Am 16. September 2015 wiederholte der Premierminister Frankreichs und gebürtige Spanier Manuel Valls vor der Nationalversammlung die „Berufung Frankreichs, Menschen aufzunehmen, die wegen ihres Gedankenguts verfolgt werden oder die Gefahr an Leib und Leben ausgesetzt sind“[1]. Steht Valls’ Rede auch in der Tradition Frankreichs als Einwanderungs- und Aufnahmeland, entspricht sie trotz eines grundsätzlich positiven Diskurses in den Medien über das zivilgesellschaftliche Engagement einzelner Franzosen auf lokaler Ebene immer weniger der Meinung breiter Teile der französischen Gesellschaft.[2] Auch hat die französische Regierung im Unterschied zu der von Bundeskanzlerin Angela Merkel verkörperten Gesinnungsethik auf die Flüchtlingsfrage mit großem Vorbehalt reagiert.
Was sagt uns diese zunehmende Diskrepanz zwischen einem traditionell republikanisch-universalistischen Diskurs und dem gesellschaftlichen Misstrauen gegenüber den Fremden über das Frankreich der Gegenwart? Wie lässt sich dieses gegenwärtige Phänomen anhand eines zeitgeschichtlichen Blicks erhellen?
Frankreich als traditionelles Einwanderungs- und Aufnahmeland
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war Frankreich als großes Einwanderungs- und Aufnahmeland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten ein Sonderfall.[3] Die Aufnahme politischer Flüchtlinge reicht bis in die 1830er Jahre und bis zum Exil deutscher Liberaler in Paris zurück und setzt sich im 20. Jahrhundert mit den Armeniern und Russen[4] nach dem Ersten Weltkrieg, den italienischen und deutschen Antifaschisten sowie den spanischen Republikanern in den 1930er Jahren fort – bis hin zu den antikommunistischen Intellektuellen aus Mitteleuropa zur Zeit des Kalten Krieges und den Boat People in den späten 1970er Jahren. Als Erbin der Französischen Revolution stellte sich die Republik gern als „Leuchtturm“ der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte dar. Zugleich wurde Frankreich seit den 1890er Jahren massiv von einer europäischen und außereuropäischen Wirtschaftsimmigration geprägt, die im Kontext einer schwachen Landflucht bei gleichzeitigen Bedürfnissen der Schwerindustrie verstanden werden muss.
Dieser „Sonderweg“ prägt noch heute massiv den demographischen Charakter Frankreichs, da ein Viertel seiner Bevölkerung (etwa 14 Millionen Menschen) einen Migrationshintergrund bzw. Elternteile und Vorfahren (außer-)europäischer Herkunft hat. Diese Immigranten, seien es politische Flüchtlinge, seien es Wirtschaftsmigranten, haben nach und nach ihren Platz im französischen Nationalstaat gefunden. Sie haben nicht nur die Staatsbürgerschaft erhalten, sondern auch – dies gilt vor allem für die zweite Generation – den „nationalen Habitus“ (Elias) an Schule und Arbeitsplatz verinnerlicht.
Das französische republikanische Modell hatte aber immer auch seine Schattenseiten, welche die Gesellschaft von der Hochmoderne bis hin zur Gegenwart mit jeweils unterschiedlicher Intensität prägten:[5] rassistische Gewaltakte (vom Pogrom gegen Italiener in Aigues-Mortes 1893 über den „roten Sommer“ gegen die Maghrebiner 1977 in Marseille bis hin zur antisemitischen Gräueltat der „Gang der Barbaren“ in Paris 2006), die Tendenz zum Nationalismus bis hin zur offiziellen Diskriminierungspolitik (unter dem Vichy-Regime), oder aber schlicht die Grenzen der republikanischen Meritokratie für Personen mit Migrationshintergrund.
Die Krise des republikanischen Modells „nach dem Boom“
Im Kontext der europäischen Flüchtlingskrise befindet sich das republikanische Modell offensichtlicher denn je in der Krise, vielleicht sogar am Ende seiner Integrationskraft. Viele Indikatoren deuten darauf hin, z.B. der unaufhaltsame Aufstieg des Rechtsextremismus, der in den frühen 1980er Jahren begann, oder die Entwicklung eines aggressiven Laizismus gegenüber einem sichtbaren Islam. Selbst die berühmten „Erinnerungsorte“ von Pierre Nora[6] könnte man als Beweis einer Erschöpfung des Republikanismus lesen!
Frankreich hadert mit sich selbst und ist schlicht nicht in der Lage, die Herausforderung durch die ankommenden Flüchtlinge anzunehmen. Statt in enger Zusammenarbeit mit Deutschland nach einer gemeinsamen Lösung auf europäischer Ebene zu suchen, beschäftigt sich Frankreich mit seinem eigenen Identitätsproblem, als ob es aus dem Prozess der Geschichte heraustreten könnte. Während in Deutschland die Herausforderung der Flüchtlingsfrage zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik stark diskutiert wird, konzentriert sich das politische und mediale Feld jenseits des Rheins auf die sogenannte Affäre Morano, deren Gegenstand die Aussage der ehemaligen Ministerin der konservativen Partei „Les Républicains“ ist, die Frankreich als „ein jüdisch-christliches Land von weißer Rasse“ postulierte und damit eine Welle von Protesten auslöste.
Tief verloren in seiner Identitätskrise, ohne namhafte Intellektuelle,[7] die für den universellen Wert der Solidarität einträten (wie seinerzeit Jean-Paul Sartre oder Raymond Aron), befindet sich Frankreich auf dem Scheideweg: Der eine führt in den Nationalismus und zur Abschottung, der andere zur europäischen Solidarität.
[1] Rede von Manuel Valls zur Flüchtlingspolitik: Solidarität, Kontrolle, Strenge, 16. September 2015, auf der Webseite der Französischen Botschaft in Deutschland.
[2] In einer Umfrage von You Gov waren Mitte September 70% der befragten Personen der Meinung, dass die Aufnahme von 24.000 zusätzlichen Flüchtlingen völlig reicht. Und 62% lehnen die Aufnahme eines Flüchtlings für 6 Monate ab.
[3] Gérard Noiriel, Le creuse français: Histoire de l’immigrations XIXe-XXe siècles, Paris 1983.
[4] Catherine Gousseff, L’exil russe. La fabrique du réfugié apatride (1920-1939), Paris 2008.
[5] Gérard Noiriel, Immigration, antisémitisme et racisme en France (XIXe – XXe siècle): Discours publics, humiliations privées, Paris 2007.
[6] Pierre Nora (Hg.), Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990; Ebd. (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005.
[7] Abgesehen von dem Plädoyer des Philosophen Etienne Balibar, „Stunde der Wahrheit“, das in der ZEIT vom 8. Oktober 2015 veröffentlicht wurde.