckte den Blick auf den Preis des Sieges. Die Ereignisse der Jahre 1939 bis 1945 wurden ein Tabu; die Sakralisierung des 9. Mai 1945 bedeutete zugleich, dass es untersagt war, sich über seinen historischen Kontext zu verständigen.
Bereits in seiner berühmten Rede vom 24. Mai 1945 trank Stalin „vor allem auf das Wohl des russischen Volkes“ und dankte ihm für seine Loyalität und seine Opfer. Damit legte er den Grundstein offizieller Erinnerungspolitik, der bis heute den Siegeskult prägt: die Vorrangstellung des russischen Volkes. Dies galt innerhalb der sowjetischen Völker, aber auch im Vergleich zu den westlichen Mächten, deren Anstrengungen im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland von sowjetischer Seite stets kleingeredet wurden. Den moralischen Kredit für den Sieg über die nationalsozialistischen Völkermörder beanspruchten Stalin und die Sowjetunion. Denn gerade der Nimbus als „Bezwinger des Faschismus“ vergrößerte die Anziehungskraft des sowjetischen Kommunismus – vor allem im Westen. Die Stilisierung Stalins zum „Befreier Europas“ erhöhte sein Prestige und ließ die Erinnerung an den Terror der 1930er Jahre und an den Pakt mit Hitler verblassen. An vielen Orten in Europa ließ Stalin seine Meistererzählung zu steinernen Kulissen werden. Sowjetische Kriegerdenkmäler wurden errichtet: Bis heute lässt sich in Berlins Treptower Park jener stalinistische Monumentalismus besichtigen, dessen Fassade den Blick auf historische Ambivalenzen versperrt.

Nach 1956 wurde auch die Kriegserinnerung entstalinisiert. Nun konnte erstmals der Opfer des Krieges gedacht werden – die Zahl der sowjetischen Kriegstoten wurde nach oben korrigiert. Das Schicksal der Bevölkerung in den schrecklichen Kriegsjahren durfte nun in Ansätzen thematisiert werden. Zugleich blieben jedoch zentrale Stützen der stalinistischen Meistererzählung unangetastet. Weiterhin wurde die Zeit zwischen dem Sommer 1939 und dem deutschen Überfall auf die UdSSR weitgehend ausgeblendet. Das Debakel des Sommers 1941, Desertion und Kollaboration, das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen, der Holocaust oder die Deportation ethnischer Gruppen während des Krieges waren weiterhin nicht Teil der offiziellen Erinnerung. Dennoch eröffneten sich unter Nikita Chruščev Möglichkeiten für einen differenzierteren Blick, und verschiedene Opfergruppen Stalins wurden rehabilitiert. Der Heldenkult umfasste fortan einfache Soldaten und Offiziere. Der in Ungnade gefallene Stalin wurde als Organisator des Sieges abgelöst.
Die sowjetische Führung unter Leonid Brežnev und seinen Nachfolgern (1964 bis 1985) nutzte den Kult um den „Großen Vaterländischen Krieg“, um die sozialistische Ordnung zu legitimieren. Die Sakralisierung des Sieges über Deutschland ersparte dem Regime die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Weil der militärische Triumph von 1945 beschworen wurde, war es nicht nötig, über die Niederlagen der vergangenen Jahrzehnte zu reden. Die gebrochenen Versprechen des Kommunismus fielen so weniger ins Gewicht, und die Verbrechen der sowjetischen Herrscher bekamen einen historischen Sinn: sie wurden zur Voraussetzung des Sieges erklärt. Im Jahr 1965 wurde der „Tag des Sieges“ zum arbeitsfreien Tag erklärt und erhielt damit jenen Status, den er bis heute hat. Mit dem Mamajew-Hügel zur Erinnerung an die Schlacht von Stalingrad verewigte auch diese Epoche 1967 den historischen Triumph in monumentaler Form. Mit großem Pomp beging das Regime 1975 den 30. Jahrestag der deutschen Niederlage. Wie zu Stalins Zeiten wurde der Kult nun wieder mit der Biographie des Machthabers verbunden: Die Überhöhung der Rolle Brežnevs im Krieg war Teil der offiziellen Mythologie.

Seit 1987/88 begann unter Michail Gorbačevs Herrschaft die Dekonstruktion des sowjetischen Siegeskultes. Nach anfänglichem Zögern nahmen sich Publizisten und Historiker auch der Geschichte des Weltkrieges an und begannen, die Meistererzählung zu demontieren. Es gab nun auch Versuche, die isolierte Betrachtung des deutsch-sowjetischen Krieges aufzubrechen und zukünftig in die internationale Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu integrieren. Doch die Diskussion über die Ergebnisse des Krieges erwies sich – wie das Baltikum, aber auch die westliche Ukraine zeigten – als explosives Thema für den Bestand des sowjetischen Staates. Wenn der Triumph von 1945 nicht die sowjetische Herrschaft begründen konnte – was war dann der Sinn russischer Geschichte im 20. Jahrhundert?

Nach den liberaleren Jahren unter Gorbačev und in der ersten Amtszeit des russischen Präsidenten Boris Nikolaevič El'cin hat sein Nachfolger Vladimir Putin seit seinem Machtantritt im Jahr 2000 den Kult des „Großen Vaterländischen Krieges“ wiederbelebt. Wie unter seinen sowjetischen Vorgängern dient die Geschichtspolitik Putins primär dazu, das eigene Regime zu legitimieren und die eigene Geschichte zu überhöhen. Problematische Aspekte der Vergangenheit werden ausgeklammert, kritische Forschung verhindert und der historische Sonderweg Russlands betont. Es ist eine Geschichtspolitik, die auf Konfrontation statt Versöhnung, auf Verdrängung statt Erinnerung, auf Imperium statt Nation, auf Eindeutigkeit statt Ambivalenz und auf Größe statt Demut setzt. Der Erinnerungskitsch aus der Zeit Stalins und Brežnevs kehrte im vergangenen Jahrzehnt mit Macht in die russische Öffentlichkeit zurück. Und die Radikalisierung des vergangenen Jahres machte auch vor der Geschichtspolitik nicht halt.

Seit Beginn der Ukrainekrise lässt sich beobachten, wie das Narrativ des „Kampfes gegen den Faschismus“ bemüht wird, um die russische Gesellschaft gegen die Maidan-Bewegung und die postrevolutionäre Regierung in Kiev zu mobilisieren. Das Tragen des „Georgsbandes“ – nun das offizielle Symbol der Erinnerung an 1945 – ist tatsächlich nicht nur eine Verneigung vor den Opfern des Krieges, sondern auch ein Zeichen der Loyalität zum Kreml und seiner Politik in der Ukraine und darüber hinaus. So ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts im Russland der Gegenwart wie unter sowjetischer Herrschaft ein Werkzeug staatlicher Macht. Wer die offizielle Erzählung nicht akzeptiert, steht außerhalb der idealisierten Gemeinschaft russischer Patrioten. Und auch nach außen dient der Kult des „Großen Vaterländischen Krieges“ der Abgrenzung von den europäischen Nachbarn. Für die Polen oder Balten ist die Erzählung nicht akzeptabel. Er spaltet die russische Gesellschaft so wie er Europa spaltet.

Moderne Staaten versuchen die nationale Geschichte zu nutzen und ihre großen Erzählungen zu kontrollieren. Zugleich ist die offizielle historische Erinnerung eines Staates stets ein Indikator der politischen Ordnung. Russland ist hier eher die Regel als die Ausnahme. Doch Geschichte ist sperrig. Die offiziellen Narrative werden von den privaten Erinnerungen vielfach gebrochen. Das war in der Sowjetunion so, und das ist auch in Russland der Fall. Jenseits der pompösen Paraden behaupten sich alternative Sichtweisen in der Familie, im Alltag oder in der Popkultur. Am 70. Jahrestag des sowjetischen Sieges wird es sich lohnen, die Moskauer Inszenierung zu analysieren und zu fragen, was die Geschichtspolitik des Kremls für die europäische Gegenwart bedeutet. Doch jenseits des Getöses auf dem Roten Platz gilt es, auch in schwierigen Zeiten den Opfern ein würdiges Gedenken zu sichern, auf die Vielfalt der Erinnerungen und des Erinnerns im postsowjetischen Raum hinzuweisen. Wir sollten die Geschichten aufschreiben, die nicht Teil der großen Erzählung sind, um den Kontakt zu denjenigen nicht zu verlieren, die sich vom Pathos der Herrschenden distanzieren. Demut und Interesse stehen uns besser zu Gesicht als falscher Stolz und verordnete Ignoranz – in Russland und in Europa.