von Bastian Högg, Niklas Löffler

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20. Dezember 2017

Der Dritte Weltkrieg werde, so prognostizierte der Journalist Paul Kohl im Herbst des Jahres 1984, auf westdeutschem Boden stattfinden. Und der Ort der Handlung, das Schlachtfeld dieser Auseinandersetzung, werde die Region um die osthessische Stadt Fulda sein, eingerahmt durch Kassel im Nordosten, Köln im Nordwesten sowie Schweinfurt und Kaiserslautern im Süden.[1] Dieser Vernichtungskrieg konnte seit 1977, seit die Konfliktsimulation Fulda Gap – The First Battle of the Next War durch die New Yorker Spieleschmiede Simulations Publications Inc. (SPI) veröffentlicht wurde, in Kinderzimmern, an Wohnzimmertischen und in Kasernen durchexerziert werden.

Der nukleare und biochemische Weltkrieg war somit keine Angelegenheit der Generalstäbe der Blockmächte mehr, sondern konnte auf einem 56x85 Zentimeter breiten Spielbrett aus kunststoffbeschichtetem Papier gespielt werden (vgl. Abb. 1).

 

Abb. 1: Die Karte unterteilt das Spielfeld, das die Region um Hessen abbilden soll, schmucklos und kühl in zahlreiche Hexagone, auf denen die SpielerInnen ihre jeweiligen Aktionen durchführen können.

 

Da Fulda Gap die SpielerInnen in einen zwar hypothetischen, aber in der Gegenwart angesiedelten Konflikt versetzte, unterschied es sich deutlich von früheren Titeln der auf historische Szenarien spezialisierten Spielefirma. Zugleich aber stellte die Simulation keineswegs alleine die spielerische Abbildung kollektiver Erwartungen dar: Auch der Realitätsanspruch war außergewöhnlich. Die SPI-SpielentwicklerInnen um Chefdesigner James Dunnigan konzipierten ihre Spiele derart minutiös, dass diese den amerikanischen Streitkräften mitunter auch als militärische Planspiele dienten.[2]

Da möglichst viele verschiedene, authentische Szenarien abgebildet werden sollten, bedienten sich die EntwicklerInnen wehrtechnischer Daten aus militärischen Hand- und Lehrbüchern  wie dem Taschenbuch der Landstreitkräfte oder auch dem Field Manual for Nuclear Weapons Employment Effects Data.[3] Der militärische Charakter dominiert das Spiel: In Spielzügen, die jeweils 24 Stunden Echtzeit simulieren sollen, streiten die KontrahentInnen nach dem Schema von Aktion und Reaktion um die Oberhand auf dem Schlachtfeld. Das Spielfeld, aufgeteilt in Hexagone nach dem Vorbild militärischer Karten der NATO (North Atlantic Treaty Organization), bietet den Rahmen für die militärische Eskalation.[4]

Dabei stehen den SpielerInnen sämtliche militärische Mittel zur Verfügung, über die auch die Truppen des Warschauer Paktes und der NATO in der Realität verfügten. Das Arsenal rangiert von konventionellen Streitkräften (Bodentruppen, Luftwaffe) bis hin zu biochemischen und nuklearen Gefechtsköpfen, die eine totale militärische Eskalation erlauben. Selbst der Tod von ZivilistInnen wurde miteinkalkuliert: Auf der Karte liegen Ballungszentren wie Frankfurt am Main und Mainz in Reichweite der nuklearen Raketenartillerie rund um die Standorte Bad Kreuznach und Worms.[5] Eingeordnet wurden diese zivilen Verluste nicht. An keiner Stelle sind mögliche Konsequenzen des Krieges im Regelwerk aufgeführt; Auswirkungen auf die Siegbedingungen des Szenarios haben sie ebenfalls keine.

 

Abb. 2: In zahlreichen ‚gegenöffentlichen‘ Publikationen der osthessischen Friedensbewegung wurde der Schriftzug des Spiels mit Raketensilos, militärischen Depots und den Truppenstandorten kontrastiert abgedruckt.[6]

 

In Westdeutschland erfuhr das Spiel trotz seiner Dialektik der Zerstörung noch bis in die Herbstmonate des Jahres 1981 keine Beachtung: Vor dem Hintergrund einer wachsenden Friedensbewegung popularisierte besonders der Fuldaer Pädagoge Peter Krahulec die dem Spiel zugrundeliegenden militärstrategischen Doktrinen der NATO zur Abwehr des Warschauer Pakts an der Fulda-Bresche; in diesen war der Gebrauch nuklearer oder biochemischer Waffen ausdrücklich vorgesehen.[7] Neben dem CBS-Dokumentarfilm The Defense of the United States, der dieses Szenario vor einem amerikanischen Publikum ausbreitete und seit 1982 auch in der Bundesrepublik eine breitere Rezeption fand, wurde Fulda Gap so zu einem Symbol für die drohende Zerstörung Mitteleuropas.[8] Das Spiel wurde als ein Lehrmaterial der organisierten Friedlosigkeit gedeutet, als „theoretische Übung, als Schulung im taktischen Denken“ zu der die amerikanischen Soldaten angehalten seien.[9] Dementsprechend wurde der Schriftzug des Spiels oftmals in ‚gegenöffentlichen‘ Publikationen verwendet, um zusammen mit Daten oder Bildern die „Hypermilitarisierung“ Osthessens zu belegen (vgl. Abb. 3). Umgekehrt galt die Simulation innerhalb der Friedensbewegung bald als Instrument, das den atomaren Vernichtungskrieg begreifbar machen konnte: Denn das Spiel erlaubte, so eine Broschüre der Partei Die Grünen, das unbescholtene Durchspielen des atomaren, chemischen und konventionellen Untergang[s].[10]

Der Begriff Fulda Gap wurde innerhalb von zwei Jahren zum Synonym für die atomare Bedrohung, The First Battle of the Next War zum geflügelten Wort unter friedensbewegten Organisationen.[11] Zugleich avancierte die osthessische Region um Fulda zu einem Symbol der drohende[n] atomare[n] Zerstörung der beiden deutschen Staaten. Damit unterstützte das Spiel – von den SpielentwicklerInnen ungewollt – die westdeutsche Friedensbewegung bei der kulturellen Verankerung des Fulda Gaps als einem authentischen Ort der atomaren Bedrohung.[12] Diese Symbolkraft blieb auch innerhalb der historischen Forschung nicht unbemerkt: Die Simulation gilt in der Geschichtswissenschaft als Paradigma eines grotesken Erwartungshorizontes, in dem der atomare Vernichtungskrieg zugleich Baustein militärischer Drehbücher und alltagsweltlichen Erlebens darstellte.[13]

 

 

[1] P. Kohl, Fulda Gap. Eine Reportage über die Militarisierung in Deutschland, Göttingen 1984, S. 49.

[2] P.H. Jachimiak: Tanks, Terrain and Black Horses. The Intra-German Border, Mitteldeutschland and Third World War Cultural Texts, in: European Journal of Cultural Studies 14, 3 (2011), S. 339-354, S. 345f.

[3] Fulda Gap. The First Battle of the Next War. Rules of Play. New York 1977, S. 2.

[4] Kohl: Militarisierung, S. 49.

[5] H. Hansen: Die strategischen und operativen Überlegungen der NATO für Mitteleuropa seit den späten 1970er Jahren, in: D. Krüger (Hg.): Schlachtfeld Fulda Gap. Strategien und Operationspläne der Bündnisse im Kalten Krieg. Fulda 2014, S. 74-86, S. 74.

[6] Diese Abbildung findet sich in mehreren Publikationen, der früheste bekannte Abdruck war in: Neue Hanauer Zeitung in Zusammenarbeit mit den Friedens-Initiativen Osthessen (Hg.): Warum ausgerechnet Hessen. Hanau – Gelnhausen – Fulda – Giessen. Neue US-Militär-Strategien am Beispiel Ost-Hessen. Hanau 1983, S. 60.

[7] Zur zivilgesellschaftlichen Aufarbeitung des Fulda Gaps vgl. K.H. Braun/F. Dölker: Stadtporträt Fulda. Eine dialogische Sozialreportage. Baltmannsweiler 2017, S. 166; H. Hammerich: Fulda Gap. Ein Brennpunkt des Kalten Krieges zwischen Mythos und Wirklichkeit, in: Krüger (Hg.), Schlachtfeld Fulda Gap, S. 12-48, S. 14-30.

[8] S. Schregel: Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik. Darmstadt 2010, S. 164-184.

[9] Kohl: Militarisierung, S. 92.

[10] Vgl. Bundesgeschäftsstelle der Grünen (Hg.): ‚… von einem offensiven Geist geprägt‘. Air Land Battle. Manöverbehinderung und Menschennetz im Fulda Gap. Bonn 1985, insbesondere S. 1, S. 24.

[11]  Unter den vielen Belegen vgl. insbesondere: Antimilitarismus Komission (Hg.): NATO-Herbst-Manöver. Fulda Gap. Hildesheim 1984; R. Giefer/T. Giefer/P. Krahulec: Zielgelände. Notizen aus dem Fuldatal. HR 1984/1985; Friedensbüro Osthessen (Hg.): Fulda-Gap. Hier könnte der dritte Weltkrieg beginnen. Fulda 1985.

[12] Hammerich: Fulda Gap, S. 33.

[13] Vgl. E. Conze/M. Klimke/J. Varon: Introduction. Between Accidental Armageddons and Winnable Wars. Nuclear Threats and Nuclear Fears in the 1980s, in: dies. (Hg.): Nuclear Threats, Nuclear Fear, and the Cold War of the 1980s. New York 2017, S. 1-23, hier S. 1; Schregel: Atomkrieg, S. 164-184.