von Patrice Poutrus

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1. September 2015

Das hier erneut publizierte Thesenpapier war eine Reaktion von drei Potsdamer Mitarbeitern des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) auf die heftige außerwissenschaftliche Debatte um die Ursachen und die Bedeutung der bis dahin einzigartigen Welle fremdenfeindlicher Gewalt, die insbesondere Ostdeutschland im Sommer 2000 erschüttert und in der bundesdeutschen Öffentlichkeit zu heftigen Kontoversen geführt hatte. Anliegen des Thesenpapiers war es, die Diskussion um die Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den Neuen Bundesländern – die zunächst hauptsächlich auf die Härten des Transformationsprozesses zurückgeführt wurde – um eine historische Perspektive zu ergänzen. Dabei war uns Autoren Jan C. Behrends, Dennis Kuck und Patrice G. Poutrus durchaus klar, dass historische Erklärungen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, also der Rekurs auf in der Vergangenheit liegende Umstände und Tatsachen, womit die in der DDR und auch davor liegende Zeiten gemeint waren, keine exklusive Erklärung des Phänomens beanspruchen können. Wir schlossen die ökonomischen und mentalen Verwerfungen der Systemtransformation nicht aus unserem Erklärungsansatz aus. Wir meinten aber, schon in der DDR waren sowohl die gesellschaftliche Stellung „Fremder“ als auch der Umgang der herrschenden SED mit ihnen prekär und ambivalent. Nach 1989/90 kam es nach unserer Auffassung zu einer Dynamisierung bereits vorhandener gesellschaftlicher Spannungszustände. Als Historiker konzentrierten wir uns deshalb auf die Problematik der Zeit vor 1989.

Wir waren darüber hinaus der Ansicht, wenn in der öffentlichen Debatte von Autoren aus der ehemaligen DDR für die Anerkennung der spezifischen Eigenheiten Ostdeutscher im vereinten Deutschland gestritten wird, dann sollten auch die Schattenseiten der vergangenen DDR-Gesellschaft und was heute noch davon virulent ist als solche kritisch thematisiert werden. Problematisch erschien es uns etwa, wenn die enorme Staatsfixiertheit und der hohe Stellenwert von sozialer „Gleichheit“ in der DDR-Gesellschaft in den Neuen Bundesländern als ein Wert betrachtet wird, den es eins zu eins als zu bewahrendes Erbe in das vereinigte Deutschland hinüberzuretten gelte. Derartige mentale Überhänge sollten in ihrer Ambivalenz anerkannt werden: Es handelt sich zugleich um gesellschaftliche Hypotheken und konstruktive Wertvorstellungen. Die Kehrseite der vom Staat her gewährten und organisierten „Gleichheit“ macht sich noch heute in den Neuen Bundesländern als umfassender Mangel an zivilgesellschaftlichem „Sozialvermögen“ (social capital) bemerkbar, der die Stellung „Fremder“ in der ostdeutschen Gesellschaft beeinträchtigt und ihre Integration nach der Wende erschwerte. Es erschien uns dringend geboten, die aus DDR-Zeiten tradierte und fortwährend genährte Illusion zu entkräften, dass allein der Staat in der Lage sei, die gesellschaftlichen Konfliktlagen – auch im Umgang mit „Fremden“ – „von oben“ zu lösen. Genauso wenig wollten wir mit dem Verweis auf die historischen Wurzeln dieser Erwartungshaltung erreichen, dass sich die neuen Täter und die Gesellschaft, die ihren Verbrechen tatenlos zusieht, von ihren jeweiligen Verantwortlichkeiten freisprechen.

Eigentlicher Ausgangspunkt für unsere Überlegung war die seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre vor allem von Sozialwissenschaftlern, Politikern und Journalisten intensiv geführte Debatte um die Ursachen der sich seit dem Ende des SED-Regimes geradezu dramatisch manifestierenden Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland. Dabei kristallisierten sich im Wesentlichen zwei konkurrierende Erklärungsmuster heraus. Das erste – an die klassische Autoritarismusforschung angelehnte – Erklärungsmuster sieht die Nachwirkungen autoritärer und militanter Wertvorstellungen aus dem Erziehungssystem des Staatssozialismus und die daselbst propagierte „Hasserziehung“ als den Nährboden an, auf dem sich mit Entwertung der marxistisch-leninistischen Ideologie rechtsradikales und rassistisches Gedankengut ansiedeln konnte. Demgegenüber verortet der zweite Erklärungsansatz die Entstehung fremdenfeindlicher Einstellungen und Handlungsmuster vor allem in der krisenhaften Transformation von staatssozialistischer Diktatur und Planwirtschaft zu bürgerlicher Demokratie und Marktwirtschaft, wobei Fremdenfeindlichkeit und Rassismus durch das Zusammenwirken von Identitätsverlust, Statusangst und realen Interessenkonflikten induziert würden. Etwaige kulturelle oder mentale Kontinuitäten wurden dabei weitgehend ausgeblendet.

Dabei war die Stellung „Fremder“ in der deutschen Gesellschaft stets Gegenstand öffentlicher Selbstreflexion, begleitet von einer langen Tradition der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts beschrieb der Soziologe Georg Simmel die prekäre Rolle des „Fremden“, die aus einer „Einheit von Nähe und Entferntheit“ bestehe. An die klassische Definition des „Fremden“ von Simmel (1908) („der, der heute kommt und morgen bleibt“) anknüpfend, entspann sich seitdem eine breite soziologische Debatte, die nach den sozialen Konsequenzen von Differenz in der modernen Gesellschaft fragt. Für die historische Forschung zur DDR lässt sich aus dieser Diskussion mit dem Soziologen Armin Nassehi (1995) ableiten, dass eine jede Untersuchung eben nicht allein die „Fremden“, sondern auch die Aufnahmegesellschaften thematisieren muss: „Wer das Fremde als Fremdes verstehen will, muss nach den Bedingungen fragen, unter denen gesellschaftliche Strukturen und Prozesse als vertraut gelten.“ Im Interesse einer gesellschaftsgeschichtlichen Herangehensweise verwenden wir bewusst den Begriff „Fremdenfeindlichkeit“, der eine tendenziell mehrheitsfähige Einstellung bezeichnet. In Abgrenzung zu Rechtsextremismus und Neonazismus als politisierter radikaler Einstellung einer Minderheit mit ihrer zugehörigen Subkultur erlaubt er einen breiteren Blick auf die Gesellschaft.

Die Frage nach den Konstruktionen von „Eigenem“ und „Fremdem“, nach den Grenzen des „Eigenen“ und nach den Konsequenzen dieser Konstrukte in der diktatorisch verfassten Gesellschaft der DDR stand im Mittelpunkt unserer Überlegungen. Neonazistische Ideologien und Einstellungen konnten durch diese Konstruktionen konserviert und rassistische Gewalt legitimiert werden, Fremdenfeindlichkeit geht aber darin nicht auf. Zugleich und wie für alle modernen Gesellschaften stellt die aus transnationaler Migration resultierende interkulturelle Begegnung eine fundamentale Herausforderung dar, und obwohl die DDR eindeutig als Ausreise- und nicht als Einwanderungsgesellschaft charakterisiert werden kann, galt dies auch für den SED-Staat. Deshalb konzentrierten wir uns anfänglich auf Forschungen zum Umgang mit Ausländern in der DDR. Wer in der DDR aber als „fremd“ kategorisiert und dann auch wahrgenommen wurde, richtete sich keineswegs exklusiv nach rassistischen Vorstellungen. Das Bild des „Klassenfeindes“ etwa war keine rassistische Konstruktion, sondern ein potentiell flexibler Mechanismus zur Ausgrenzung. Der lärmende Anti-Amerikanismus und die verbreitete Feindschaft gegen Westdeutsche zeigen, dass die Grenzen der vorgestellten Gemeinschaft in der DDR fluide waren und sich nicht nur an ethnischen Kriterien orientierten. Auch innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft spielte die Fremdheit zwischen soziokulturellen Gruppierungen eine wesentliche Rolle; nicht zuletzt die zwischen der einer exklusiven Sphäre der Herrschaft angehörenden Funktionärselite des SED-Staats und der breiten Masse der DDR-Bürger.

Bei der Verifikation unserer Thesen erwies sich die bis dato rudimentäre Forschung zum Umgang mit und der Wahrnehmung von Fremden in der DDR-Gesellschaft als zentrales Problem. Bereits 1998, also zwei Jahre vor unserem Thesenpapier, hatte die damalige Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg, Almuth Berger, auf der Brühler Tagung „Prekäre Lebenslagen. Disziplinierung und Normalisierungsdruck in der Arbeitsgesellschaft DDR“ angeregt, Lebensbedingungen und soziale Praxen im Umgang mit Ausländern in der DDR in einem eigenständigen Forschungsprojekt zu untersuchen. Das Thesenpapier war quasi der erste Schritt in diese Richtung. Nach ersten Vorüberlegungen im Rahmen der Projektgruppe „Herrschaft und Eigen-Sinn“ am ZZF und der Konferenz „Fremde und Fremd-Sein in der DDR“ im Dezember 2000 entstand 2001 die gleichnamige Projektgruppe am Zentrum für Zeithistorische Forschung. Es gelang – in veränderter Besetzung – zwei kleinere Forschungsprojekte durch Stiftungsmittel zu finanzieren. Deren Ergebnisse sind inzwischen breit publiziert und rezipiert. Der Umgang mit Fremden im Staatssozialismus im Allgemeinen und in der DDR im Besonderen hat sich mittlerweile zu einem eigenständigen Feld der internationalen DDR- und Kommunismusforschung entwickelt. Allerdings scheinen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Ausgangspunkt für diese zeithistorischen Forschungen waren, weit weniger rasant entwickelt zu haben. Auch ist es irritierend, dass die öffentlichen Debatten darum weitgehend den gleichen Pfaden folgen, als würde es das hier bereitgestellte Wissen nicht geben.