von René Schlott, Mirko Winkelmann

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1. Januar 2016

Auf dem Kamm der neuen Hitler-Welle, die derzeit durch das Land und die Medien rollt, am selben Tag, an dem das Institut für Zeitgeschichte die kommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“ vorstellt, gastiert die Theatergruppe Rimini Protokoll mit ihrer neuen Produktion am HAU 'Hebbel am Ufer' Berlin.

Mehr dazu auf Zeitgeschichte-online: Ein Interview mit dem Dramaturgen und Historiker Sebastian Brünger. „Das, was wir machen, ist alles andere als eine Texthuldigung.“ Oder: Wann über „Mein Kampf“ gelacht werden darf.
 

Ein Fernseher mit Bildern des Eichmann-Prozesses, ein künstliches Weihnachtsbäumchen, unter dem noch verpackte Geschenke liegen, ein Mülleimer, meterhohe Regalwände und ein Brief, der bei der deutschen Forschungsstation in der Antarktis nachfragt, ob „Mein Kampf“ in deren Bibliothek vorhanden sei. So beginnt die Inszenierung mit dem Titel „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2“, die die Regie- und Theatergruppe Rimini Protokoll zuerst im September 2015 in Weimar auf die Bühne brachte und die just am Tag der vielbeachteten Veröffentlichung der kommentierten Edition des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) am ausverkauften Berliner HAU zu sehen war.[1]

Die Idee, das 800-Seiten Werk als Theaterstück aufzuführen, entstand vor drei Jahren. Anlass war das absehbare Ende der urheberrechtlichen Schutzfrist von Hitlers „Mein Kampf“ zum 1. Januar 2016. Bis dato unterband die bayerische Landesregierung eine Publikation dieses Werkes in Deutschland, das bis 1945 knapp 12,5 Millionen Mal gedruckt worden war. Die Frage nach dem richtigen Umgang mit dieser wichtigen programmatischen Schrift des Nationalsozialismus und mit ihrem Verfasser wurde hierdurch freilich nicht geklärt. Sie bot seither regelmäßig Anlass zu heftigen Debatten, in denen nicht zuletzt auch die Haltung der deutschen Gesellschaft zur nationalsozialistischen Vergangenheit verhandelt wurde.

Nach der sogenannten „Hitler-Welle“ Anfang der 1970er Jahre[2], als vor allem zwischen 1973 und 1975 zahlreiche auf Hitler konzentrierte Darstellungen erschienen, darunter die Biographie von Joachim Fest, erleben wir seit einigen Jahren eine neue „Hitler-Welle“[3]: 2010/2011 war Hitler Gegenstand der Ausstellung „Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen“ im Deutschen Historischen Museum.[4] In den letzten fünf Jahren haben Volker Ullrich und Peter Longerich neue Biographien und Wolfram Pyta, Ludolf Herbst und Thomas Weber umfangreiche Spezialstudien zu seiner Person vorgelegt. Ein wirklich substanzieller Erkenntnisgewinn war mit der ersten Hitler-Welle nicht verbunden. Und auch jetzt werden erste skeptische Stimmen laut.[5]

Die künstlerische Auseinandersetzung mit Hitlers „Mein Kampf“ hat ebenfalls eine lange Tradition, nicht zuletzt auf der Bühne: Schon in den 1970er Jahren zog Helmut Qualtinger mit Auszügen des Textes durch die Theaterhäuser.[6] Im Jahr 1987 wiederum hat George Tabori „Mein Kampf“ als „theologischen Schwank“ im Wiener Akademietheater uraufgeführt,[7] und Serdar Somuncu bescherte Qualtingers Textauswahl in den 1990er Jahren schließlich eine Neuauflage und gab damit republikweit fast 1.500 Vorstellungen.[8] Rimini Protokoll liefert nun die postdramatische Inszenierung von „Mein Kampf“. Diese beansprucht jedoch mehr zu sein als eine Lesung.

Im Mittelpunkt des von Helgard Haug und Daniel Wetzel konzipierten Stückes steht vor allem der Umgang mit dem Werk nach 1945: Als es auf Dachböden und in der zweiten Reihe des Bücherregals versteckt wurde, man es sich jedoch trotz des Publikationsverbotes beschaffen und schließlich auch lesen konnte. Wie bei Inszenierungen von Rimini Protokoll üblich, stehen nicht professionelle Schauspieler, sondern Laien als „Experten des Alltags“ auf der Bühne. [9] Sie berichten über ihre individuellen Rezeptionserfahrungen von „Mein Kampf“. Neben den Juristen Sibylla Flügge, Anna Gilsbach und dem Israeli Alon Kraus sind dies der Buchrestaurator Matthias Hageböck, der blinde Redakteur Christian Spremberg sowie der Berliner DJ und Rapper Volkan T error [sic!], der das Stück auch akustisch untermalt. Ihre persönlichen Geschichten, Ansichten und Urteile werden dabei durch Hintergrundwissen zum Buch ergänzt, zu seiner Entstehung und zur zeitgenössischen Rezeption. Spremberg etwa liest aus einer in den 1930er Jahren erschienenen großformatigen Ausgabe in Blindenschrift und beschreibt, wie er zum ersten Mal das Hakenkreuz auf dem Buch ertastete. Auf einer Videoleinwand werden die vorgetragenen Passagen aus Hitlers Werk zum Mitlesen eingeblendet. In einer Einspielung ist auch der Historiker Othmar Plöckinger mit einem Statement zu sehen. Er ist ausgewiesener Experte für die Rezeptionsgeschichte von „Mein Kampf“ und einer der Herausgeber der kritischen Edition des IfZ.[10]

Präsentiert wird das Ganze auf, vor und in einer riesigen Schrankwand voller Bücher, Monitore und anderer Utensilien – die in gleicher Funktion schon in der Rimini-Produktion von „Das Kapital“ Verwendung fanden. Dies ist nicht die einzige Anspielung auf die politische Linke. So zitiert eine der Darstellerinnen einen Brief ihrer Schwester: Diese sei in den 1970er Jahren deshalb in den linksradikalen Untergrund gegangen, weil sie „Halbheiten“ abgelehnt habe. Sie hatte sich damit unbewusst einer Formulierung bedient, die sich auch in „Mein Kampf“ findet. Konträr zu dieser Radikalität von Linken und Rechten ist das Stück jederzeit um die Darstellung von Ambivalenz bemüht. So sollen sich die Protagonisten beispielsweise in verschiedenen Szenen zu virulenten Gegenwartsdebatten positionieren: etwa zu der Frage, ob „Mein Kampf“ heute im Schulunterricht gelesen werden sollte.[11] Reichlich unentschlossen tapsen die Darsteller_innen dann auf der Bühne umher und veranschaulichen damit die gesellschaftliche Uneinigkeit in diesen Fragen.

Was szenisch spielerisch, wenn nicht gar erheiternd wirkt und vom Publikum entsprechend goutiert wird, bleibt jedoch inhaltlich auf der Strecke: Positionieren heißt hier tatsächlich nicht mehr, als sich auf eine Seite der Bühne zu begeben – eine tiefere inhaltliche Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragen bleibt das Stück schuldig. Stattdessen streift es um Aktualität bemüht alle möglichen Stichworte der medialen Gegenwart, wie ISIS, NSU und Pegida. Auch die Bewertung von Hitlers „Mein Kampf“ wirkt unentschieden: Ist dieses Buch nun gefährlich, aktuell, prophetisch, stellenweise komisch oder gar gut geschrieben?[12] Es scheint, als gehe es hier eher darum, die ganze Bandbreite einer offenen Diskussion zu beleuchten, und nicht darum, selbst Position zu beziehen. Das Stück ist damit kein „Tribunal“, wie Peter Weiss einst eine Möglichkeitsform des dokumentarischen Theaters beschrieb.[13] Weder geht es mit dem Buch selbst ins Gericht noch mit der bundesdeutschen Gesellschaft, die offenbar bis heute nicht recht weiß, wie sie damit umgehen soll.

Das Stück muss sich deshalb eine kürzlich in der „Süddeutschen Zeitung“ formulierte Kritik an der bundesdeutschen Theaterlandschaft gefallen lassen, wonach gegenwärtige Inszenierungen zunehmend Seminararbeiten ähneln würden, gespickt „mit szenischen Fußnoten, ironischen Kommentaren, vielfältigsten Rezeptionsmöglichkeiten und Lektüreangeboten zum Mitlesen“.[14] So wirkt auch das Rimini-Stück weder provokant noch kontrovers, sondern stellenweise eher beliebig. Es mäandert zwischen „Mein Kampf“ als Lebenshilfe bei Schreibkrisen im Studium und „Mein Kampf“ als Gegenstand eines Flirtversuches am Roten Meer. Spätestens nach der Hälfte der knapp zweieinhalb Stunden Spieldauer stellt sich beim Zuschauer deshalb Ermüdung ein.

Ein positiver Aspekt dieser eher enzyklopädischen Betrachtungsweise von Rimini Protokoll ist die Thematisierung der internationalen Dimension des Buches: Auf der Bühne sind ein in Japan erhältliches „Hitler-Kit“ mit „Mein Kampf“-Manga, eine gleichnamige Graphic Novel aus der Türkei und Übersetzungen aus Indien, Ägypten und Indonesien, ja selbst aus Israel zu sehen. Unterschiede in der Wahrnehmung des Buches und seiner Verwendung werden hierdurch sehr deutlich. So beginnt beispielsweise die hebräische Übersetzung nicht mit Hitlers nahezu idyllischer Schilderung seines Geburtsortes, sondern mit den Passagen des Buches über den Giftgas-Einsatz im Ersten Weltkrieg.

Der Schlüsselsatz des Stückes fällt en passant und zitiert den Vorschlag von Volkhard Knigge, Gedenkstättenleiter in Buchenwald, die Bundeszentrale für politische Bildung solle das kommentierte Werk massenweise kostenlos übers Land verteilen. Denn nur so könne der fortdauernde Mythos von „Mein Kampf“ wirksam beendet werden. Sicher eine gute Idee, denn jede Verknappung, wie sich jetzt auch bei der IfZ-Ausgabe zeigt, macht das Buch zum Fetisch. Das führt dazu, dass die Neuausgabe inzwischen für bis zu 1.000 Euro im Internet angeboten wird – also für einen höheren Preis als eine Erstausgabe von „Mein Kampf“ aus dem Jahre 1925.[15] Nicht unberechtigt ist daher die Kritik des britischen Literaturwissenschaftlers Jeremy Adler, wonach ein „erbärmliches Machwerk“ durch diese Neuausgabe erst „Dignitität“[16] erlange.

Diesem Dilemma kann auch die Inszenierung von Rimini Protokoll nicht entgehen. Unweigerlich wirkt sie an einem Mythos mit, verschafft einem Werk Relevanz, stellt es auf Spielpläne neben Shakespeare und Kleist, wo es doch eigentlich diesen Mythos zerstören will: „Egal, wie wir es machen, wir geben diesem Buch eine Bühne“,[17] räumen die Regisseure Helgard Haug und Daniel Wetzel unumwunden ein. Wie sehr dies der Fall ist, zeigt sich, wenn am Ende des Stückes ein meterhoher Buchrücken auf der Bühne steht, auf dem in Fraktur und Goldschnitt „Adolf Hitler, Mein Kampf“ prangt: Sollte das wirklich der letzte Eindruck dieses Theaterabends gewesen sein?

Adolf Hitler: Mein Kampf. Band 1&2; Rimini Protokoll, Konzept, Regie & Text: Helgard Haug, Daniel Wetzel, Uraufführung 3. September 2015 in Weimar, demnächst in München, Leipzig und Dresden.
Weitere Aufführungen finden im Sommer 2016 in Berlin statt.

 

[1] Siehe einen Trailer des Stücks sowie eine Liste der Zeitungsbesprechungen auf der Website des Projektes: Theatergruppe Rimini-Protokoll [11.01.2016].
[2] Siehe ausführlicher: Matthias N. Lorenz , Hitler-Welle, in: Ders./Torben Fischer, Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, 3. überarb. und erweit. Aufl., Bielefeld 2015, S. 237 f.
[3] Davon spricht im Interview auch IfZ-Direktor Andreas Wirsching: Rudolf Neumaier, Der umzingelte Text, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10.01.2016, S. 17.
[4] Im Katalog sind die Cover verschiedener zeitgenössischer Übersetzungen abgebildet, darunter schwedisch und portugiesisch. Siehe: Hans Ulrich Thamer/Simone Erpel (Hg.), Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen, Dresden 2010, S. 179.
[5] Volker Ullrich, Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs 1889–1939. Biographie, Band 1, Frankfurt am Main 2013; Peter Longerich, Hitler. Biographie, München 2015; Wolfram Pyta, Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse, München 2015; Ludolf Herbst, Hitlers Charisma: Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt am Main 2010; Thomas Weber, Hitler’s First War: Adolf Hitler, the Men of the List Regiment, and the First World War, Oxford 2010. Siehe etwa: Gustav Seibt, Wirrniss, Trübsal. Scholastik des Irrsinns: Hitlers Quellen auf der Spur, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10.01.2016, S. 17. Oder: Wolfgang Benz, Streit um Veröffentlichung: Was taugt die kritische Edition von Hitlers Hetzschrift »Mein Kampf«?, in: Die Zeit 3/2016, S. 17.
[6] Siehe: Helmut Qualtinger liest aus: Mein Kampf (1975) [11.01.2016].
[7] Tabori ist der Maßstab, an dem etwa Hubert Spiegel das Stück von Rimini Protokoll misst. Siehe seine Besprechung: Wir spielen heute mal Provokation, in: FAZ, 5.09.2015, S. 11.
[8] Siehe: Interview mit Serdar Somuncu: Lesung. Fahrplan zum Völkermord, in: Der Spiegel 2/1996, S. 162.
[9] Vgl. Miriam Dreysse/Florian Malzacher (Hg.), Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007.
[10] Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922-1945, München 2006. Inzwischen ist eine zweite aktualisierte Auflage erschienen (München 2011).
[11] Siehe zu dieser Frage: Ulrich Baumgärtner, Mein Kampf in deutschen Schulbüchern. Fachwissenschaftliche Grundlagen und unterrichtspraktische Konsequenzen, in: Christian Kuchler (Hg.), NS-Propaganda im 21. Jahrhundert. Zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 79-102. Sowie für die internationale Perspektive im gleichen Band den Aufsatz von Marc van Berkel, Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern und der öffentlichen Diskussion, in: Kuchler (Hg.), Propaganda, S. 103-120.
[12] In der FAZ stellte der Heidelberger Germanistikprofessor Helmuth Kiesel im vergangenen Jahr die provokante Frage „War Adolf Hitler ein guter Schriftsteller?“ und kommt in einer umfangreichen sprachlichen Analyse von „Mein Kampf“ zu dem Schluss, dass das Werk gar nicht so unlesbar sei, wie oft behauptet wurde: Helmuth Kiesel, War Adolf Hitler ein guter Schriftsteller?, in: FAZ, 4.08.2014, S. 11.
[13] Vgl. Peter Weiss, Notizen zum dokumentarischen Theater [1969], in: Joachim Fiebach (Hg.), Manifeste europäischen Theaters. Von Grotowski bis Schleef, Berlin 2003, S. 67f.
[14] Christine Drössel, Selber schaudern. Theater: Wie Inszenierungen zu Seminaren werden, in: Süddeutsche Zeitung, 29.12.2015, S. 10.
[15] Internetrecherche vom 11. Januar 2016 bei den Plattformen Amazon und ZVAB.
[16] Jeremy Adler, Das absolut Böse. Am Freitag erscheint eine kritische Ausgabe von „Mein Kampf“ – das darf nicht sein, in: Süddeutsche Zeitung, 7.01.2016, S. 9.
[17] Anke Dürr, Aus der Schatulle des Feindes. Theater: Wie gefährlich ist Lesen? Die Berliner Gruppe Rimini Protokoll will das anhand von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ ermitteln, in: Der Spiegel 36/2015, S. 124 f., hier S. 125.