von Alexander Friedman

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11. Mai 2021

(Der Beitrag wurde in Co-Autor*innenschaft mit einer belarusischen Wissenschaftlerin verfasst.)

 

Für Sjarhej Drasdouski und andere Menschen mit Behinderung, die vom Lukaschenka-Regime verfolgt wurden und werden.

Die Industriestadt Schlobin (Gebiet Homel) liegt im Südosten der Republik Belarus und galt im August 2020 als eine der Hochburgen der Protestbewegung gegen das Lukaschenka-Regime. Zwei der vielen Schlobinern und Schlobinerinnen, die sich gegen die Diktatur auflehnten, waren der 18-jährige Jauhen Kachanouski und der drei Jahre ältere Dzmitryj Hopta. Am 5. Februar 2021 wurden sie wegen Beteiligung an „schweren Unruhen“ und „Widerstand gegen die Miliz (Polizei)“ vom Rayongericht Schlobin zu einer Haftstrafe verurteilt: Kachanouski, der noch im August festgenommen worden war, soll dreieinhalb Jahre im Gefängnis verbringen; Hopta, der vor dem Prozess auf freiem Fuß geblieben war, zwei Jahre. Obschon Hopta milder als Kachanouski bestraft wurde, rückte vor allem der 21-jährige Schlobiner ins Blickfeld belarusischer Medien: Die in Schlobin als regimetreu und hart bekannte Richterin Iryna Pradun stellte sich auf die Seite des wenig überzeugenden Staatsanklägers Andrej Anoschka, der die drastischen Haftstrafen für die Angeklagten (dreieinhalb Jahre für Kachanouski und zweieinhalb Jahre für Hopta) gefordert hatte. Während Kachanouski seine Schuld bestritten und außerdem über polizeiliche Folter berichtet hatte, zeigte sich Hopta reumütig, wodurch seine Haftstrafe etwas verkürzt wurde. Hoptas geistige Behinderung und die Tatsache, dass sich der Beschuldigte seit Jahren in psychiatrischer Behandlung befindet, wurden hingegen außer Acht gelassen.[1]

Ist der Fall Hopta eher ein Betriebsunfall der „übereifrigen Provinzjustiz“ oder verdeutlicht er vielmehr, dass die belarusische Diktatur in ihrer Repressionspolitik eine weitere rote Linie überschritten hat? Welche Rolle spielen Menschen mit Behinderung im Kontext der Protestbewegung? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages.

 

„Menschen mit (un)eingeschränkten Möglichkeiten“

Am 15. Oktober 2020 fand in Minsk eine ungewöhnliche Protestkundgebung gegen die Wahlfälschung vom 9. August statt: Etwa 100 Menschen in Rollstühlen, auf Krücken und mit Gehstöcken sowie ihre Begleitpersonen marschierten über den prachtvollen Boulevard der Unabhängigkeit und protestierten gegen den seit mehr als 26 Jahren autoritär herrschenden Staatschef Lukaschenka. Unter den Protestierenden waren auch der 32-jährige Lagerist Heorhij Sajkouski und die 33-jährige IT-Spezialistin Aljaksandra Guschtscha: Heorhij wurde am 10. August durch den Splitter einer Blendgranate verletzt, welche die Polizei bei der Niederschlagung von Protesten eingesetzt hatte. Er verlor einen Teil seines Fußes und ist nun auf einen Rollstuhl angewiesen.[2] Aljaksandra war als Baby zum Opfer eines Brandes geworden, überstand insgesamt 39 Operationen und verlor ihre Finger. Im August und im Herbst 2020 nahm sie an mehreren Frauenmärschen und weiteren Protestaktionen teil, wurde festgenommen und zu Geldstrafen verurteilt.[3] Am 15. Oktober marschierte neben Heorhij und Aljaksandra eine Dame mittleren Alters mit, die ihren Sohn im Rollstuhl begleitete und das Plakat „Es ist nicht schlimm, Mutter eines Sohnes im Rollstuhl zu sein. Schlimm ist es, Mutter eines maskierten Banditen zu sein“ hoch hielt.[4] Sie spielte dabei auf Lukaschenkas Schergen an – schwarz oder grün gekleidete Polizisten mit Sturmhauben und ohne Hoheitsabzeichen, die die Proteste grausam niederknüppelten, Festgenommene brutal misshandelten und diesen mit Vergewaltigung und Verkrüppelung drohten.[5]

Der erwähnte Oktobermarsch war der Auftakt von spektakulären, in der belarusischen Presse beachteten Protestkundgebungen von Menschen mit Behinderung, welche längst zu einem Symbol der friedlichen demokratischen Revolution in Belarus geworden waren. Was trieb diese oft gesundheitlich angeschlagenen Menschen in der Zeit der Corona-Pandemie auf die Straßen von Minsk? Als Bürgerinnen und Bürger kämpften sie für die demokratische Zukunft ihres Landes. Als Menschen mit Behinderung wollten sie die Diktatur nicht mehr hinnehmen, die sie zu „bemitleidenswerten Invaliden“ beziehungsweise zu „Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten“ herabwürdigt, in berüchtigt sowjetischer Manier systematisch ihre Rechte verletzt und schließlich gezielt aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Als „Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten“ werden im postsowjetischen Fachjargon Menschen mit körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen bezeichnet. Von „eingeschränkten Möglichkeiten“ wollten jedoch die Protestierenden in Minsk nichts wissen. Sie wollten vielmehr „Menschen mit uneingeschränkten Möglichkeiten“ in einer freien und demokratischen Republik Belarus sein.

Das Lukaschenka-Regime stellten diese Protestmärsche vor ein unangenehmes Dilemma: Rollstuhlfahrer*innen und Menschen auf Krücken im Herzen der Hauptstadt anzugreifen und dadurch den ohnehin massiv ramponierten Ruf vollends zu ruinieren oder die unangenehmen Protestierenden gewähren zu lassen, damit jedoch Schwäche zu zeigen und den Protestaktionen noch mehr Antrieb zu geben? Die Machthaber entschieden sich zunächst für eine perfide Zersetzungsstrategie von Einschüchterung, Diffamierung und heimtückischer Provokationen: In Uniform oder Zivil gekleidete Polizisten begleiteten die Protestmärsche und ließen deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer filmen. Auf dem Weg des Protestzuges wurden – „rein zufälligerweise“ – Bauarbeiten durchgeführt. Während Menschen mit Behinderungen verschont blieben, griff die Polizei anwesende Menschenrechtsaktivisten an. Schließlich wurden die Protestaktionen brutal aufgelöst.[6]

Gleichzeitig pries die Staatspropaganda Lukaschenkas paternalistische Sozialpolitik und warf der Protestbewegung die Instrumentalisierung der vom Schicksal ohnehin hart getroffenen „behinderten Unglücksraben“ vor. Letztere wurden aufgrund ihrer Behinderung als „unselbstständige, ahnungslose Marionetten“ böser ausländischer Drahtzieher und ihrer einheimischen Helfershelfer dargestellt.[7] Bestrebt, Lukaschenkas Ruf aufzupolieren und den behindertenfeindlichen Staatschef als fürsorglicher Landesvater zu inszenieren, setzte man außerdem auf den 37-jährigen Unternehmer und Paralympics-Athleten Aljaksej Talaj, der seine Arme und Beine im Alter von 16 Jahren verloren hatte. In den staatlich kontrollierten Medien als Held und Patriot, als „Vorzeige-Invalide“ gefeiert, profilierte sich Talaj als Lukaschenkas glühender Anhänger, der den Staatschef als Beschützer von Menschen mit Behinderung lobte.[8]  

 

Ausblick

Am 23. Januar 2021 berichtete die belarusische Online-Zeitung Nascha Niwa über den 20-jährigen Maksim Sjamaschka aus der Stadt Ljuban im Gebiet Minsk. Sjamaschka, der an der spinalen Muskelatrophie leidet und auf einen Rollstuhl angewiesen ist, nahm zusammen mit seinen Freunden am 9. August an einer Protestaktion in Ljuban teil. Während seine Freunde – Menschen ohne Behinderung – festgenommen worden waren, ließ die Polizei die „Behinderten“ unbehelligt. Warum? Sjamaschka glaubt, dass sein Rollstuhl einfach nicht in den Polizeiwagen gepasst habe.[9]

Im August nahm man also noch auf Behinderungen Rücksicht. Im Herbst bevorzugte man die heimtückische Methode. Und im Frühjahr 2021? Da das Regime mit einer neuen Protestwelle im Frühling 2021 rechnet und die Wiederholung von Massenprotesten befürchtet, verschärfte es im Winter 2020/21 präventiv ihre Repressionen gegen die belarusische Zivilgesellschaft, gegen Nichtregierungsorganisationen und Protestaktivist*innen. Der stellvertretende Innenminister Mikalaj Karpjankou erklärte letztere kurzerhand zu „überflüssigen Menschen“, die man am besten ins Lager sperren sollte. Zu diesen „überflüssigen Menschen“ zählen offenbar sowohl die Schlobiner Kachanouski und Hopta, als auch der Direktor des Minsker Office for the Rights of Persons with Disabilities, Jurist Sjarhej Drasdouski und sein Kollege Aleh Hrableuski, die beschuldigt wurden, die Protestaktionen von Menschen mit Behinderung finanziert zu haben. Seit Anfang Februar 2021 sitzt Hrableuski in Untersuchungshaft, während der Rollstuhlfahrer Drasdouski zunächst unter Hausarrest gestellt wurde.[10]

 

 


[1] Maladych schycharou Schlobina, u tym liku chopza z razumowaj adstalaszju, adprawili u kaljoniju za masawyja besparadki. Radio Free Europe / Radio Liberty. Belarusian Service, 5. Februar 2021; Schlobin: Kochanowskomu i Gopta tri s polowinoj i dwa goda lischenija swobody sootwetstwenno. Wjasna, 5. Februar 2021.

[2] Tatjana Newedomskaja: Byl ranen, kak na wojne. Kak schiwut postradawschie na protestach w Belarusi. DW, 15. Oktober 2020; „Ja stal inwalidom 10 awgusta“: Segodnja w Minske na protest wyschli ljudi s inwalidnostju. The Village Belarus, 15. Oktober 2020.

[3] Ksenija Tarasewitsch: „My taksama ljudzi, i u nas josc pasizyja!”. Tschamu dzjautschyna z inwalidnascju bjare udzel u pratestach. Belsat.eu, 3. November 2020.

[4] Ljudi s inwalidnostju  wyschli na akziju protesta w Minske, byli saderschanija. Tut.by, 15. Oktober 2020.

[5] Belarus: “You are not human beings”. State-sponsored impunity and unprecedented police violence against peaceful protesters. Amnesty International, 27. Januar 2021. 

[6] Marsch inwalidow. naviny.by; Alexander Friedmans Interview mit dem  Direktor des Minsker Office for the Rights of Persons with Disabilities, 10. November 2020.

[7] Marsch ljudej s ogranitschennymi vozmoschnostjami v Minske: potschemu wyschli? Panorama, 22. Oktober 2020.

[8] Aljaksej Talaj, 16. Oktober 2020; Aljaksej Talaj, 18. November 2020; Aljaksej Talaj, 14. Januar 2021.

[9] U Maksima ruchaezza tolki kisz adnoj ruki, a jon u 20 hod kupiu wjaliznuju kwateru u Minsku i saachwotschwae inschych ne sjadsez na dupe. Schtschyry manaloh. Nascha Niwa, 23. Januar 2021.

[10] Represii abrynulisja na „Ofis pa prawach ljudzej z inwalidnasczju“. Nascha Niwa, 3. Februar 2021; Sjarhej Drasdouski, 3. Februar 2021.