von Martina Weibel

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27. Januar 2020

Im Gedenken an Schoschana Rabinovici, die am 2.8.2019  in Tel Aviv verstarb.

 

Schoschana Rabinovici hat als Kind den nationalsozialistischen Terror in Litauen überlebt. Lange Zeit sprach sie nicht über die Verfolgung. Erst Jahrzehnte später unternahm sie eine Reise in ihre verschollene Kindheit, kehrte an die Orte der Vergangenheit zurück.

Diese Orte, zerstörte Plätze, Ruinen, Vergessenes, wurden für sie zu den Zeugen, die es ihr ermöglichten, die eigene Geschichte beschreibbar zu machen. Aus den Albtraumbildern, die ihr Leben begleiteten, konnten Sprachbilder werden.

 

 
 

 

„Dann war ich schon ein Ghettokind.“

© Martina Weibel

 

Martina Weibel: Frau Rabinovici, an einer Stelle in Ihrem Buch schreiben Sie: „Von diesem Tag an, hörten wir Kinder auf zu spielen“. Bedeutete dieser Tag das Ende Ihrer Kindheit?

Schoschana Rabinovici: Ja, das war in der Wohnung meines Großvaters, unsere eigene Wohnung war schon beschlagnahmt. Der größte Teil unserer Familie lebte hier, eine große Familie. Da war eine ‚Aktion‘. Die Chappers, eine Art litauische Polizei, liefen die Treppe herauf und suchten Männer. Mein Großvater, mein Stiefvater Julek und meine Onkel rannten die Hintertreppe hinunter und eine Familie im Haus hat sie versteckt. Wir, die Kinder, wurden ins Badezimmer gebracht. Es war eine furchtbare Stimmung, eine sehr gedrückte Stimmung. Als wir wieder heraus durften, haben wir nicht mehr gesungen und gespielt, wir waren zutiefst erschrocken. Es blieb so eine Stille im Haus und eine andere Kindheit begann sich zu entwickeln, eine reale, harte Kindheit. Obwohl ich noch lange glaubte, es sei ein Spiel, nicht real. Ich war ja erst acht Jahre alt. Als man mir erzählte, dass mein Vater von den Deutschen weggeführt worden war, hab ich lange Zeit gesagt: Ach ja, das ist gut, dann ist er irgendwo aufgehoben, dann ist er nicht draußen, wo geschossen wird. Ich habe nicht verstanden, dass das viel schlimmer war.

 

Martina Weibel: In Ihrem Buch thematisieren Sie den Verlust Ihres Vaters in einem Gedicht. Ihre Gedichte, die Sie heimlich im Ghetto und in den Lagern schrieben oder auch die Lieder, die Sie, das kleine Kind, den erwachsenen Frauen vorsangen, war das für Sie eine Rettung, eine geistige Rettung?

Schoschana Rabinovici: Genau das, die Lieder haben dem Geist sehr viel geholfen. Das ist sehr wichtig. Es gab eine Diskussion im Ghetto in Wilna, soll man Theater machen oder darf man das nicht. Meine Mutter hat mich immer zum Theater mitgenommen, obwohl ich ein kleines Kind war. Nicht zu den ernsten Stücken, aber zu den Revuen, wo man viel gesungen hat und gelacht. Ich habe diese Lieder gelernt und im Ghetto auch im Chor gesungen.

Diese Lieder habe ich den Frauen im Lager vorgesungen. Das half, sich an die Vergangenheit, an ein normales Leben zu erinnern. Auch wenn die Lieder aus dem Ghetto teilweise sehr traurig sind, sagen sie doch auch: Wir sind noch da!

Ich behaupte, nun, wir haben nie mit dem Gewehr in der Hand gekämpft, aber jeder Widerstand, der sich gegen den Willen des Naziregimes richtete, ist Widerstand, wenn er auch passiv ist. Diejenigen, die überleben wollten und um das Leben gekämpft haben, das war der Widerstand und das war auch der Sieg.

 

Martina Weibel: Nach der Befreiung schreiben sie aber nicht mehr, erst über 50 Jahre später kehren Sie noch einmal in Ihre Kindheit zurück. Für Ihr Buch mussten Sie eine sehr lange Zeit des Schweigens überwinden. Liegt in diesem langen Schweigen einer der Gründe, warum Sie Ihr Buch nicht aus einer Erwachsenenperspektive, sondern aus der Sicht des Kindes schrieben?

Schoschana Rabinovici: Ich konnte das Buch nicht aus einer Erwachsenenperspektive schreiben. Ich hätte verurteilen oder beurteilen müssen, hätte Stellung nehmen müssen. Das wollte ich nicht, ich wollte es nur als Erinnerung schreiben. Da ich glaube, der Leser sollte Stellung beziehen, habe ich aus der Kindperspektive, so wie ich es empfunden habe, geschrieben. Es war auch eigentlich gar nicht als Buch, sondern als Erinnerung für meine eigenen Kinder, als Nachlass, gedacht, weil wir zu Hause darüber nicht sprachen. In meiner Familie war das so, dass meine Mutter sagte: ‚Wir haben die Knochen gerettet und jetzt müssen wir unsere Seele retten‘. Und die Seele zu retten, das hieß für mich, dass ich zu lernen hatte, mich in einer normalen Welt zu verhalten und zu fügen. Ich hatte schon viel mehr erlebt und gesehen, musste aber das Kindliche wieder annehmen und durfte nicht über die Vergangenheit sprechen. Das war sehr schwer zu bewältigen.

 

Martina Weibel: Heißt das, es wurde Ihnen ausdrücklich verboten?

Schoschana Rabinovici: Ausdrücklich verboten, meine Mutter hat es mir ausdrücklich verboten. Sie hat mit mir nie darüber gesprochen, auch nicht mit anderen. Es war vorbei. Das haben wir immer wieder gesagt, wir haben die Tür hinter uns geschlossen.

Natürlich haben wir Literatur gelesen oder Filme gesehen, aber jede nur für sich. Wir haben nie besprochen, was wir gemeinsam gesehen oder gelesen hatten. Wir haben nur ab und zu einen kleinen Kommentar abgegeben: ‚Es war schlimmer, na, so war das nicht‘. Manchmal gab es einzelne Worte, die uns an etwas erinnert haben, das war wie eine Geheimsprache. Aber das war alles. Nichts mehr. Es hieß, man kann vergessen. Heute weiß man, dass man es nicht vergessen kann.

 

Martina Weibel: Gab es für Sie einen konkreten Auslöser, dann doch zu sprechen?

Schoschana Rabinovici: Es gab schon früh einen Druck, ein Bedürfnis. Ich habe nach der Befreiung in Polen in Bialystok begonnen, ein Gedicht in Jiddisch über meinen Vater zu schreiben, aber nachdem meine Mutter das gesehen hat und einen Skandal machte, habe ich aufgehört.

Viel später, als sich eine Gelegenheit bot, mit meinem Mann nach Wilna zu fahren und erst nach dem Tod meiner Mutter, kam dieses Bedürfnis mich mitzuteilen zurück. Wir sind in Wilna angekommen an einem 6. September, das war das Datum, an dem wir damals ins Ghetto gingen, und da kam alles hoch. Davor gab es nur eine Bilderinnerung, Worte waren nicht da.

Ich musste aber auch sicher sein, dass das, was ich mitteilen möchte, richtig ist. Ich wollte ja mit fünfundfünzig Jahren erzählen, was ich erlebt hatte im Alter zwischen acht und zwölf. Da war niemand, der mir sagen konnte, das war so und so, niemand der mich korrigieren konnte. Ich fand dann in Wilna unsere Straße, unser Haus und auch den Hof, der ganz zerstört war. Ich wusste aber, da war ein Mosaik gewesen. Wir haben Schutt weggeräumt und Teile des Mosaiks gefunden, das hat mich bekräftigt, wie präzise ich mich an alles erinnere.

 

Martina Weibel: Sie haben Ihre Erinnerung wie ein Mosaik zusammengesetzt?

Schoschana Rabinovici: Die Erinnerung war wie ein Mosaik. Wir sind zum Beispiel nach Stutthof gefahren und da fehlte mein Formular. Das Formular meiner Mutter war da und das meiner Stiefschwester, aber meins nicht. Ich habe bemerkt, dass zwischen den beiden Formularen eine Nummer fehlte. Ich habe um diese Nummer gebeten und es war tatsächlich meine, mein Formular, aber mein Name darauf war: Susanna Rauch, 18 Jahre alt, geb. in Bialystok. Nun ich war zwölf und bin in Paris geboren, unten war eine Unterschrift, so wie ein Kind das schreibt: Susie Rauch. Meine Mutter hatte das ausgefüllt und sich einen Lebenslauf ausgedacht. Wir durften ja nicht Mutter und Tochter sein, das hätte den Tod bedeutet. Das war mein Weg des Erinnerns. Wieder hatte ich einen Teil gefunden und geborgen.

 

Martina Weibel: Hat Ihnen erst das Aufsuchen der Orte der Vergangenheit ermöglicht, aus ihrer Bilderinnerung eine Spracherinnerung zu machen?

Schoschana Rabinovici: Alles im Buch beruht auf Bildern. Als ich nach Hause kam, habe ich mir ganz einfache Schulhefte gekauft und habe angefangen zu schreiben: Bilder, die überhaupt keine Reihenfolge hatten. Dann sind plötzlich Namen zurückgekommen. Das war ein Phänomen. Ich hab geschrieben und ich wusste nicht, was ich schreibe und plötzlich wusste ich ganz genau, der hieß so und so. Plötzlich habe ich mich erinnert, da war eine „Kinderaktion“, und dann daran als meine Mutter krank war und dieses furchtbare Loch im Fuß hatte ...

 

Martina Weibel: Und das war vorher weg?

Schoschana Rabinovici: Sicher, wir haben nicht gesprochen darüber.

 

Martina Weibel: Ja, es war nicht in der Sprache, aber es war doch in Ihrer Seele?

Schoschana Rabinovici: In meiner Seele waren Träume. Zum Beispiel habe ich sehr oft geträumt von der Überfahrt mit diesem Schiff[1], all dieser Schmutz und dieses Erbrechen, das ist unvorstellbar. Ich hab immer wieder geschrien und, wenn ich geschrien habe, hat man mich geweckt. Nun, wo endet der Traum, wo beginnt die Wirklichkeit? Nur wenn ich am historischen Ort war, hab ich gewusst, dieser Teil ist Traum, aber das nicht, das war Wirklichkeit.

 

Martina Weibel: Darf ich doch noch einen Moment beim Problem Sprache bleiben. Sie wollten Ihre Erinnerungen versprachlichen und hatten dafür nur die Erfahrungswelt eines Kindes. Empfanden Sie das eher als Schutz, um zu einer eigenen Sprache zu finden, oder blieb das Gefühl der Sprachlosigkeit?

Schoschana Rabinovici: Ob es ein Schutz war? Ja, das glaube ich schon. Ich hatte diese Bilder, wie sie ein Kind eben hat, um mit seinen Vorstellungen eine Situation zu verstehen.

Es gibt zum Beispiel ein Bild, das mir bis heute in den Augen ist. Als diese „Altenaktion“ im Ghetto war, da war dieser Ukrainer, er war groß, hat nach Alkohol gerochen und hatte einen Stock in der Hand. Und ich lag in meinem Stockbett im zweiten Stock versteckt. Ich habe bis heute dieses Bild von einem Ungeheuer mit einer Keule. Diese kindlichen Bilder sind geblieben.

Ich konnte die Erinnerungen schreiben, weil ich dachte, ich schreibe das für nur mich, das wird niemand lesen, nun, meine Söhne, aber sonst niemand. Ich traue mich nicht zu schreiben, weil ich keine Sprache habe. Es ist ein Problem, weil ich immer von einer Sprache zur anderen gegangen bin. Ich habe begonnen mit Jiddisch, dann Polnisch, ein bisschen Litauisch und Russisch, dann Deutsch und so immer weiter. Alles ein bisschen. Überall habe ich keine Wurzeln.

 

Martina Weibel: Diese kindlichen Bilder zurückzuholen, sie erinnerbar zu machen, hat das für Sie bedeutet, diese zu zähmen, nicht mehr so ausgeliefert zu sein?

Schoschana Rabinovici: Nein, ich habe der Erinnerung freien Lauf gelassen, nachdem ich die Orte aufgesucht hatte. Eine ganz kleine Sache dazu. Ich war auf den Galapagos, es war eine wunderschöne Reise, ich hatte mir das gewünscht zum Geburtstag. Wir waren da mit einer österreichischen Gruppe, es war wunderbar. An einem Abend haben wir ein Essen bekommen, da waren als Beilage solche Scheiben, von denen kein Mensch wusste, was das ist. Und jeder hat gemacht: Bäh, was ist das für eine komische Geschichte?“

Ich hab’s gekostet, es waren Zuckerrüben. Ich habe diesen Geschmack fünfzig Jahre nicht gespürt. Alle haben es auf dem Teller gelassen und ich habe nur herausgeschrien: ‚Zuckerrüben‘. Das ist für mich der Weg von der Arbeit nach Stutthof, da hat man sich bemüht, eine Zuckerrübe zu organisieren. Ich habe sie aufgegessen. Ich war schon nicht mehr auf den Galapagos, ich war dort. Es ist der Körper, der die Erinnerung zurückbringt: ein Geruch, ein Geschmack, eine Geste, ein Geräusch.

 

Martina Weibel: Frau Rabinovici, ich bedanke mich sehr für das Gespräch.

 

Erstveröffentlichung: Frankfurter Jüdische Nachrichten, Oktober 2005, 46. Jahrgang Nr.112.

 


[1] Anm.: Schoschana Rabinovici bezieht sich auf die Überfahrt über das baltische Meer 1944 nach der Evakuierung des Lagers Kaiserwald. Die Inhaftierten waren tagelang ohne Nahrung und Wasser im Bauch des Schiffes eingeschlossen.