von Christoph Kleßmann

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1. August 2011

Er war sowohl in seinem äußeren Erscheinungsbild als auch in seiner Gelehrsamkeit eine imponierende Gestalt. Das Spektrum seiner Forschungen und seiner Publikationen ist breit und seine Kenntnisse waren stupend. Aber es gibt einige Schwerpunkte, um die seine Arbeiten zumeist kreisten und zu denen er immer wieder zurückkam. Wir kannten uns, wenn ich mich recht erinnere, seit 1976, als er im Rahmen einer internationalen Konferenz der Historischen Kommission in Berlin zur Beziehungsgeschichte der deutschen und osteuropäischen Arbeiterbewegung über die polnischen „Krawalle von Herne“ im Jahre 1899 referierte. Im Vorwort zu den später überwiegend in der IWK veröffentlichten Referaten steht ein Satz, den man auch zur allgemeinen Charakterisierung von Klaus Tenfeldes Arbeiten zitieren könnte: „Seit die Geschichte der Arbeiterbewegung sich in der Bundesrepublik Deutschland aus einem Randobjekt der wissenschaftlichen Forschung zu einem ihrer bevorzugten Schwerpunkte entwickelt hat, wird das Breitenwachstum der einschlägigen Literatur von einer auch quantitativen Erweiterung des Problembewusstseins begleitet.“

Was ich generell in besonderer Erinnerung behalten habe: Er blieb bei aller ausgeprägten Belesenheit und Gelehrsamkeit immer auch ein Kumpel, mit dem man nach Konferenzen oder auch ohne besondere Anlässe ein paar Biere trinken oder kegeln konnte. Wenn es ein Klischee ist, dass solches Verhalten besonders gut ins Ruhrgebiet passte, dann ist es ein schönes Klischee. Im Ruhrgebiet  lag der Anfang seines beruflichen Lebens, Bochum mit der Ruhruniversität und dem angegliederten Institut für soziale Bewegungen war die letzte und sicher wichtigste Station seines akademischen Lebens. Zum Revier hatte er immer eine besonders enge berufliche und emotionale Beziehung. Diese etwas sentimentale Anhänglichkeit an „den Pütt“ hat auch uns trotz räumlicher Distanz stets verbunden. Aber noch viel mehr: Er war wohl ein ziemlich einmaliges Beispiel für eine besonders enge Verbindung von Biografie und Forschungsgegenstand. Denn der Arbeitersohn aus Erkelenz im Rheinland absolvierte nach der Schule zunächst eine Lehre im Bergbau in Essen, bevor er sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg 1967 nachholte und ein Studium der Geschichte und Germanistik in Münster begann. Seine schnell nach Abschluss des Studiums fertig gestellte Dissertation erschien 1977 und kann immer noch als eines der großen Werke der deutschen Sozialgeschichtsschreibung gelten, auch wenn der Umfang für eine Dissertation (738 Druckseiten) in der Regel nicht Schule gemacht hat und auch nicht machen sollte. „Sozialgeschichte der Bergarbeiter an der Ruhr“ war der unprätentiöse Titel. Ich hatte das Buch damals von der HZ zur Rezension bekommen. Es war keine einfache Lektüre. Aber mein erster Satz von 1978 gilt heute noch uneingeschränkt: „Es gehört nicht viel prophetische Gabe dazu um festzustellen, dass die vorliegende Darstellung auf absehbare Zeit das Standardwerk zur Geschichte des Bergbaus und der Bergarbeiterschaft im Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert sein und bleiben wird.“

Bei Gerhard Ritter habilitierte er sich 1981 in München mit einer primär zeitgeschichtlichen Arbeit über Penzberg in Oberbayern, den Ort, in dem er auch wohnte: „Proletarische Provinz. Radikalismus und Widerstand 1900 bis 1945.“ Veröffentlicht wurde sie im Rahmen des von Martin Broszat initiierten, mehrbändigen und methodisch bahnbrechenden Projekts „Bayern in der NS-Zeit“. Hier wurde modellhaft eine oberbayerische Bergarbeitergemeinde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgestellt. Für diese von der Gestapo  als „rote Insel“ beargwöhnte Stadt werden anschaulich die vielfältigen Faktoren einer Verhaltensgeschichte des „Proletariats in der Provinz“ zwischen pragmatischer Selbstbehauptung und illegalem Widerstand exemplarisch vorgeführt.

Die nächsten akademischen Stationen von Tenfelde waren die Universitäten Innsbruck, Bielefeld und seit 1995 Bochum. Hier leitete er mit breiter überregionaler und internationaler Ausstrahlung das Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, das bald mit seinem veränderten Namen auch die Themenpalette erweiterte: Institut für Geschichte der sozialen Bewegungen. Die unglaubliche Arbeitskraft – sie erschien vielen als Pendant zur körperlichen Größe des ehemaligen Bergmanns – hat sich in einer imponierenden Fülle von Publikationen niedergeschlagen, aber auch in zahllosen Gutachten, sowie in der Betreuung von Examensarbeiten und Dissertationen, einer Aufgabe, die er nach meinen Beobachtungen sehr ernst nahm.

Hier ist nicht der passende Ort für eine eingehende Würdigung seines wissenschaftlichen Gesamtwerkes. Die Kollegen an Rhein und Ruhr und anderswo haben Tenfeldes Verdienste um das Ruhrgebiet bereits zu verschiedenen Anlässen eingehend gewürdigt oder werden das noch tun. Daher sei es mir erlaubt, zusätzlich auf ein „Nebengleis“ zu verweisen, auf dem Klaus Tenfelde gelegentlich auch gefahren ist: die Arbeiterbewegung und Arbeiterschaft in der DDR. Das von ihm und Peter Hübner herausgegebene Sammelwerk von 1999 wird zwar, wie sich das gehört, bescheiden und mit einer Portion Understatement als „Zwischenbilanz“ präsentiert, aber es ist ein breit konzipiertes und im wörtlichen Sinne Grund legendes Buch, das zu nahezu allen wichtigen Fragen der Arbeitergeschichte im „Arbeiterstaat“ interessante Beiträge und Zugänge bietet. Nicht weniger wichtig war die vom Potsdamer ZZF in Kooperation mit Klaus Tenfelde 2003 veranstaltete internationale Konferenz „Arbeiter im Staatssozialismus“, die erstmals komparativ das Beispiel DDR in einen breiten ostmitteleuropäischen Kontext stellte und die stark differierenden sozialen Realitäten mit den durchaus vergleichbaren ideologischen Ansprüchen konfrontierte.

Sein festes Standbein war und blieb die Sozialgeschichte mit besonderem Interesse für die Arbeiter und die Arbeiterbewegungen. Dieses Thema scheint heutzutage nach dem cultural turn fast ein toter Hund geworden zu sein. Tenfelde hat es jedoch verstanden, daran festzuhalten und zugleich die Zugänge zu erweitern. Er war zudem als Wissenschaftler und politisch engagierter Zeitgenosse den Gewerkschaften, der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Sozialdemokratie eng verbunden und hat sich in deren Diskussionen und Planungen produktiv eingebracht. Er hatte ohne Zweifel noch einiges vor, unter anderem einen Band  zur deutschen Arbeiterbewegung im Kaiserreich in der noch nicht abgeschlossenen Reihe der Ebert-Stiftung sowie eine Gesamtgeschichte des Ruhrgebiets. Dass sich Jüngere aus seinem Umfeld inspiriert fühlen, in diesen Bahnen fortzufahren, bleibt zu hoffen. Alle, die ihn näher kannten, werden ihn künftig ebenso wie seine mit Gewicht und mit rollendem  rr vorgetragenen Wortmeldungen und Beiträge vermissen.