Im Zuge der aktuellen sogenannten Flüchtlingskrise erfährt die Grenze eine bemerkenswerte Image-Aufwertung. Lange waren öffentliche Diskurse über Europa von einem Trend zu „weniger Grenze“ geprägt. Unterstützt wurde diese scheinbare Einmütigkeit durch Bilder von der Öffnung der Grenzen zwischen Österreich und Ungarn 1989. Den Fotografien, auf denen die Außenminister Gyula Horn und Alois Mock gemeinsam einen Stacheldraht zerschneiden, wurde ikonische Bedeutung zuerkannt.[1] In Fotoprojekten wurden Grenzhäuschen als Relikte einer längst vergangenen Zeit dokumentiert.[2] Und natürlich spielte das Ideal der Grenzfreiheit im Rahmen der Konstruktion Europas nicht nur als Wirtschafts- sondern vor allem auch als Wertegemeinschaft eine zentrale Rolle.
Selbst in einer so populären Fernsehserie wie Game of Thrones wird das Konzept der Grenze, hier gestaltet als 200 Meter hohe Mauer, problematisiert und ad absurdum geführt. In den verschiedensten Kontexten erschienen Grenzen als Problem, nicht als Lösung.
Dies hat sich gründlich geändert. Hier soll gar nicht die Rede sein von Politikerinnen, die einen neuen Schießbefehl an Grenzen fordern. Bemerkenswerter ist die aktuelle Rhetorik, mit der so häufig auf die Notwendigkeit hingewiesen wird, Grenzen zu sichern oder zu „schützen“.[3] Der Schutz der – rhetorisch geradezu hilflos, eben schutzwürdig erscheinenden – Grenzen wurde binnen relativ kurzer Zeit zum Selbstzweck, zu einer einleuchtenden und selbstverständlichen Notwendigkeit und schließlich zu einem politischen Schlagwort.
Nur nebenbei sei hier erwähnt, dass die visuelle Darstellung von Grenzen bisher keine so eindeutige Veränderung durchgemacht hat. Die massenweise verfügbaren Bilder von mit Stacheldraht gesicherten Grenzen, ob mit oder ohne Menschen dahinter, werden vor allem in Beiträgen genutzt, die dem Prozess der neuen Grenzerrichtung eher skeptisch gegenüberstehen. Texte, die sich für „sichere“ Grenzen aussprechen, neigen eher dazu, diese Bilder zu vermeiden. Die Grenze ist (noch) kein werbefähiges Bild, offenbar ist unser visuelles Gedächtnis träger als das sprachliche. Die Probe aufs Exempel bildet hier eine Suche auf der Website der Alternative für Deutschland (AfD).[4] Ganz im Sinne der generell mit betont positiven Aussagen formulierten Programmatik funktioniert auch die Bebilderung der „Standpunkte. Zuwanderung und Asyl“: Der Besucher der Seite schaut auf eine in freundlichem Blau gehaltene Fotografie, die zwei unterschiedlich große Goldfischgläser zeigt. Aus dem kleineren (nun offenbar leeren) Glas springt ein Goldfisch hinüber in das größere, in dem bereits mehrere andere Goldfische herumschwimmen und ihren agilen Kumpan erwarten.
Wenn nun aber Grenzen – zumindest sprachlich – als salonfähig, politisch wünschenswert und schutzwürdig gelten, dann erscheint diese Rede vor allem als Chiffre für eine meist vage bleibende, aber doch Sicherheit verheißende Ordnung. Diese Ordnung hat der Philosoph Peter Sloterdijk kürzlich in der Sendung "Kulturzeit" erklärt und eingefordert.[5] Mit der Autorität des Intellektuellen erklärte Sloterdijk, eigentlich „nur Selbstverständlichkeiten auszusprechen“, wenn er offene Grenzen und Migration als grundlegendes Problem definierte. Es ist gerade diese behauptete Selbstverständlichkeit und die Logik des „ganz einfachen Sachverhaltes“ (Zitat Sloterdijk), die seine Aussagen so bemerkenswert und für Historiker/innen problematisch machen. Sloterdijk argumentiert, man müsse den Nationalstaat selbstverständlich verteidigen, denn „alle Rechtssysteme“ seien im Nationalstaat verankert. Das Gleiche gelte für alle Solidargemeinschaften und Sozialsysteme. „Wer Recht will, muss auch Nation sagen.“[6] Diese Konsequenz, die Gleichsetzung von funktionierendem Recht, Ordnung, Staat und Nation ist allerdings bereits seit den 1990er Jahren von Sozial- und Geisteswissenschaften, namentlich der Globalgeschichte grundlegend infrage gestellt worden. Angesichts dieser nun nicht mehr nur am Stammtisch, sondern auch von Philosophen behaupteten Notwendigkeit des Nationalstaates als einzig denkbare Chance für Sicherheit und Ordnung mag somit ein kurzer Rückblick auf einschlägige Überlegungen vor allem in den Geschichts- und der Politikwissenschaften angebracht sein.
Als zentral erweist sich dabei der Begriff der Territorialität, deren Bedeutung John Agnew 1994 zugespitzt und kritisch mit seinem Aufsatz zur territorial trap deutlich machte.[7] Die gesamte Disziplin der international relations, so Agnew, finde ihre Grundlage in dem Axiom der Territorialität. Aus dieser Perspektive erscheine die Welt eingeteilt in fein säuberlich voneinander getrennte Territorialstaaten. Politik werde räumlich gedacht und sei nur vorstellbar im Rahmen von territorial verfassten Staaten. Staatsgrenzen erhielten so ihre für die Moderne derart konstitutive Bedeutung. Während im europäischen Mittelalter ebenso wie in anderen politischen Systemen Macht anders gedacht worden sei - vor allem auf Menschen, auf Loyalitäts- und Abhängigkeitssysteme bezogen - galt der von Staatsgrenzen gerahmte Raum zunehmend als Verkörperung, Voraussetzung und Definition des Politischen.[8] Der auf Territorien bezogene Souveränitätsbegriff, der sich erst im Laufe der Frühen Neuzeit in Europa herausbildete, habe sich zum einzig vorstellbaren Konzept für Macht, Ordnung und Recht entwickelt. Zudem habe sich dieses System als sehr anschlussfähig erwiesen für den gesamten nationalen Diskurs, wie er sich seit dem späten 18. Jahrhundert entwickeln sollte: Das territoriale Konzept habe die Grenze geradezu primordialisiert, kulturelle Abgrenzungsprozesse gestärkt und einen grundlegenden Dualismus von staatlicher Ordnung versus nichtstaatlichem Chaos gefördert. Das territoriale Denken des 20. Jahrhunderts habe all diese Probleme ignoriert und sei vollkommen ahistorisch aufgetreten, in dem es die geschichtliche Entwicklung seiner eigenen Axiome ignorierte. Zudem kritisierte Agnew die Kontextlosigkeit des Konzepts: Die Absolutsetzung des Territorialstaates sei einhergegangen mit der – wiederum unausgesprochenen – Vorstellung von einer Gleichartigkeit all dieser Staaten. Es gebe nur mehr Staat oder Nicht-Staat; die historischen, kulturellen, strukturellen und politischen Unterschiede der existierenden Territorialstaaten würden weitgehend ignoriert.
Agnews Kritik am territorialen Denken war zwar sehr konkret an die international relations als Subdisziplin der Politikwissenschaften gerichtet, die Überlegungen zur Entwicklung der Territorialität erwiesen sich jedoch als ausgesprochen relevant für die Geschichtswissenschaft, die bereits seit geraumer Zeit mit ihren nationalen Ursprüngen haderte. Die traditionelle Einteilung der Geschichte entsprechend nationaler Grenzen erschien zunehmend problematisch. Transnationale Geschichte, europäische Geschichte, regionsbezogene sowie lokale Geschichte und eben auch Globalgeschichte bildeten allesamt Versuche, die Vorstellung von den handlichen, weil homogenen und abgrenzbaren Nationalgeschichten zu problematisieren und zu überwinden.[9] Tatsächlich scheint es, als sei die Geschichtswissenschaft auf einem guten Weg, Agnews territorialer Falle zu entrinnen. Die Globalgeschichte erwies sich als sehr erfolgreich darin, historische Aspekte zu entdecken und zu erforschen, die im traditionellen Nationalstaats-Puzzle zwangsläufig verborgen bleiben mussten: Strukturen in Grenzregionen, Migrationsgeschichte als historischer „Normalfall“, politisches Agieren von Piraten, imperiale Formationen und Expansionen, wirtschaftliche und soziale Verflechtungen auf lokaler Ebene. Diese willkürliche und notwendigerweise radikal verkürzte Liste macht deutlich, wie konkret die Globalgeschichte auf die Forderungen John Agnews antwortet – wenn auch meist implizit und ohne direkt auf seine Thesen Bezug zu nehmen. Zu den wichtigsten Resultaten der Globalgeschichte gehören nicht nur die inzwischen kaum mehr zu überschauenden empirischen Ergebnisse, welche neue Perspektiven auf die Welt – denn um nichts anderes handelt es sich – gebracht hat. Entscheidend dürfte vielmehr die grundlegende Erkenntnis sein, dass der Territorialstaat mit seinem nationalen Überbau einer historischen Entwicklung zu verdanken ist, keineswegs einer absoluten und unausweichlichen Notwendigkeit entspricht und auch heute durch viele nicht-nationalstaatliche Strukturen ergänzt und zuweilen herausgefordert wird. Die neue und außerordentlich fruchtbare Unordnung, welche die Globalgeschichte in das historische Denken gebracht hat, hat vielfache Möglichkeiten politischen Handelns und sozialer Gemeinschaften aufgezeigt, die außerhalb des Nationalstaates stattfanden (und -finden), neben ihm, gegen ihn oder gänzlich unabhängig von seinen Strukturen. Dabei geht es nicht nur um „exotische“ Fälle von nomadischer Migration im russländischen Reich des 18. Jahrhunderts, Südasien im 20. Jahrhundert oder einzelner Regionen im heutigen Südostasien.[10] Vielmehr ist gerade für die USA der Gegenwart deutlich gezeigt worden, wie heterogen, komplex und letztlich nicht-national (sondern „imperial“) hochwirksame moderne Machtstrukturen sein können.[11] Die Öffnung des Blicks über den Nationalstaat hinaus bringt zudem die Erkenntnis, dass Grenzen nicht nur in Form von nationalstaatlichen Grenzen existieren können, sondern auch auf andere Weise Gesellschaften strukturieren. Es mag fast banal klingen, aber es gibt jenseits des Nationalstaates mehr als nur Chaos. Angesichts der gegenwärtigen Diskussionen erscheint es allerdings doch nicht mehr so banal. Die von Sloterdijk reklamierte Absolutheit des Nationalstaates, der einziger Garant für eine funktionierende Politik und eine stabile Solidargemeinschaft sei, ist lediglich Zeichen dafür, wie sehr sich der politische Diskurs nach wie vor – oder möglicherweise erneut? – in der territorialen Falle befindet. Dabei hatten wir, so verrät die historische Perspektive, bereits Auswege aus dieser Falle gefunden. Und plötzlich erscheint die Geschichtswissenschaft gar nicht mehr als eine so konservative Disziplin, sondern als Basis und Argumentationspool für andere Ordnungen als nur die nationalstaatliche, welche sich aktuell als so hilflos und wenig zukunftsfähig zeigt. Der Ruf nach dem Schutz der Grenzen zeigt letztlich vor allem die Begrenzungen eines nach wie vor territorialen Denkens, in dem höchstens Goldfische unbehelligt von einem Glas ins andere wechseln dürfen.
[1] Nur ein Beispiel von vielen: Walter Mayr: Mauerfall 1989. Und plötzlich war ein Loch im Zaun, in: Spiegel online, 27.5.2009.
[2] Abandoned Checkpoints: Photographer documents Europe's forgotten borders.
[3] Hier ebenfalls nur zwei Beispiele: Wolfram Weimer: Schützt endlich unsere Grenzen, in: Handelsblatt, 23.10.2015; Thomas Gutschker: Drei Wege wie Europa seine Außengrenze schützen kann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung online, 28.2.2016.
[4] Alternative für Deutschland: Fragen und Antworten.
[5] Kulturzeit, 3SAT, 22.3.2016. Nicht mehr in der Mediathek verfügbar.
[6] Inhaltlich ähnlich, sprachlich noch deutlich schärfer, hatte sich Sloterdijk bereits zuvor in einem Interview mit der Zeitschrift Cicero geäußert: „Das kann nicht gut gehen“. Peter Sloterdijk über Angela Merkel, Die Flüchtlinge und das Regiment der Furcht, in: Cicero, 28.1.2016.
[7] Agnew, John: The territorial trap: the geographical assumptions of international relations theory, in: Review of International Political Economy 1(1994), Nr. 1, S. 53-80. Die Debatte wurde weitergeführt in Agnew, John: Still Trapped in Territory?, in: Geopolitics 15 (2010), Nr. 4, S. 779-784. Elden, Stuart: Die Entstehung des Territoriums, in: Erlangen Working Papers 1 (2011), S. 1-11.
[8] Biggs, Michael: Putting the State on the Map: Cartography, Territory, and European State Formation, in: Comparative Studies in Society and History 41 (1999), Nr. 2, S. 374-405.
[9] Die verschiedenen Ansätze nicht-nationaler Geschichte sollen hier weder klar voneinander abgegrenzt noch irgendwie hierarchisiert werden. Vielmehr erscheinen sie als unterschiedliche Ansätze mit ähnlichem Ziel: Problematisierung des Nationalstaats als zentrales Paradigma der Geschichtswissenschaft.
[10] Khodarkovsky, Michael: Bitter Choices. Loyalty and Betrayal in the Russian Conquest of the North Caucasus, Ithaca 2011; Schendel, Willem van: The Bengal borderland. Beyond state and nation in South Asia, London 2005; Scott, James C.: The Art of not Being Governed. An anarchist history of upland Southeast Asia, New Haven 2009.
[11] Hardt, Michael/ Negri, Antonio: Empire, Cambridge 2000; Stoler, Ann-Laura: On Degrees of Imperial Sovereignty, in: Public Culture 18 (2006), Nr. 1, S. 125-146.