von Claudia Kemper

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1. Dezember 2016

Wenn der nunmehr designierte US-Präsident Donald Trump während einer Wahlkampfveranstaltung Belgien von Brüssel nicht zu unterscheiden weiß und insgesamt ein eher schwaches geographisches Grundwissen zu erkennen gibt, können Europäer resigniert bis gelassen reagieren. Lausige Geographiekenntnisse gehören zu den eher kleineren Problemen dieser neuen Präsidentschaft. Dennoch passt es in das Gesamtbild, wenn ausgerechnet Belgien zum Opfer solcher Marginalisierungen wird, die auch auf dem europäischen Kontinent verbreitet sind. Die Frankfurter Buchmesse 2016 zum Beispiel warb für ihren Ehrengast „Flandern und die Niederlande“ mit dem Slogan „Dies ist, was wir teilen“ und begründete in einer Pressemitteilung, auf Grenzüberwindungen und Gemeinsamkeiten zu schauen, denn keine „Nation“ sei zu Gast, „sondern ein Sprach- und Kulturraum“.[1] Also Flandern statt Belgien, womit sich einige geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Fragen auftun, die über die Buchmesse hinausreichen. Denn während hier ein „Sprach- und Kulturraum“ imaginiert wird, geschieht dies durch gleichzeitige Marginalisierung des zwar kompliziert organisierten, aber nichtsdestotrotz existierenden belgischen Nationalstaates. Solche Abwägungen trifft man häufig in Berichterstattungen über Belgien, mit denen das Bild eines maroden Staates auf der einen Seite und eines irgendwie nachvollziehbaren, durch „gemeinsame Kultur“ gerechtfertigten Regionalismus auf der anderen Seite produziert wird. 

Abgesehen von der Tatsache, dass sich der Sprachraum zwischen Amsterdam, Brügge und Gent vor allem durch eine Vielzahl an Dialekten auszeichnet und in zahlreichen flämischen Landstrichen mitunter Französisch zu hören ist, wirft vor allem die Rede von dem einen Kulturraum Fragen auf. Nach welchen geographischen oder identitätspolitischen Maßstäben bemisst sich, jenseits der gemeinsam genutzten Schriftsprache, ein solcher „Kulturraum“? Der Buchmesse-Slogan „Dies ist, was wir teilen“ spielte sowohl auf eine substanzielle und überpolitische Verbundenheit zwischen den Bewohnern Flanderns und den Niederlanden an als auch auf die geteilte staatliche Grenze zwischen letzteren und Belgien. Aber hinter dieser nur auf den ersten Blick schlichten Doppeldeutigkeit offenbart sich ein Kaleidoskop undifferenzierter und ahistorischer Annahmen über Nation, Sprache, Kultur und Räume. Solche Tendenzen fragwürdiger Kultur- und Raumbegrifflichkeiten verweisen auf ein grundlegendes, nunmehr europäisches Problem. Denn offenbar gibt es eine Drift zwischen jenen Auffassungen, die das Movens gesellschaftlichen Zusammenlebens in den „Gemeinsamkeiten“ verorten, und jenen, die es in der unhintergehbaren Heterogenität der europäischen Gegenwart sehen. Zudem rufen Verweise auf „Kulturräume“ reflexartige Sympathien für europäische Regionalismen hervor, transportieren aber zugleich alle Versatzstücke eines nachweisbaren Nationalismus. Anders ausgedrückt: Phänomene des Nationalismus und des Regionalismus lassen sich nicht voneinander trennen, und eine ernsthafte Analyse muss das Konstrukt „Raum“ genauso beachten wie das der „Nation“. 

Die Inszenierung des Buchmesse-Ehrengastes bietet einen anschaulichen Zugang zum Problem. Denn die nach eigener Aussage größte internationale Kulturveranstaltung in Deutschland ruft die lose niederländisch-flämische Sprachgemeinschaft affektiv auf, blendet aber Jahrzehnte der deutsch-belgischen Geschichte, insbesondere in der Mitte des 20. Jahrhunderts, aus. Sicher, was einmal gut und erfolgreich verlief (1993), kann beim zweiten Mal nichts Schlechtes sein. Aber 23 Jahre europäische Erfahrung zu übergehen, um 2016 mit denselben Argumenten einem „Kulturraum“ den Hof zu machen, lässt sowohl die flämisch-niederländischen Bewerber als auch die deutschen Gastgeber wenig gut beraten erscheinen. Kaum überzeugen kann hier das Argument, die Buchmesse sei eine literarische und keine politische Veranstaltung. Denn vorrangig ist die Buchmesse eine ökonomische Veranstaltung mit vielen politischen Facetten. Die Ehrengäste stimulieren nicht immer zur politischen Debatte, aber als China (2009) oder die Türkei (2008) zu Gast waren, ergaben sich einige. Im Jahr 2005 hatten die Messeorganisatoren sowohl Süd- als auch Nordkorea eingeladen, um das Ehrengast-Programm zu bespielen, und ein Jahr zuvor präsentierte sich die „Arabische Welt“ mit 50 AutorInnen, um „die ‚Wertegemeinschaft‘ zwischen dem Westen und der arabischen Welt“ zu erneuern.[2] Zuletzt gastierte 2007 eine „imagined community“ in Frankfurt, die „Katalanische Kultur“, verbunden mit einigen Auseinandersetzungen in Spanien und kritischen Kommentaren im deutschsprachigen Feuilleton.[3] Alles ziemlich politisch. 

Mit dem Ehrengast reisen nicht nur Literaturproduzenten aus entfernten Regionen nach Frankfurt, sondern auch politische Geschichte und Gegenwart: eben das ganze Paket. Nun waren also „Flandern und die Niederlande“ zu Gast, aber für einen Aufreger hat es nicht gereicht. Die ausbleibende Problematisierung bestätigt ein wiederkehrendes Muster, wenn aus deutscher Perspektive auf Geschichtspolitik und Erinnerungskultur anderer, zumal „kleiner“ Länder geblickt wird: eine Kombination aus Vereinfachung und fehlendem Wissen.

Der 2012 an der Universität Paderborn eingerichtete Arbeitskreis Historische Belgienforschung ging in seinem letzten Workshop-Aufruf auf die zahlreichen Spekulationen ein, die nach den Terroranschlägen in Brüssel im März 2016 über den belgischen Staat kursierten: „Manche vorschnellen Urteile über das Land, vor allem die von jenseits der Landesgrenzen, verrieten, dass die Kenntnisse über unser Nachbarland, über seine jüngere Vergangenheit und seine ältere Geschichte, nach wie vor erstaunlich gering sind.“[4] Erstaunlich ebenfalls, wie die Wallonie in den Mittelpunkt des Interesses rückte, als es um die Entscheidung für ein Freihandelsabkommen ging, während die Sonderrolle Flanderns im Zusammenhang mit einer stark homogenisierenden Geschichtspolitik nicht der Rede wert war. 

Rollt man den Faden auf, stößt man auf gewisse Kontinuitäten. Tony Judt stellte unter dem Titel „The State of Belgium“ in der „New York Review of Books" im Dezember 1999 fest: „Belgium gets a bad press“, und der Impuls liegt nahe, auch im Jahr 2016 „and still“ zu ergänzen.[5] Charles Baudelaire habe geurteilt, so Judt, Belgien sei das, was aus Frankreich geworden wäre, hätte man es der Bourgeoisie überlassen, und Karl Marx verurteilte das Land als Paradies für Kapitalisten. Kaum ein anderer europäischer Staat hat ein ähnlich schlechtes Standing wie Belgien. Bis heute reichen in der Regel drei bis vier Schlagworte, um die überwiegende, zumindest überwiegend deutsche Sichtweise auf das Land zusammenzufassen: beleuchtete Autobahnen, Bier, Waffeln, Sprachenstreit. Und wer es genau zu wissen meint, weist auch noch auf ineffektive polizeiliche Strukturen hin, unter Beweis gestellt bei der Fahndung nach islamistischen Terroristen in jüngster Zeit oder bei den politischen Verstrickungen im „Fall Dutroux“ während der 1990er Jahre. 

Judts Vater war in Antwerpen geboren, er selbst verbrachte einige Zeit in der Nähe von Brügge, und es drängte den kosmopolitischen Intellektuellen mehr als einmal, über das seltsame Konstrukt Belgien nachzudenken. An ihm ließe sich erkennen, welche Gefahren „allen Staaten heutzutage drohen“[6], denn zwischen Regionalismus und Nationalismus verläuft oft nur ein schmaler Grat. Um diesen zu erkennen und zu problematisieren, muss Belgien im Kontext der Benelux-Länder und ihrer Geschichte verortet werden: Länder, die geographisch die „Niederen Lande“ in den Flussgebieten um Rhein, Maas und Schelde umfassen. Bis in die Frühe Neuzeit wurde das Gebiet abwechselnd von den Herzögen von Burgund, vom Haus Habsburg und dessen spanischer Linie regiert. Nachhaltig wirksame territoriale Teilungen begannen Ende des 16. Jahrhunderts. Die entstandenen „Südlichen Niederlande“ blieben noch bis Ende des 18. Jahrhunderts unter österreichischer Herrschaft; Anfang des 19. Jahrhunderts folgte schließlich die Errichtung eigenständiger Königreiche. Die Situation wurde nicht übersichtlicher, denn noch bis 1830 umfasste das „Königreich der Vereinigten Niederlande“ sowohl diese als auch das nachmalige Belgien und Luxemburg.[7] 

Im Jahr 1830 wurde Belgien, im Nachklang des Wiener Kongresses, als frankophoner Zentralstaat gegründet. Immer wieder überfallen und überzogen von Schlachtfeldern in allen Jahrhunderten blieb bis heute die kommunale Bindung seiner Bewohner stärker ausgeprägt als jede regionale oder nationale. Ursprünglich hatte die in Nordbelgien ansässige flämische Bewegung ähnlich wie andere volkspädagogische Bewegungen im frühen 19. Jahrhundert kulturelle Ziele verfolgt.[8] Diese Ziele verflochten sich zusehends mit weiteren Konflikten, die entlang der politischen Ausrichtung von Katholiken, liberalen Antiklerikalen und Sozialisten entstanden.[9] Nicht Auslöser, sondern Folge war die zunehmende sich vertiefende Sprachbarriere. Sprache war kein Politikum, sondern wurde zum Politischen schlechthin. 

Für das innerbelgische Gefüge hatten beide Weltkriege verheerende Folgen. Jeder Landesteil machte seine Erfahrungen mit Flucht, Tod, Besatzung, Kollaboration und Zwangsarbeit.[10] Wie 1914 marschierten auch 1940 deutsche Truppen in das neutrale Land ein, errichteten zunächst eine Militärverwaltung und 1944 schließlich die zivil verwalteten „Reichsgaue“ Flandern und Wallonien.[11] Die NS-Ideologie dockte an völkische flämische wie wallonische Bewegungen an und förderte sie. In seinem 1983 erschienenen Roman „Het Verdriet van België“ zeichnete der flämische Schriftsteller Hugo Claus die deutsche Besatzungszeit und zugleich das Bild von nach Eigenständigkeit und Einheitlichkeit suchenden belgischen Teilgesellschaften nach. Der Roman erschien 1986 in deutscher Übersetzung als „Der Kummer von Flandern“, 2008 folgte eine Neuausgabe unter dem korrekt übersetzten Titel „Der Kummer von Belgien“.[12] Auf Claus‘ als Klassiker geltenden Roman rekurrierend, hat sich mittlerweile der Verweis auf den „Kummer von Belgien“ als fester Ausdruck etabliert. Der britische Historiker und Belgien-Experte Martin Conway veröffentlichte 2008 „The Sorrows of Belgium“ über die Zeit zwischen 1944 und 1947, den Übergang von Kollaboration zur Rekonstruktion des belgischen Staates.[13] Die Interpretation dieser Phase bestimmt bis heute die Praxis der „conflicted memories“ in Belgien, denn sowohl Ausmaß von Kollaboration oder Widerstand in den verschiedenen Landesteilen wie auch Sanktionierungen in der Nachkriegszeit werden unterschiedlich bewertet bzw. dienen der einen wie anderen schon längst tradierten nationalen Narration: Während die Wallonen überwiegend im Widerstand aktiv gewesen seien, wären ausschließlich Flamen für ihre Kollaboration mit der deutschen Besatzung bestraft worden.[14] 

Andere AutorInnen verorten die Bruchstellen und „points of no return“ in anderen Phasen.[15] Vor allem der Erste Weltkrieg gilt als Höhepunkt eines belgischen Nationalismus und zugleich als radikalisierender Wendepunkt für die flämische wie wallonische nationalistische Bewegung. Der Demokratisierungsschub durch die eingeleitete Wahlrechtsreform sollte die Bevölkerungsteile gleichstellen, beförderte jedoch zugleich die Formierung und Fragmentierung politischer Bewegungen. Die Frage, ob die schwache staatliche Konstitution den Sprachkonflikt beförderte oder ob dieser maßgeblich die staatliche Zentralordnung aushöhlte, ist unter belgischen HistorikerInnen längst nicht hinreichend diskutiert. Offenbar konnte jedes demokratische Element, jede Politik der Gleichberechtigung und jede Quelle einer nationalen Identität einen gegenteiligen Effekt erzielen und den Staat fragmentieren. Erinnerung und Geschichtsschreibung gehören entsprechend zu den umstrittensten Feldern zwischen Wallonen und Flamen.

Zu dieser politischen Konstellation traten ab Ende der 1960er Jahre ökonomische Krisen und Strukturwandel: Das einstmalige Kapitalistenparadies in der Wallonie stellte die Stahl-, Kohle- und Textilproduktion ein, und in Flandern entfaltete sich eine erfolgreiche Dienstleistungsbranche. Gleichwohl unterschied sich dieser Strukturwandel von anderen europäischen Ländern, denn gleichzeitig traten maßgebliche Verfassungsänderungen in Kraft, die einen jahrzehntelangen Föderalisierungsprozess einleiteten. Die Regionen Wallonie, Flandern und Brüssel erhielten eigene Kompetenzen und setzten jeweils eigene Standards. Belgien ist also gefordert, in der Heterogenität seine Eigenständigkeit zu sehen – was die Mehrheit der Belgier jedoch längst zur Kenntnis genommen hat.

Das Auseinanderdriften der Regionen lässt sich bedauern, entlastet aber nicht von einer differenzierten Auseinandersetzung mit Belgien. Mehr noch: Die aktuelle politische Entwicklung darf nicht dazu führen, dass nationalistische (Selbst-)Beschreibungsmuster im Ausland wiederholt und vertieft und pars pro toto gesetzt werden. Nicht die flämische Erinnerung, nicht die wallonische Erinnerung macht Belgien aus, sondern der Tatbestand der „conflicted memories“. Positiv gewendet lässt sich Belgien auch als Eldorado sehen, in dem Mechanismen und Bedeutungen konfligierender Identitätspolitiken und Erinnerungen erforscht werden können, wie sie uns im weltweiten Maßstab zunehmend beschäftigen.

Es gibt gute wissenschaftliche und politische Gründe, Belgien in seiner fragmentierten, aber vor allem gesamten Phänomenologie Aufmerksamkeit zu schenken.

 

*Aussage von Donald Trump während einer Wahlkampfveranstaltung in Atlanta, Georgia im Juni 2016. Vgl. „Donald Trump: ‘Belgium is a beautiful city’. At least it’s better than being called a ‘hellhole.’”, in: Politico (16.06.2016). 

 

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[1] Pressemitteilung der Frankfurter Buchmesse 2016. 
[2] „Du hast keine Chance, aber nutze sie”, in: DER SPIEGEL (25.6.2004). 
[3] „Der Kulturraum Katalanien ist Gastland der Buchmesse in Frankfurt – eine von zwei Sprachen“, in: Berliner Zeitung (10.10.2007). 
[4] 4. Workshop des Arbeitskreises Historische Belgienforschung. Siehe auch: Sebastian Bischoff / Christoph Jahr / Tatjana Mrowka / Jens Thiel (Hg.), „Belgica – terra incognita? Resultate und Perspektiven der historischen Belgienforschung“, Münster / New York 2016.
[5] Tony Judt, „The State of Belgium”, in: The New York Review of Books, Dezember 1999. Auf Deutsch: „Der staatenlose Staat – warum Belgien wichtig ist“, in: Tony Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, Bonn 2010, S. 234-249.
[6] Judt, „Der staatenlose Staat“, S. 234.
[7] Michael Erbe, „Belgien und Luxemburg“ (= Die Deutschen und ihre Nachbarn), München 2009.
[8] Erbe, „Belgien und Luxemburg“, S. 30.
[9] Judt, „Der staatenlose Staat“, S. 236.
[10] Die ohnehin benachteiligten Flamen waren größtenteils von der deutschen Invasion im August 1914 betroffen, über 100.000 Bewohner der (flämischen) Provinz Antwerpen flohen in die Niederlande (Erbe, „Belgien und Luxemburg“, S. 18). Aufgrund der konfessionellen Unterschiede zwischen den vorwiegend protestantischen Niederländern und den katholischen Flamen waren die Flüchtlinge jedoch nicht automatisch willkommen.
[11] Erbe, „Belgien und Luxemburg“, S. 19.
[12] Hugo Claus, „Het Verdriet van België“, Amsterdam 1983. Auf Deutsch „Der Kummer von Flandern“, übersetzt von Johannes Piron, Stuttgart 1986; „Der Kummer von Belgien“, übersetzt von Waltraut Hüsmert, Stuttgart 2008. Ich verdanke den Hinweis Sabine Lammers, literarisch umfangreich bewanderte Lektorin der Hamburger Edition.
[13] Martin Conway, „The Sorrows of Belgium: liberation and political reconstruction 1944-1947“, Oxford 2012.
[14] Vgl. auch die Konzeptionierung „Conflict and Memories in Belgium“ im Rahmen des nationalen Forschungsförderprogramms BRAIN-be (Belgian Research Action through Interdisciplinary Network, pdf).
[15] Bruno de Wever / Chantal Kesteloot, „When was the end of Belgium? Explanation of the past“, in: Journal of Belgian History, 2012/4, S. 218-234.