von Tobias Meßmer

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20. Dezember 2017

Mit Theatre Europe veröffentlichte das britische Spieleunternehmen Personal Software Service (PSS) 1985 ein Strategiespiel, das innerhalb Europas für Furore sorgte. Die rundenbasierte Konfliktsimulation, in der die SpielerInnen entweder die Rolle der NATO oder die des Warschauer Pakts übernehmen, konfrontierte diese mit dem virtuellen Szenario eines „heißen“ Krieges in Mitteleuropa. Ziel des Spiels war es, die Bundesrepublik 30 Tage lang zu verteidigen (NATO) oder sie in derselben Zeit einzunehmen (Warschauer Pakt). Das Ausspielen des Konflikts im Rahmen des Mediums Spiel war keine gänzlich neue Erfindung: Auch das Computerspiel Reforger ’88: NATO Defense of the Fulda Gap von 1984 oder das Brettspiel Fulda Gap  hatten dasselbe Thema zum Inhalt. Beide Titel wurden aber zunächst nur in den USA veröffentlicht. Folgerichtig war Theatre Europe eines der ersten Spiele, das eine öffentliche Debatte zu diesem Thema in Westeuropa auslöste. Im Jahr 1986 startete der Verkauf des Spiels in Frankreich, und auch den deutschen SpielerInnen sollte das Produkt nicht vorenthalten werden. In der Bundesrepublik wurde das Spiel jedoch noch vor Erscheinen von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert, sodass es keinen breiten Vertrieb fand. Erst im Jahr 2011 wurde Theatre Europe wieder vom Index genommen.

Der Hintergrund für den rigorosen Umgang der deutschen Behörden und die in Westeuropa verbreitete Kritik am Spiel wird deutlich, wenn man den historischen Kontext betrachtet: In der Phase des „Zweiten Kalten Krieges“, die etwa von 1975 bis 1985 verortet werden kann[1], musste das Spiel wie eine Provokation erscheinen. Die Möglichkeit im Spiel, Atomwaffen einzusetzen, war für die KritikerInnen ein deutliches Zeichen dafür, dass hier kriegstreiberische Intentionen verfolgt wurden. So äußerten sich laut PSS-Gründer Richard Cockayne im Jahr 1985 sowohl die britische Friedensbewegung Campaign for Nuclear Disarmament als auch die Zeitung The Sun kritisch gegenüber Theatre Europe.[2] Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die SpielerInnen erst mittels Anruf bei einer Hotline den Abschusscode für die Atomwaffen erhielten. Im Verlauf dieses Anrufes erklärte eine Bandansage die schwerwiegenden Folgen eines Atomangriffs. Dadurch sollten die SpielerInnen für die Thematik eines nuklearen Krieges sensibilisiert werden.[3] Die Möglichkeit, die Truppen des Warschauer Pakts zu spielen, erfüllte allerdings auch nicht die gewünschte Wirkung, vielmehr wurde dem Spiel – aufgrund der Aggressorrolle der Paktstaaten – von der Bundesprüfstelle „Schwarz-[W]eiß-Malerei“[4] vorgeworfen. Der Indizierungsbericht fokussierte aber vor allem die aggressionsfördernde Wirkung des Spiels auf Kinder und Jugendliche, die durch die Action-Screens, einem optionalen Mini-Spiel, bei dem feindliche Truppen abgeschossen werden müssen, noch verschlimmert würde.[5] Weiterhin attestierte der Bericht „keine friedensstiftende Wirkung, sondern […] im Gegenteil eine Perfektionierung im Einsatz von Gewalt“[6]. Deutlich positiver äußerte sich dagegen die Fachpresse: Das Spiel erhielt vielfach gute Bewertungen und erntete nur selten Kritik, wie im Falle der Computerspielezeitschrift ASM, die „die zynische ‚Musikbeigabe‘ von John Lennon’s Hit“[7] Give Peace a Chance bemängelte, welcher im Startmenü zu hören ist.

Dennoch können den Machern von Theatre Europe nur schwerlich kriegsverherrlichende Intentionen unterstellt werden: So sind im Handbuch vielfach Bekenntnisse zum Frieden zu finden, wenn sich das Designerteam um Alan Steel klar von einem möglichen Dritten Weltkrieg distanziert.[8] Weiterhin konnte das ebenfalls von PSS entwickelte Conflict: Europe – in dem das gleiche Szenario aufgegriffen wurde – 1989 problemlos in Deutschland erscheinen, und die ASM ging sogar so weit zu betonen, dass der Grundgedanke, aus Europa einen (atomaren) Kriegsschauplatz zu machen obsolet, veraltet“ sei.[9] Trotzdem musste das Spiel in den Jahren 1985/86, als der Kalte Krieg in den letzten Zügen seiner zweiten „heißen Phase“ lag, als aggressiv oder gar kriegsverherrlichend wahrgenommen werden. In diesem Zusammenhang ist nicht auszuschließen, dass sich das Spieleunternehmen PSS gerade aus diesem Grund für den Kalten Krieg als thematischen Rahmen entschieden hatte, um so die Werbetrommel zu rühren.

 

[1] P. Gassert/T. Geiger/H. Wentker: Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung: Einleitende Überlegungen zum historischen Ort des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, in: dies. (Hg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive. München 2011, S. 7-29, hier S. 13.
[2] Vgl. Interview mit PSS-Gründer Richard Cockayne im Artikel Generals, wizards and a whiff of garlic, in: Your Computer 6 (13. Juni 1986), S. 84-85, hier S. 84: „CND accused us of bad taste with Theatre Europe but did not look at the product.“
[3] Ebd.: „[…] before you could order a strike you had to ring our answerphone […] which had a message explaining the real-life consequences of such a decision.“
[4] Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften: Entscheidung Nr. 2675 (V) vom 26.09.1986, S. 3.
[5] Ebd. Unterpunkte 6 bis 9, S. 4-6.
[6] Ebd. S. 6.
[7] F. Brall: Wir „üben“ den ATOMKRIEG, in: ASM (3/1986).
[8] Personal Software Service: Theatre Europe. Instruction Booklet. Coventry 1985, S. II: „THIS PROGRAM IS DEDICATED TO THE PEOPLE OF THE WORLD IN THE HOPE THAT THE GAME IS NEVER PLAYED FOR REAL. ALAN and FRIENDS, MARCH 1985.“
[9] M. Kleimann: Was wäre wenn?, in: ASM (10/1989).