von Hans-Lukas Kieser

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1. August 2015

In seiner 173. Sitzung am morgigen 2. Juni 2016 berät der Bundestag im Tagesordnungspunkt 5 über folgende Themen:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916 
Drucksache 18/…
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)
zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE. 
100. Jahresgedenken des Völkermords an den Armenierinnen und Armeniern 1915/16 – Deutschland muss zur Aufarbeitung und Versöhnung beitragen
Drucksachen 18/4335, 18/7909
(TOP 5, 01:05 Stunden)
Aus diesem Anlass haben wir den Beitrag von Hans-Lukas Kieser erneut auf der Startseite von Zeitgeschichte-online veröffentlicht. Die Erstveröffentlichung fand im August 2015 statt.

Anmerkungen zum Artikelbild: Die Eisenbahn erlaubte, was Westanatolien betraf, einen effizienten Transport der Armenier in die Konzentrationslager der syrischen Wüste. Franz Günther, Vizepräsident der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft, fügte das Bild seinem Bericht von Mitte Oktober 1915 an die Deutsche Bank (die die Bagdadbahn finanzierte) bei, mit dem Kommentar: "… ein Bildchen die Anatolische Bahn als Kulturträgerin in der Türkei darstellend. Es sind das unsere sogenannten Hammelwagen, in denen 880 Menschen in 10 Wagen befördert werden." Am 17. August 1915 hatte Günther geschrieben: "Man muss in die Geschichte der Menschheit weit zurückgehen, um etwas Ähnliches an bestialischer Grausamkeit zu finden wie die Ausrottung der Armenier in der heutigen Türkei". Er sprach von "Ausrottung der Armenier mit Stumpf und Stiel" und bezeichnete die östlichen Provinzen als bereits "armenierrein geworden"Bild aus H.L. Kieser und D.J. Schaller, Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002, Umschlag; Original sowie Günthers Korrespondenz im Archiv der Deutschen Bank AG.


 

Am Holocaust-Gedenktag im Januar 2015 begann der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin seine Rede vor der UN-Vollversammlung mit Ausführungen zum Mord an den Armeniern vor 100 Jahren.[1] Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck ging im April einen Schritt weiter: Er nannte die Verbrechen an den Armeniern einen Genozid und nahm Bezug auf alle osmanischen Christen Kleinasiens und Mesopotamiens, die von genozidärer Gewalt in Mitleidenschaft gezogen worden waren.[2] Er tat dies aus gutem Grund, denn Deutschland hat beim Thema „Armenier“ den Horizont seines historisch verbindlichen Gedenkens zu erweitern. Das Jahr 1915 war ein brutaler Bruch für die osmanische Welt: das irreversible Ende bisheriger Koexistenz zwischen Christen und Muslimen und zentrales Ereignis einer bis heute andauernden, modernen Gewaltgeschichte im Nahen Osten. Das Verbrechen des damaligen osmanischen Bündnispartners war indes auch ein moralisches Versagen, ja ein "Genickbruch"[3] deutscher Politik und damit der Weg in eine fatale politische Sackgasse. Lange verstand Deutschland nicht, aus dieser Sackgasse herauszufinden. Noch länger vermochte es nicht, die Situation offen zu legen und seine Mitverantwortung zu artikulieren.

1914/15 – ein irreversibler Bruch

Deutschland hatte sich im späten 19. Jahrhundert mit dem osmanischen Sultanat-Kalifat politisch verbündet. Die politischen Eliten des Deutschen Reiches – darunter der Botschafter in Istanbul Wangenheim (1912-1915) ebenso wie sein Vorgänger Biberstein (1897-1912) – sympathisierten auf kultureller Ebene mit dem Islam und der osmanischen Staatstradition. Nach der jungtürkischen Revolution von 1908 nahm Berlin hastig Abschied vom autoritären Sultan Abdulhamid und machte mit dem revolutionären jungtürkischen "Komitee Einheit und Fortschritt", das sich 1913 ganz an die Spitze des Reiches putschte, zunehmend gemeinsame Sache. Kriegsminister Enver und Innenminister Talat, führenden Männern des Komitees, gelang es im späten Juli 1914, Berlin von einem Kriegsbündnis zu überzeugen.

Die osmanische Komitee-Regierung schloss das Bündnis am 2. August 1914 und gewann dadurch neue Handlungsspielräume nach Innen und Außen – allerdings zum Preis einer überstürzten Kriegsbeteiligung, auf die Berlin über seinen Botschafter und seine einflussreiche Militärmission in Istanbul drängte. Dabei erhofften sich die Komiteemänner ihrerseits dank deutscher Unterstützung nicht nur das Reich zu restaurieren, sondern auch Gebiete auf dem Balkan und in Nordafrika wieder zu erobern und in den Kaukasus zu expandieren. Neben diesem maximalen, hatten sie auch ein Minimalprogramm, nämlich ihre Macht abzusichern und Kleinasien zu einem souveränen Staat und einem türkisch-muslimischen „Nationalheim“ (Türk Yurdu) zu machen.

Ihre Kriegspropaganda setzte ab August 1914 auf einen neuen türkischen Nationalismus (unter Offizieren und bei einer jungen Intelligentsia) sowie auf einen von Abdulhamid übernommenen, aber zugespitzten Islamismus bei der sunnitischen Mehrheit im Reich. Sie mischten Dschihadismus und völkischen Türkismus zu einer militanten Ideologie. Der oberste Geistliche, der Scheichülislam Hayri Efendi, selbst ein Komiteemitglied, rief am 14. November 1914 den „Heiligen Krieg“ aus. Dieser Dschihad war zwar nicht "Made in Germany", sondern ein altbekanntes Instrument osmanischer Politik, aber deutsche Stellen bemühten sich tatkräftig, ihn zu einer wirksamen Waffe gegen die Entente zu machen.

Mit Max von Oppenheims programmatischer Schrift Revolutionierung islamischer Feindesgebiete vom Herbst 1914 herrschte in Berlin mit Blick auf die islamische Welt bereits ein antichristlicher Geist. Er stand im Dienst von Weltmacht und Endsieg und propagierte im Einklang mit der Komiteepresse die Zerschlagung Russlands.[4] Deutschland hatte sich auf Gedeih und Verderb mit dem Krieg des Komitees verbunden, der sich nicht nur nach Außen, sondern alsbald auch nach Innen, ins Innere der osmanischen Welt, richtete.

Dieser Komiteeversion von totalem Krieg[5] leistete Deutschland Vorschub, indem es sehr früh zu verstehen gab, dass es den osmanischen Reformplan vom Februar 1914 militärischer Logik unterstellen, ja opfern würde. Daher konnte die Komiteeregierung den Reformplan schon in den ersten Kriegsmonaten annullieren, denn er war ihr, weil er internationale Kontrolle beinhaltete, von vornherein ein Dorn im Auge gewesen. Berlin ließ somit die Perspektive gleichberechtigter osmanischer Koexistenz, die der Reformplan verfolgt hatte, fallen und fügte sich dem Wunsch des Juniorpartners, über innerosmanische Angelegenheiten hinwegzusehen, obwohl sich 1913/14 deutsche Vertreter der Orientpolitik zusammen mit russischen Diplomaten, osmanisch-armenischen Vertretern und der Komiteeregierung erfolgreich für den Reformplan eingesetzt hatten. Die Reformen sollten im östlichen Kleinasien für Rechtsstaatlichkeit, die Beteiligung aller Gruppen am Staat (den regionalen Räten, der Verwaltung und den Sicherheitskräften) und die Anerkennung regionaler Sprachen, darunter Armenisch und Kurdisch, sorgen.[6]

Das Komitee akzeptierte ab August 1914 ein deutsches Oberkommando überall, außer eben in den Ostprovinzen, wo Reformen geplant gewesen waren. Der gescheiterte Kaukausus-Feldzug vom Dezember 1914 und die Gefahr einer russischen Invasion gingen daher auf das Konto von Enver Pascha, zu dessen überspanntem Selbstbild allerdings Einflüsterungen von deutscher Seite, namentlich von Feldmarschall Colmar von der Goltz beitrugen. Goltz übte großen Einfluss auf die jungen Komiteemänner und die Offiziere aus.[7]

Sowohl die Niederlagen in den ersten Kriegsmonaten im Kaukasus, im Nord-Iran und beim Suezkanal als auch der darauf folgende erste große osmanische Sieg bei den Dardanellen unter deutschem Kommando im März 1915 bilden den unmittelbaren Hintergrund für die radikal antiarmenische Politik des Komitees ab April 2015. Der unter deutschem Kommando errungene Sieg beim Eingang zu Istanbul verlieh dem Komitee den Mut, wenigstens sein Minimalziel – die eigene türkisch-muslimische Souveränität über ganz Kleinasien – mit Gewalt zu erzwingen. Im Kontext eines europaweiten Krieges und bedrohter Macht nahm das Komitee nun in Kauf, die osmanische Koexistenz und die bisherigen Bemühungen um einen modernen, demokratischeren Staatsaufbau ein für alle Mal zu zerstören.

Zentrale Akteure spätosmanischer Bemühungen um mehr Demokratie waren die Armenier, die dafür eine internationale Lobby hatten. Wegen ihrer grenzüberschreitenden Verbindungen erklärte der Innenminister des osmanischen Reiches, Talat, sie im April 1915 zu Staatsfeinden. Er bemühte dabei die Legende eines armenischen Dolchstoßes und eines allgemeinen armenischen Aufstandes in ganz Kleinasien. Damit waren die osmanischen Armenier vogelfrei für den Massenraubmord, den das Komitee zu organisieren begann und dafür jeweils willige Helfer in den Provinzen fand. Namentlich Kurden gegenüber wurden Raub und Mord an den Christen und die Entführung von Christinnen als legitime Mittel des Dschihad dargestellt.[8] – Gegenwärtig indes bilden die Kurden die einzige politische Kraft in der Türkei, die sich für die Anerkennung des Armenier-Genozids stark macht und sich in ihren Stadtverwaltungen um das Wiederaufleben christlicher Kultur bemüht.

Der Genozid an der armenischen Zivilbevölkerung

Die Aussiedlung von Teilen der Zivilbevölkerung aus dem Frontbereich, die deutsche Militärs angeregt und Wangenheim unterstützt hatten, ebenso wie die Umsiedlung nach Mesopotamien, die schließlich den Betroffenen – fast allen Armeniern Kleinasiens und der europäischen Türkei – angekündigt wurde, erwies sich als Vorwand dafür, sie insgesamt zu berauben und in den Tod zu schicken. Zehntausende von Mädchen, Knaben und Frauen wurden dabei mehrfach vergewaltigt. Diejenigen aus dem Osten, wo armenische Männer noch vor dem Aufbruch aus der Heimatregion allesamt ermordet wurden, hatten zu Fuß zu gehen; diejenigen aus dem westlichen Kleinasien und aus Thrakien, darunter auch Männer, wurden teilweise mit Wagen der deutschen Bagdadbahn transportiert.

Das Ganze war keineswegs ein deutsches Vorhaben, sondern eines der Komiteespitze. Innenminister Talat ging (vermutlich im Jahr 1916) davon aus, 1,15 Millionen von 1,5 Millionen osmanischen Armeniern "verschickt" zu haben.[9] Wenn man von einer Vorkriegsbevölkerung von gut zwei Millionen Armeniern (gemäß den Zahlen des armenischen Patriarchats) und nach Talat von 350.000 noch in den Provinzen verbliebenen Armeniern ausgeht, ist der Anteil der Betroffenen entsprechend höher.[10]

Für ihr mörderisches Vorgehen bedienten sich die Verantwortlichen einer Verwaltungssprache, die den Tod nicht benannte. Das trifft auf die chiffrierten Telegramme des türkischen Innenministeriums ebenso zu wie auf das Protokoll der Wannseekonferenz der Nationalsozialisten. In beiden Protokollen findet sich kein direkter Vernichtungsbefehl, aber den zentralen Begriff der "Umsiedlung" begleitend, finden sich eine Reihe von Maßnahmen, die in Massaker, Todesmärsche, Massentötungen oder das qualvolle Massensterben in der syrischen Wüste mündeten und damit belegen, dass der Tod absichtlich herbeigeführt wurde, wie aus einer erdrückenden Fülle von Indizien hervorgeht.

Mit Blick auf die Ermordung armenischer und assyrischer Christen in Diyarbekir 1915 etwa hielt Mithat Şükrü (Bleda), der vormalige Generalsekretär des jungtürkischen Komitees noch nach dem Zweiten Weltkrieg fest, dass die Minderheiten vernichtet werden mussten, da sie als Geisteskranke der türkischen Nation geschadet hätten.[11] Die Dokumente des osmanischen Staatsarchivs belegen, wie die Regierung die Mörder in Diyarbekir finanzierte. Analog trifft das ebenfalls für Ankara sowie den Massenmord an 100.000 überlebenden Armeniern im Spätsommer 1916 bei Der ez-Zor zu.[12] Noch bevor er die Armenier in die syrische Wüste schickte, hatte Innenminister Talat eine Deportation von Volksgruppen dorthin als Weg in den Tod bezeichnet.[13] Assyrische Christen wurden nicht nach Syrien deportiert. In den Provinzen Diyarbekir, Bitlis und Van fielen gegen 250.000 von ihnen Massenmorden zum Opfer, wofür regionale Vertreter der Komiteeregierung verantwortlich waren. Explizite Befehle aus Istanbul sind nicht bekannt.

Der Umfang der Deportationen, die Rationalität ihrer Planung und die konzentrierte Brutalität lässt die Verbrechen von 1915/16 aus der jahrtausendealten aktenkundigen Geschichte des Nahen Ostens herausragen. Lediglich der vernichtende Feldzug unter dem römischen General Titus 70 n. Chr., bei dem gemäß dem zeitgenössischen Historiker Josephus[14] über eine Million Juden tötet wurden, könne als Analogie für den Mord an den Armeniern dienen, schrieb Aaron Aaronsohn, Zionist und Mitglied des jüdischen Untergrunds in Palästina im November 1915. Auf seinen Reisen im Innern des Osmanischen Reiches war er Zeuge des Verkaufs von Armenierinnen auf Sklavenmärkten geworden. Aaronson und seine Mitstreiter teilten keineswegs die Nähe, welche in jenen Jahren Zionisten und jüdische Führer zu Talat, dem starken Mann des Komitees und Architekten des Genozids hatten. Sie beriefen sich auf Moses, Jeremiah und Jesus, deren Geist Solidarität mit den Armeniern gebiete.[15]

Die Armenier kennen verschiedene Begriffe, um die 1915/16 an ihnen begangenen Verbrechen zu benennen. Einer der wichtigsten ist Metz Yeghern, "Grosses Verbrechen". International bekannter ist der Begriff "Genozid", auf Deutsch "Völkermord". Er ist durch die UN-Konvention von 1948 juristisch definiert, doch da Strafverfolgung rückwirkend schwerlich zulässig ist, steht in unserem Fall sein geschichtswissenschaftlicher Gebrauch im Vordergrund. Auch die Verbrechen gegen die Juden im Zweiten Weltkrieg wurden nicht als Völkermord strafverfolgt. Seit seiner Studie Axis Rule in Occupied Europe[16], die 1944 erschien, hat Raphael Lemkin den Begriff historisch auf 1915 angewandt, und andere folgten ihm schon in den 1940er Jahren.[17]

Der Begriff "Genozid“ ist historisch insofern einschlägig, als er die armenische und jüdische Erfahrung im Ersten beziehungsweise Zweiten Weltkrieg prägnant zusammenfasst. Der Völkermord an den osmanischen Armeniern steht beispielhaft für die Idee, durch Zerstörung einer "rassisch" oder ethno-religiös definierbaren Gruppe den Aufbau der eigenen Nation zu betreiben. Im Unterschied zum Holocaust ging er für die Täter im Vertrag von Lausanne 1923 straffrei und somit erfolgreich aus. Nach 1923 begannen radikale Nationalisten auch in Europa und Deutschland Massenraubmord an einem Volk als effizientes Mittel des nationalen Aufbaus, das selbst durch höchste Diplomatie nicht geächtet wurde, zu begreifen. Für viele national gesinnte Deutsche galt das Verbrechen an den Armeniern in der Zwischenkriegszeit als abstoßend, aber dennoch als Bestandteil einer erfolgreichen totalen nationalen Revolution.[18] Dafür gab der ehemalige Kriegspartner umso mehr ein Vorbild ab, als er in Lausanne die Friedensregelung von Paris zu seinen Gunsten hatte revidieren können.

Deutsche Mitverantwortung am Völkermord 1915/1916

Die politische Führung des deutschen Kaiserreiches suchte krampfhaft, den Mord an den Armeniern im Jahr 1915 zu ignorieren, und verweigerte den Opfern jeglichen effizienten Beistand.[19] Die politische Elite, die von Presse und den Vertretern der Wissenschaft unterstützt wurde, übte sich 1915 bis 1918 parteiübergreifend in Unwahrheit ein. Sie beehrte die Komiteemänner mit Orden, Lobhudeleien in der Presse und Einladungen nach Berlin. Carl F. Lehmann-Haupt, ein Freund der Armenier und in den Kriegsjahren Geschichtsprofessor in Istanbul, bekannte später, dass selbst er sich durch Propaganda und Einschüchterung hatte gängeln und zu Fehlaussagen über einen vermeintlichen armenischen Aufstand verleiten lassen.[20]

Im September 1918 weilte der türkische Innenminister und mittlerweilen Grosswesir Talat in Berlin. Der Reichstagsabgeordnete der Zentrumspartei Matthias Erzberger ließ ihn wissen, dass deutsche Demokraten in Zukunft die Komiteeregierung wegen ihres schändlichen Verbrechens nicht weiter decken würden. Dies gab Anlass zu einer Aussprache mit einem seiner Berater, wobei Talat die "volle Verantwortung für die Gewalt" gegen die Armenier übernahm, aber nicht bereute, da dies im Interesse der Türken geschehen sei. In den Aufzeichnungen des Beraters lesen wir auch, welche Komiteemitglieder die antiarmenische Politik "dermassen gewaltsam gewollt" hatten.[21] Erzberger distanzierte sich spät, aber deutlich von den Verbrechen des Komitees. Dies bedeutete indes nicht, dass er und danach die Regierung der Weimarer Republik zu einer Position fanden, die die deutsche Mitverantwortung thematisierte.[22]

Die deutsche Mitverantwortung beginnt bereits damit, dass Deutschland die osmanische Reformperspektive de facto schon zu Beginn des Weltkriegs fallen ließ, obwohl die deutsche Diplomatie sich 1913/14 dafür eingesetzt und den Armeniern und weiteren nichtsunnitischen Gruppen damit große Hoffnung auf ein friedliches Leben im osmanischen Reich verliehen hatte. Dass deutsche Akteure im Herbst 1914 maßgeblich dazu beitrugen, Muslimen den Weltkrieg als Dschihad gegen eine anti-islamische Entente zu propagieren, machte die Situation für die osmanischen Christen noch gefährlicher. Zugleich drängten das deutsche Militär und die deutsche Regierung auf rasche osmanische Militäraktionen. Das führte zu osmanischen Niederlagen und trug zur Radikalisierung des Komitees im Frühjahr 1915 bei, auch wenn die osmanischen Feldzüge, wie von Deutschland erwünscht, zugleich bedeutende Kräfte der Entente banden.

Zunehmend alarmierende Nachrichten von Verfolgungen und persönliche Vorsprachen von armenischen Vertretern bei Wangenheim forderten diesen und seine Vorgesetzten in Berlin auf, als Seniorpartner der osmanischen Türkei für den Schutz christlicher Minderheiten zu sorgen. Doch reagierte Wangenheim – der sehr wohl um die humanitäre Pflicht (das "nobile officium", wie er es nannte) wusste – schon Mitte April mit Defätismus, obwohl er in den Monaten zuvor Protektion in Aussicht gestellt hatte.[23] Die Verteidigung der Hauptstadt hing seit März 1915 direkt vom deutschen Kommando und deutschen Militärexperten ab. Dennoch erwog Deutschland nicht, dies gegenüber dem Komitee in die Waagschale zu werfen, um die Verbrechen an den Armeniern zu verhindern.

Ähnlich willfährig und aus enger militärischer Logik heraus, bejahte Wangenheim gegenüber der Komiteespitze vereinzelt Umsiedlungen, ohne für eine tatsächliche Begrenzung Sorge zu tragen. [24] Die Ausrottung des armenischen Volkes, als die sich die vermeintliche "Umsiedlung“ im Juni 1915 offenbarte, hielten einige deutsche Offiziere für "hart, aber nützlich",[25] während die Mehrheit der Deutschen in der osmanischen Türkei betreten reagierte. Wangenheim selbst realisierte im Juli, dass er sich von den Komiteemännern hatte austricksen lassen und sie ungewollt darin unterstützt hatte, "die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten".[26]

Aus den Aufzeichnungen aus seinem Umfeld in Istanbul[27] wird deutlich, dass Wangenheim darüber beinahe den Verstand verlor, nachdem ihm die Anspannung des Krieges bereits stark zugesetzt hatte. Wangenheim war auf eine friedliche Orientpolitik eingestellt gewesen, was sich schlagartig geändert hatte, als ihn Kaiser Wilhelm im Juli 1914 instruieren ließ, seine Reserve gegenüber den bündniswilligen Jungtürken aufzugeben. Fortan identifizierte er sich völlig mit seiner neuen Rolle als Kriegsdiplomat, bevor er im Sommer 1915 mental und psychisch kollabierte. Er starb im Oktober 1915 an zwei Gehirnschlägen.

Die deutsche Führung verstrickte sich tief in Verharmlosung und Leugnung, um die Verbrechen des Bündnispartners und deren Duldung zu rechtfertigen. Sie unterstützte das Komitee in der entsprechenden Propaganda, die ab August 1915 intensiv einsetzte.[28] Wangenheim hatte bereits die osmanische Antwort auf eine Note der Entente entworfen, die den Komiteemännern am 24. Mai 1915 Strafverfolgung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit androhte.[29] Dies belegt, wie sehr er sich mit dem jungtürkischen Komitee identifizierte, dessen Beteuerungen über armenischen Verrat an der Ostfront und die Notwendigkeit begrenzter Umsiedlungen er damals Glauben schenkte.

Das politische Deutschland vermochte noch Jahrzehnte nach den Verbrechen nicht, sich vollständig aus dem Lügengebäude der Jahre 1915/16 zu befreien, den Genozid zu benennen und Mitverantwortung zu bekennen. Noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts knüpften Politiker und Diplomaten in der Beziehung zur Türkei ungebrochen an die Waffenbruderschaft von 1914 bis 1918 an und wiesen den Begriff "Völkermord" weit von sich.[30] Viele andere in Deutschland, begonnen mit Johannes Lepsius im Jahr 1915, taten das nicht. Aber sogar dieser mutige Publizist und scharfsichtige Historiker des Völkermords war noch nicht bereit gewesen, öffentlich die Mitverantwortung des von ihm geliebten Kaiserreichs für den Genozid von 1915 einzugestehen.[31] Umso wichtiger sind heute das Eingeständnis und die einschlägige Benennung des Geschehens, damit die bereits von Lepsius beanspruchte "versöhnende und heilende Macht der Wahrheit" zum Tragen kommt.

 
 

[1] President Rivlin addresses UN General Assembly: International Holocaust Remembrance Day, 28.1.2015. Website: Israel Ministry of Foreign Affairs.
[2] Rede von Bundespräsident Joachim Gauck, gehalten nach dem Gedenkgottesdienst am 23. April 2015 im Berliner Dom, in: FAZ vom 23.04.2015.
[3] Dr. Paul Rohrbach, Mitarbeiter im Auswärtigen Amt und Mitglied der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, schrieb am 21. September 1915 an Dr. Eugen Jäckh: "Die Nachrichten hier über die Ausmordung Armeniens sind fürchterlich. Lepsius hat eine Stunde mit Enver gesprochen, der auf Deine Veranlassung ihn empfangen hat. Enver hat Lepsius kalt bestätigt, sie wollten jetzt ein Ende mit den Armeniern machen! Das bricht dem deutsch-türkischen Bündnis moralisch den Hals." Ernst Jäckh Papers, Yale University, microfilm sh. 1366.
[4] Gottfried Hagen, “German Heralds of Holy War: Orientalists and Applied Oriental Studies,” in: Comparative Studies of South Asia, Africa, and the Middle East 24, 2 (2004), S. 149–50; Wolfgang G. Schwanitz, "Die Berliner Djihadisierung des Islam. Wie Max von Oppenheim 
die islamische Revolution schürte", in: KAS-AI 10, 2004, S. 17–37; ders., Djihad "Made in Germany": Der Streit um den Heiligen Krieg 1914 –1915, in: Sozial.Geschichte 18 (2003), S. 7-34; H. Kieser, "World war and world revolution. Alexander Helphand-Parvus in Germany and Turkey", in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, 12-2, 2011, S. 404-405.
[5] Vgl. H. Kieser, “The Ottoman road to total war (1913–15)”, in: ders., Kerem Öktem, Maurus Reinkowski (Hg.), World War I and the End of the Ottoman World: From the Balkan Wars to the Armenian Genocide, London: I.B. Tauris, 2015 (im Druck).
[6] Cf. H. Kieser, Mehmet Polatel, Thomas Schmutz, “Reform or cataclysm? The agreement of 8 February 1914 regarding the Ottoman eastern provinces”, erscheint 2015 im Journal of Genocide Research.
[7] Carl A. Krethlow, Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz Pascha. Eine Biographie, Paderborn: Schöningh, 2012, 447.
[8] Adnan Celik und Namık K. Dinç, Yüz Yıllık Ah! Toplumsal Hafızanın İzinde 1915 Diyarbekir, Istanbul: İsmail Beşikçi Vakfı, Istanbul, 2015; Ayhan Aktar und Abdülhamit Kırmızı, “Diyarbekir 1915,” in: C. Aktar (Hg.), Diyarbakır Tebliğleri, Hrant Dink Vakfı, 2013, S. 306-310.
[9] Murat Bardakçı (Hg.), Talât Pasa'ın evrâk-ı metrûkesi (Istanbul: Everest, 2008), S. 109.
[10] Das osmanisch-armenische Patriarchat in Istanbul stand einem weitverzweigten armenischen Kirchenwesen mit Pastoren im ganzen Reich vor, über das es noch vor dem Weltkrieg eine umfassende Zählung durchführen ließ. Auf diese stützt sich Raymond Kévorkian, The Armenian genocide: a complete history, London: I.B. Tauris, 2012.
[11] Mithat Şükrü Bleda, İmparatorluğun Çöküşü, Istanbul: Remzi Kitabevi, 1979, S. 61–62.
[12] Hilmar Kaiser, The Extermination of Armenians in the Diyarbekir Region, Istanbul: Bilgi University Press, 2014, S. 166-167.
[13] Meclis-i Mebusan Zabıt Ceridesi, Bd. 1, 06.07.1914, S. 611.
[14] Flavius Josephus, ἹστορίαἸουδαϊκοῦπολέμουπρὸςῬωμαίους [Der jüdische Krieg], 6. Buch. Online bei Wikisource.
[15] Aaron Aronson, Memorandum presented to the War Office London, 16.11.1915, und Avshalom Feinberg, Report to Lieutenant Leonard Woolley, 22.11.1915, in: Yair Auron, The banality of indifference. Zionism and the Armenian genocide, New Brunswick: Transaction, 2000, S. 166-167, 375-387.
[16] Lemkin, Raphaël, Axis rule in occupied Europe: laws of occupation, analysis of government, proposals for redress, Washington: Carnegie Endowment for International Peace, 1944.
[17] Vgl. Dominik J. Schaller, "Josef Guttmann, ein Pionier der Völkermordforschung", in: Hans-Lukas Kieser/ Ders. (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich: Chronos, 2013, S. 493-500.
[18] Vgl. Stefan Ihrig, Atatürk in the Nazi imagination, Cambridge: Harvard Univ. Press, 2014.
[19] Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Wolfgang Gust (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern 1915/16: Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe: Zu Klampen, 2005, S. 87-91.
[20] H. Kieser, "Armeniermord, Shoah und das Ehepaar Lehmann-Haupt. Eine Kontextualisierung", in: Sebstian Fink et al. (Hg.), Carl Friedrich Lehmann-Haupt. Ein Forscherleben zwischen Orient und Okzident, Wiesbaden: Harrassowitz, 2015, S. 99.
[21] Muhittin Birgen, İttihat ver Terakki'de on sene: İttihat ve Terakki neydi?, Istanbul: Kitap Yay., 2006), S: 257-258, 449.
[22] H. Kieser, "Matthias Erzberger und die osmanischen Armenier im Ersten Weltkrieg”, in: Christopher Dowe (Hg.), Matthias Erzberger. Ein Demokrat in Zeiten des Hasses, Karlsruhe: G. Braun, 2013, S. 103-119.
[23] Der Botschafter in Konstantinopel an den Reichskanzler, 15.4.1915, PA-AA/R14085. Dieses und die unten genannten Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes finden sich auch online auf www.armenocide.net.
[24] Telegramm des Botschafters in Konstantinopel an das Auswärtige Amt, 31.5.1915, PA-AA/R14086.
[25] So der Marineattaché Hans Humann, s. Jürgen Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Berlin: Christoph Links, 2015, S. 197-202.
[26] Wangenheim an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg), 7.7.1915, PA-AA/R14086.
[27] Namentlich in den Tagebüchern des US-amerikanischen Botschafters: Henry Morgenthau, United States diplomacy on the Bosphorus: the diaries of Ambassador Morgenthau, 1913-1916, compiled with an introduction by Ara Sarafian, Princeton, N.J.: Gomidas Institute, 2004, S. 252-365.
[28] Der Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amts (Zimmermann) an den Botschafter in Konstantinopel, 4.8.1915, PA-AA/R14086; 14105.
[29] Der Botschafter in Konstantinopel an den Reichskanzler, Bericht mit zwei Anlagen, 5.6.1915, PA-AA/R14086.
[30] Vgl. Annette Schaefgen, Schwieriges Erinnern: Der Völkermord an den Armeniern, Berlin: Metropol, 2006, S. 66.
[31] “Johannes Lepsius: Theologian, humanitarian activist and historian of Völkermord. An approach to a German biography (1858–1926)”, in: Anna Briskina-Müller et al. (Hg.), Logos im Dialogos: In der Suche nach Orthodoxie. Gedenkschrift für Hermann Goltz (1946–2010), Berlin: Lit, 2011, S. 224–229.