von Jan C. Behrends

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1. September 2015

*Das Zitat: Niemand hat euch eingeladen ist eine Aussage des tschechischen Staatspräsidenten Miloš Zeman nach Tumulten in einem Heim für Asylbewerber im August 2015.

Eine neue Ost-West-Teilung beschäftigt die europäische Öffentlichkeit. Während sich im Westen des Kontinents – bei allen Problemen und Defiziten –  zwischen Gesellschaft und Regierungen ein Konsens entwickelt, dass es politisch und moralisch das Gebot der Stunde sei, Kriegsflüchtlingen Obdach zu geben, sieht die Lage im Osten Europas anders aus. Dort hat sich in den letzten Monaten ein entgegengesetztes Übereinkommen zwischen Bevölkerung und politischer Elite etabliert: Es besteht – von einigen Ausnahmen am liberalen Rand abgesehen –  einmütig die Ansicht, dass Zuwanderung eine Bedrohung darstellt und verhindert werden muss. Zahlreiche Umfragen belegen ebenfalls eine breite Ablehnung der Einwanderer. Die partielle Öffnung der Grenzen, die in Deutschland als Sieg der Moral über die Staatsräson gefeiert wurde, betrachteten osteuropäische Kommentatoren als erratische Politik und Tugendseligkeit mit ungewissen Konsequenzen. Unterschiedlicher konnten die Einschätzungen kaum sein.

Migration bedeutet für jede Gesellschaft Chance und Zumutung zugleich. Immigration stieß auch in klassischen Einwanderungsländern regelmäßig auf Widerstand. Und das deutsche Sommermärchen vom September 2015 resultierte nicht nur aus dem Mitgefühl gegenüber den Ankommenden, sondern auch aus der Sorge um das Image des eigenen Landes. München war auch eine Reaktion auf Heidenau und Pegida. 
Dennoch: Es ist bemerkenswert, wie groß und einheitlich der Widerstand gegen Einwanderung in den post-kommunistischen Staaten Europas  ist. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären?

Durch den Holocaust und die Vertreibung der Deutschen entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa erstmals weitgehend homogene Nationalstaaten. Polen beispielsweise, das stets ein Vielvölkerstaat gewesen ist, beheimatete nun fast ausschließlich ethnische Polen. So entstanden hinter dem Eisernen Vorhang nach der Ausschaltung der alten Eliten und der nationalen Minderheiten geschlossene Gemeinschaften. Neben die gewaltsame ethnische und soziale Homogenisierung trat nach 1945 die nationale Propaganda der kommunistischen Parteistaaten. Durch den Kult um Stalin und die Sowjetunion wurde oft übersehen, dass die kommunistischen Parteien stets nationale Rhetorik bemühten, um ihre Macht zu legitimieren. Dabei scheuten sie auch vor Anleihen aus dem völkischen Denken der Zwischenkriegszeit nicht zurück. Nach 1956 gewann der Nationalismus im Zuge der Entstalinisierung weiter an Fahrt.

Toleranz und Offenheit waren keine Merkmale kommunistischer Herrschaft. Durch die Konstruktion des Anderen – im Kalten Krieg die USA, die Deutschen oder auch die Zionisten – wurde die eigene Gemeinschaft stets überhöht und in scharfer Abgrenzung zum Fremden definiert. Der Internationalismus im sowjetischen Lager blieb hingegen – auch aufgrund der Reisebeschränkungen – eine Floskel, die kaum mit Erfahrungen gefüllt wurde. So verfestigten sich in den Jahrzehnten zwischen 1945 und 1989 ethnisch definierte Nationen. Kommunismus war eben mehr als nur Schwerindustrie und Geheimpolizei: Es handelte sich um erfolgreiches nation building in Europa. Allerdings wackelte das Deutungsmonopol der Parteistaaten nach dem Tod Stalins.  Neben der kommunistischen Nation existierte spätestens seit den 1970er Jahren auch der Gegenentwurf der Dissidenten. Doch auch die Opposition brauchte die Nation als Fundament zur Selbstbestimmung gegen die Moskauer Hegemonie. Nur eine Minderheit der Opposition identifizierte sich mit der transnationalen Idee Europa.

Das Erbe kommunistischer Herrschaft kann freilich nur ein Baustein zur Erklärung des xenophoben Mainstreams in Osteuropa sein. Hinzu kommen sicherlich andere Faktoren, die schwer zu gewichten sind. Dazu zählen beispielsweise die schwach ausgeprägten Zivilgesellschaften, weit verbreitete Ängste vor sozialem Abstieg, die, sieht man von Polen ab, weitgehende Säkularisierung, die eine pauschale Ablehnung des Islam vermutlich fördert, sowie populistische, beziehungsweise im ungarischen Falle neo-autoritäre, politische Eliten. Dennoch bleiben das weitgehende Fehlen von Empathie und die Aggression gegen Einwanderer, die – mit der Ausnahme Ungarns – noch gar nicht in signifikanten Zahlen die Länder erreicht hatten, ein bemerkenswertes Phänomen. Und im ungarischen Fall zeigte sich ein hohes Maß an Skrupellosigkeit in der Instrumentalisierung der Flüchtlinge für innenpolitische Zwecke. Die vergangenen Monate verdeutlichen zudem, wie gering der Einfluss einer vermeintlichen „kollektiven Erinnerung“ auf die Politik ist. So spielt es offenkundig keine Rolle, dass Millionen Polen über Migrationserfahrungen verfügen (vor und gerade auch nach 1989 und überwiegend aus wirtschaftlichen Gründen) oder dass nach 1956 Tausende Ungarn und nach 1968 Tausende Tschechoslowaken vor der sowjetischen Repression in den Westen fliehen mussten und dort aufgenommen wurden. Diese historischen Erfahrungen sind für die gegenwärtige Politik nicht relevant. Miloš Zeman in Prag und Viktor Orbán in Budapest zählen nicht nur zu den Befürwortern einer repressiven Flüchtlingspolitik, sondern suchen auch dezidiert die politische Nähe des Moskauer Machthabers Vladimir Putin. Ihrem Ansehen zu Hause scheint dies nicht zu schaden. Für die Probleme Europas machen sie gern Berlin oder Brüssel verantwortlich – und wälzen so die eigene politische Verantwortung ab. Ihre Affinität zu autoritären Lösungen ist nicht nur ein Phänomen der Innenpolitik: Sie strahlt auch auf die Außenbeziehungen aus. Wer im Inneren autoritär regiert, sucht die Allianz mit anderen repressiven Regimen.

Der autoritäre Umbau in Teilen Osteuropas steht in einem Spannungsverhältnis zur wirtschaftlichen Ordnung der Region. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind die post-kommunistischen Staaten – gerade im Westen – als Vorreiter eines neoliberalen Umbaus wahrgenommen worden. Dem Rückbau des kommunistischen Leviathans folgte der wirtschaftliche Aufbruch der 1990er Jahre. Die Europäische Union belohnte die erfolgreichen Reformen 2004 mit der Aufnahme osteuropäischer Staaten. Die Unterschiede zwischen Ost-und Westeuropa schienen sich beständig zu verringern. Doch nun sehen wir, dass der Westen den neuen Mitgliedern nur bedingt als Vorbild dient. Wirtschaftlich und sozial ist Europa unterschiedlich ausgerichtet. Ordnungspolitisch stehen die Gesellschaften Westeuropas der Deregulierung in Osteuropa skeptisch gegenüber. Die osteuropäischen Gesellschaften hingegen sehen zwar den westlichen Wohlstand weiterhin als Ziel, aber keineswegs das multiethnische Zusammenleben wie in Frankreich oder den Niederlanden. Ihre Abwehrhaltung gegenüber Migranten zeigt, dass sie dem unter kommunistischer Herrschaft etablierten Modell der ethnisch homogenen Nation verpflichtet geblieben sind. Dies ist nicht nur eine Frage des Ressentiments. Die Osteuropäer sehen, dass in den banlieues von Paris oder Straßburg kein multikulturelles Sommermärchen gelebt wird. Polen, Slowaken oder Tschechen haben sich einen kritischen Blick auf ihre westlichen Nachbarn bewahrt. Eine Gesellschaft, die in weiten Teilen von Zuwanderung geprägt ist – weitgehend Normalität in Westeuropa –, wird von ihnen auch dann primär als Bedrohung gesehen, wenn die Integration der Zugewanderten besser gelungen ist. Es sind nicht nur die Zustände in den cités, die sie abschrecken. Hinzu kommt die Angst vor dem Wandel der eigenen Gesellschaft: Nationale Kultur soll weiterhin eindeutig definiert bleiben. Hybridität und Mangel an nationaler Eindeutigkeit wird als Defizit wahrgenommen. Die zügige wirtschaftliche Liberalisierung war nicht im selben Maße von einer kulturellen Öffnung begleitet. Die Atomisierung der Gesellschaft unter der kommunistischen Diktatur wurde nur in Teilen überwunden; neue Formen gesellschaftlicher Solidarität stecken noch in den Anfängen. Emotionalen Halt finden die Gesellschaften Osteuropas immer noch in der Vorstellung von der ethnischen Nation als Schicksalsgemeinschaft. Der Nationalstaat bleibt hier Selbstverständlichkeit und Erfolgsmodell; die post-nationale Identität westeuropäischer Eliten unverständlich. Diese Vorstellungen über die eigene Nation wurden schließlich auch nach 1989 durch die Lehrpläne der Schulen und Geschichtspolitik in Osteuropa vermittelt. Der Beitritt zur Europäischen Union hat daran wenig geändert. Geschichte ist hier eine nationale Erzählung.

Doch letztlich weisen diese Entwicklungen auch über Europa hinaus. Es gilt, die gesamte Geschichte der Gegenwart in den Blick zu nehmen, um die Spannungen in der Europäischen Union zu verstehen. So sollte vergleichend untersucht werden, wie unterschiedliche Gesellschaften auf 9/11 und auf die Anschläge in Madrid, London und zuletzt in Paris reagiert haben. Die Herausforderung des globalen Terrors dürfte im Osten Europas den Wunsch nach einem Platz im Windschatten politischer Konflikte noch verstärkt haben. Hier haben die osteuropäischen Gesellschaften vieles mit den deutschen Sehnsüchten gemein: Deutsche wie Osteuropäer profitieren gern von den Vorzügen der globalen Moderne. Sie haben aber ein geringes Interesse daran, sich sicherheitspolitisch auf internationaler Ebene zu engagieren. Nun wurden alle Seiten von den Folgen eines Krieges in Syrien eingeholt, den man gerne weiter ignoriert hätte.

Wo steht Osteuropa nach dem Kommunismus? Die Liberalität eines Václav Havel blieb auf der Prager Burg eine Episode. In demokratischer Wahl entschieden sich die Tschechen 2013 für einen Nationalpopulisten auf dem hrad. Damit stehen sie keineswegs allein in der Region. Ungarn wird bereits seit 2010 zunehmend autoritär regiert. Diese Wende gilt es nicht nur zu beklagen, sondern zu erklären. Noch stehen wir erst am Anfang einer kritischen Historisierung der Transformationsperiode in Osteuropa. Die Reaktion auf die Flüchtlingsproblematik zeigt, dass es eine Aufgabe der Zeitgeschichte ist, die Ergebnisse des gesellschaftlichen Wandels nach 1989 neu zu beleuchten. Die These Francis Fukuyamas vom „Ende der Geschichte“ und vom unaufhaltsamen Siegeszug des Liberalismus können wir getrost ad acta legen. Vielmehr gilt es zu fragen: Wo lagen die Grenzen der Liberalisierung nach dem Kommunismus? Wie erklären wir die anhaltend hohe Bedeutung der ethnischen Nation in der Region? Woher rührt der Mangel an Empathie und Solidarität gegenüber Fremden? Wie erklären wir die erneute Popularität autoritärer Herrschaft? Was können wir in vergleichender Perspektive über Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit in Osteuropa sagen? Wie definieren wir das Erbe des Kommunismus in diesem Teil Europas?

Es handelt sich um drängende Fragen. Wir sollten Antworten suchen, ohne mit dem Finger auf andere zu zeigen. Dazu sind die Probleme zu ernst – auch in Deutschland und Westeuropa. Doch wir sollten uns auch nicht scheuen, diejenigen zu benennen, die Angst vor Fremden ausnutzen, um ihre autoritäre Herrschaft auszubauen. Orbáns Ungarn ist ein Fanal für Europa.