von Jan C. Behrends

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1. September 2014

Der russische Einmarsch in die Ukraine hat die Ära der Ostpolitik beendet. Ihr Scheitern ist offensichtlich und dramatisch: Von der Besetzung der Krim, über den von Moskau angestifteten wilden Krieg im Donbass, bis zum Einmarsch regulärer russischer Einheiten reicht die Kette strategischer Triumphe Moskaus, die zugleich Niederlagen der Ukraine, aber auch des Westens und insbesondere Berlins sind. Denn keine andere westliche Regierung pflegt so enge Beziehungen mit Moskau. Doch ohne Erfolg: Ihre Ziele – Frieden, Sicherheit, Stabilität und Ausgleich in Europa – hat die deutsche Ostpolitik allesamt verfehlt. Sie steht vor einem Trümmerhaufen.

Die deutsche Ostpolitik ist ein Kind des Kalten Krieges. Die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt versuchte der globalen Konfrontation, die Deutschland teilte, die Schärfe zu nehmen. Bonn war bereit, Regime und Grenzen anzuerkennen, um Entspannung zu stiften. Die Verträge mit Moskau, Warschau und Ost-Berlin schufen das Fundament für bessere Beziehungen. Sie zementierten jedoch die Moskauer Hegemonie östlich der Elbe. In der Bundesrepublik wurden die Ostverträge bald als Geste der Versöhnung positiv bewertet. Mit der Ostpolitik, so schien es, verfügte Bonn über ein Instrument, das den Kalten Krieg beherrschbar machte. Und wer die détente kritisierte, wurde fortan als Scharfmacher gebrandmarkt.

Tatsächlich zeigte sich schon früh, dass die Ostpolitik nur bedingt in der Lage war, Spannungen zu entschärfen. Sie verhinderte weder den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan noch die polnische Krise zu Beginn der 1980er Jahre. Der beschworene Wandel durch Annäherung – ein Hauptargument der Architekten der Ostpolitik – blieb aus. Im Gegenteil: Die Menschenrechtslage im Ostblock verschlechterte sich, und die Repressionsapparate wurden ausgebaut. Von der Ostpolitik blieben der kurze Draht Bonns zu Moskau, das einträgliche Sowjetuniongeschäft sowie das Gefühl größerer Erwartungssicherheit für die Westdeutschen.

Auf dem Weg zur deutschen Einheit hat Bonn sicherlich von seinen guten Beziehungen zu Moskau profitiert. Doch zum Ende des Kalten Krieges hat die Bundesrepublik nicht maßgeblich beigetragen. Es war die Entscheidung des Kremls, eine Auseinandersetzung zu beenden, die er weder gewinnen noch finanzieren konnte. Dennoch nahmen die Protagonisten der Ostpolitik stets für sich in Anspruch, den Weg zum friedlichen Systemwechsel geebnet zu haben. Nach 1991 hat sich das souveräne Deutschland entschlossen, seine Beziehungen zu Russland noch weiter auszubauen. Und wieder wurde die Idee eines Wandels durch Annäherung bemüht, um eine Verflechtung zu rechtfertigen, die von den Verbündeten oft beargwöhnt wurde. Die Kontinuität deutscher Ostpolitik sollte Europa helfen, den Risikofaktor Russland zu beherrschen. Selbst als sich spätestens Ende der 1990er Jahre abzeichnete, dass der Aufbau eines Rechtsstaates in Moskau nicht weiterverfolgt wurde, hielt Berlin nicht nur an seiner Ostpolitik fest, sondern baute sie sogar noch weiter aus. Die North Stream Pipeline – gegen den Protest Polens verwirklicht – steht symbolisch für eine Außenpolitik, die kaum Rücksicht auf Warschau, Riga oder Tallinn nahm. Mit der überstürzten „Energiewende“ vergrößerte sich die Abhängigkeit von Russland nochmals – und das obwohl der Kreml mehrfach bewiesen hat, dass er Gas als politische Waffe einsetzt. Geo- und energiepolitisch hat North Stream den russischen Einmarsch in die Ukraine erst möglich gemacht – auch dies ist ein Vermächtnis der Ostpolitik.

Um an seiner Ostpolitik festzuhalten, hat Berlin in den letzten zwei Jahrzehnten die Warnsignale von Tschetschenien bis Georgien ebenso ignoriert wie den autoritären Umbau des russischen Staates. Die „Modernisierungspartnerschaft“ sollte um jeden Preis weiterverfolgt werden. Warnungen aus Polen oder dem Baltikum wurden als Unkenrufe abgetan. Durch diese Haltung gerieten Deutschland und Europa in eine Position der Schwäche, in der wir uns gegenwärtig befinden. Und wie zu Beginn der 1980er Jahre zeigt sich im Jahr 2014, dass die deutsche Ostpolitik nicht krisenfest ist. Sie beruht auf einer Prämisse, die keiner Überprüfung standhält: der Reziprozität in den bilateralen Beziehungen. Die Regierung Merkel ging davon aus, dass eine ökonomische Verflechtung Moskau zu moderater Politik verpflichten würde. Dabei wiesen sowohl die autoritäre Entwicklung im Innern als auch die Außenpolitik Moskaus im letzten Jahrzehnt darauf hin, dass eine Konfrontation mit dem Westen bevorsteht. In der Ukrainekrise zeigte sich, wie gering der Einfluss Berlins ist. Die wechselseitigen Verflechtungen haben den Kreml nicht an einer militärischen Expansion gehindert. Berlin hat jedoch selbst dann an seiner Ostpolitik festgehalten, als ihr Scheitern schon manifest war. Dabei haben die privilegierten Beziehungen zwischen Berlin und Moskau die europäische Stabilität nicht erhalten, sondern untergraben. Sie ließen den Westen gespalten und schwach erscheinen.

Selbstverständlich trägt der Kreml die Verantwortung für den Krieg in der Ukraine. Doch Berlin trifft ein gehöriges Maß an Schuld für die schwierige Lage Deutschlands und Europas: Zu lange ist das Auswärtige Amt bequemen Denkmustern gefolgt, zu viel wurde beschwichtigt, zu tief ging die Verflechtung mit einer Macht, auf die wir letztendlich keinen Einfluss haben.

Die Ostpolitik war und ist in Deutschland populär, weil sie der Öffentlichkeit die Illusion von Sicherheit, Frieden und Stabilität bot. Das Label „Friedenspolitik“ überhöhte sie moralisch. Konflikte sollten in Europa der Vergangenheit angehören. Dieses Wunschdenken galt so lange bis der Kreml nicht mehr Worte, sondern Waffen sprechen ließ, und ein Berlin, das keine Alternativen zur moskaufixierten Ostpolitik besaß, staunend zurückließ. Selbst aus einer Folge von Treffen und Telefonaten entstand kein Dialog. Moskau hatte längst andere Prioritäten gesetzt.
Jetzt gilt es, darüber nachzudenken, wie Berlin, Brüssel und der Westen die Initiative zurück erlangen können, wie sie Moskaus Optionen beschneiden, die Souveränität der Verbündeten schützen, Abhängigkeiten beenden, vor allem aber Frieden und Sicherheit in Europa wiederherstellen können. Die Ostpolitik alter Schule hat ausgedient, doch für die Fehler der Vergangenheit werden wir bezahlen. Berlins Sonderbeziehung zu Moskau war ein historischer Irrweg. Neue Ideen sind nun gefragt: Vor Deutschland und Europa liegen schwere Entscheidungen.