von Martina Winkler

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1. September 2015

„Man kann nicht gut hineinblicken“ – mit diesem Satz beginnt das neue Buch der tschechischen Erfolgsautorin Kateřina Tučková. Unmittelbar gemeint ist das Elternhaus der Protagonistin Dora, jenes Haus, in dem sie einen entsetzlichen Fund machen wird. Übertragen aber kann der Satz als Motto für das gesamte Buch bzw. für Tučkovás Umgang mit der Vergangenheit verstanden werden. Žítkovské bohyně, der Roman, der am 21. September unter dem Titel Das Vermächtnis der Göttinnen in deutscher Übersetzung erscheinen wird, ist – wie bereits sein Vorgänger Die Vertreibung der Gerta Schnirch – eine bemerkenswerte Version des Genres ‚Historischer Roman‘. Bei Tučková kann man nicht „gut hineinblicken“ in die Vergangenheit, und das, obwohl es hier um hellsichtige Frauen geht, obwohl ihre Heldin Dora ausgiebige ethnografische Archivstudien betreibt und obwohl die Autorin keineswegs zimperlich ist, wenn es um die Schilderung drastischer, oft tragischer und gewalttätiger Geschichten geht.

Nachdem Tučková 2009 mit der Vertreibung der Gerta Schnirch einen Überraschungserfolg landete – nach eigenen Angaben hatte sie nicht erwartet, dass ein Buch über die Vertreibung der Deutschen aus Brünn vom tschechischen Publikum so positiv aufgenommen würde – , stehen auch in ihrem zweiten Roman Frauen im Zentrum des Geschehens. Es geht um die Tradition der so genannten „bohyně“ (Göttinnen) in einer bergigen Region an der mährisch-slowakischen Grenze. Seit dem Mittelalter sind hier Frauen bekannt, zu denen die Menschen gingen, um sich mit körperlichen Beschwerden und psychischen Problemen helfen zu lassen: mithilfe von Kräutern, Beschwörungen und Zukunftsvisionen, aber auch mit ganz handfesten Methoden, die wir heute unter „Chiropraktik“ fassen würden. Die Kenntnisse der Göttinnen wurden an Töchter und Enkelinnen weitergegeben. Tučkovás Buch konzentriert sich auf Dora Idesová, die Tochter und Nichte von Göttinnen, die im 21. Jahrhundert versucht, die Geschichte dieser Tradition aufzuarbeiten und vor allem die Traumata und Geheimnisse ihrer eigenen Familie zu verstehen. Die Autorin legt dem Leser dabei keine leichte Kost vor. Sie arbeitet mit zahlreichen Rückblenden und deckt auf diese Weise verschiedene historische Phasen ab, von der frühen Neuzeit über die Protektoratszeit bis hin zum Kommunismus und der Gegenwart. Aus literarischer Sicht oft kritisiert wurde das Nebeneinander von eher magisch anmutenden Situationen in der Bergregion Žítková auf der einen Seite und die sterilen, „allzu akademischen“ Schilderungen der Archivarbeit Doras auf der anderen.[1] Die Protagonistin bietet keine gute Identifikationsfigur, zu spröde und verschlossen ist sie. Insofern ist es bemerkenswert, dass das Buch dennoch zu den erfolgreichsten tschechischen, belletristischen Werken der letzten Jahre gehört, inzwischen bereits die zweite Auflage und zwölf Übersetzungen erlebt und einen Reiseboom nach Žítková ausgelöst hat. Offenbar weiß das Publikum die Komplexität der Prosa Tučkovás zu schätzen – eine Komplexität, in welcher der Plot nicht immer klar heraussticht, die in sich aber auf herausfordernde Weise geschlossen und konsequent ist. Es gibt in diesem Buch keine losen Enden, sondern zahlreiche sich auf faszinierende Art schließende Kreise.

So ist die Technik der Rückblenden und zeitlichen Sprünge ein ausgesprochen konsequentes narratives Mittel für eine Geschichte, in der es um Frauen geht, welche die Zukunft voraussagen oder – wie Dora – Ereignisse der Vergangenheit vergegenwärtigen können. Zeit gibt hier keine klare Struktur vor, sondern ist ausgesprochen flexibel: Wir sehen Sprünge (im Erzählstrang), wir sehen Linearität (in der Weitergabe der Kenntnisse und der Etablierung von Traditionen), wir sehen zyklische Formen (die Rückkehr von längst vergangen Geglaubtem) und auch das, was man mit Klaus Roth als „gefrorene Zeit“[2] oder als das „Nebeneinander“ von Zeitschichten betrachten kann. Diese Vielfalt ist Programm, und die Autorin verweigert sich konsequent einer Bewertung der verschiedenen Temporalitätskonzepte oder gar einer Entscheidung zwischen ihnen. So beschreibt die Handlung des Romans zunächst einen grundlegenden und irreversiblen Wandel – nämlich das Ende der Tradition der Göttinnen. Das Konzept eines Fortschritts wird dennoch infrage gestellt, so in der ausführlichen und schmerzhaften Schilderung des Schicksals einer Göttin im 17. Jahrhundert: Kateřina Shánělka wird eingekerkert, gefoltert und paradoxen „reinigenden“ Befragungen unterworfen. Das Schicksal der Terézie Surmenová im 20. Jahrhundert wird in deutlicher Parallelität dazu beschrieben: Was nun der Staat tut (und nicht mehr die Kirche), im Namen des Sozialismus (und nicht mehr des Christentums), mithilfe der Medizin und Psychiatrie (und nicht mehr der Streckbank), ist im Grunde das Gleiche. Tučková schließt hier überzeugend an eine Tradition der Kommunismuskritik an, die Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit als Parallele und Anklageform nutzte[3], und problematisiert darüber hinaus die Vorstellung von einer „besseren“, „zivilisierteren“ Neuzeit.

Dora wiederum kämpft mit der Koexistenz verschiedener Welten, und ihre ständigen Selbstbeschwörungen („Was war, ist vorbei“) helfen ihr dabei nur wenig. Ihr Leben und ihre Arbeit sind bestimmt von einem ständigen Nebeneinander des Alten und des Neuen: sterile Archive, die traditionelle Welt ihrer Kindheit, bürokratische Formalitäten und magisch erklärte Verhaltensregeln, der Wunsch, ihre Liebesbeziehung zu einer Frau in einem „neuen“ Leben verwirklichen zu können und der oft bedrückende soziale Zusammenhalt des Dorfes. Es muss Tučkovás Konzept sehr entgegengekommen sein, dass das Archiv für Akten der Staatssicherheit relativ schwer erreichbar außerhalb von Brünn liegt – in ihren Worten „tief inmitten des Waldes“. Hier wird Dora die entscheidenden Informationen finden, um ihre Studie – und ihre Lebensgeschichte – abschließen zu können.

Bemerkenswert ist vor allem, wie wenig Tučková sich auf nostalgische Momente einlässt. Weder erzählt sie eine Fortschrittsgeschichte, noch konstruiert sie eine romantische Darstellung der ländlichen, archaischen, weiblichen Vergangenheit. Die Dörfer und Hütten in der Gegend um Žítková mögen schön gelegen sein, und Tučková beschreibt die Göttinnen voller Respekt; doch die Armut hat nichts Malerisches, der Alkoholismus grassiert, häusliche Gewalt und Pädophilie sind an der Tagesordnung.

Worum es letztlich wohl geht in diesem Roman, ist Wissen: der Wunsch nach Wissen, der Nutzen, den Wissen bringen kann, sowie die Gefahren, die von ihm ausgehen. Dora versteht sich als Wissenschaftlerin, sie widmet ihr ganzes Leben der Suche nach Informationen über die Göttinnen. Diese definieren sich ebenfalls über ihr Wissen, das sie von anderen Menschen unterscheidet, ihnen Macht verleiht, sie aber auch angreifbar macht und oft in Gefahr bringt. Die Möglichkeit historischen Wissens wird dabei von Tučková, die viel Zeit in Archiven und mit der Lektüre von Forschungsliteratur verbracht hat und nun pedantisch (fiktive) Archivdokumente sowie die Zeitschrift für historische Forschung zitiert, zwar nicht grundsätzlich angezweifelt, aber doch auf sehr anregende Weise illustriert und problematisiert. Während der Protektoratszeit wurde die Tradition der Göttinnen mit dem Ziel erforscht, germanische Wurzeln – und entsprechend deutsche Gebietsansprüche – in Südostmähren definieren zu können. In der sozialistischen Zeit dagegen wurden die Göttinnen als fortschritts- und bildungsfeindliche Personen gebrandmarkt, ihr Wissen galt als Widerspruch zum historischen Materialismus und als die neue Gesellschaft gefährdender Betrug. Dora selbst kämpft mit der Verschlossenheit von Zeitzeugen ebenso wie mit Vorschriften der Archivbehörden. Schließlich bricht eine Göttin ihr Schweigen, und auch die Zugangsvoraussetzungen zu den für Dora notwendigen Archivunterlagen ändern sich und ermöglichen ihr neue Perspektiven – hier wird ganz nebenbei die tschechische Archivgesetzgebung thematisiert, die seit 2005 sehr offen die Arbeit mit persönlichen Akten der Staatssicherheit ermöglicht. Dass diese neuen Wissensquellen für Dora kein Happy End ermöglichen, erweist sich im dramatischen Ausgang der Geschichte.

Tučková schreibt eine faszinierende und spannende Geschichte und eröffnet dabei zahlreiche Fragen zu aktuellen und vergangenen Vorstellungen von Rückständigkeit und Fortschritt, zur Kategorisierung von Menschen und Gesellschaften und zu den Möglichkeiten und dem Sinn historischen Wissens. Endgültig oder auch nur entschieden beantwortet wird keine dieser Fragen – Tučková nimmt das Recht der Belletristik auf Uneindeutigkeit sehr gekonnt für sich in Anspruch.

 

Kateřina Tučková: Das Vermächtnis der Göttinnen.  Eine merkwürdige Geschichte aus den Weißen Karpaten. Roman. DVA Belletristik, München 2015. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová <http://www.randomhouse.de/Autor/Eva_Profousova/p175320.rhd>.
ISBN: 978-3-421-04630-7

Original: Žítkovské bohyně, Praha: Host 2012

 


[1] RECENZE: Žítkovské bohyně jsou výborné, ale místy příliš akademické. iDnes.cz: http://kultura.zpravy.idnes.cz/katerina-tuckova-zitkovske-bohyne-dtq-/literatura.aspx?c=A120323_175626_literatura_jaz, 25.3.2012
[2] Klaus Roth: Zeit, Geschichtlichkeit und Volkskultur im postsozialistischen Südosteuropa. In: Zeitschrift für Balkanologie 31 (1995) 31-45.
[3] Siehe z.B. Kladivo na čarodejnice, Tschechoslowakei, 1969, Regie: Otakar Vávra.