z|o: Frau Arndt, zunächst eine Frage zur Landesbezeichnung: Immer wieder hören wir von Belarus, manchmal aber von Weißrussland. Wie müssten wir das Land korrekt bezeichnen?
M.A.: Die korrekte Bezeichnung ist Belarus, die Belarus. Das abgeleitete Adjektiv davon lautet belarusisch – mit einem „s“, weil es sich auf das mittelalterliche ostslawische Reich Rus' bezieht, das nicht mit Russland gleichzusetzen ist. Aus der Rus' entwickelten sich das Russische Reich, die Ukraine und Belarus. Das Belarusische ist neben dem Russischen und dem Ukrainischen eine eigene ostslawische Sprache, die in den letzten Jahren auch in Belarus wieder vermehrt gesprochen wird.
Teil der Verwirrung um die korrekte Bezeichnung des Landes ist sicherlich der Fakt, dass in der sowjetischen Republik das Russische vorherrschte und auch nach der Unabhängigkeit des Landes noch oft auf den Straßen zu hören war (und ist). Zudem war Belarus lange die große Unbekannte zwischen Polen und der Russländischen Föderation. Erstaunlicherweise, müsste man im deutschen Kontext hinzufügen. Denn zum einen waren während des Zweiten Weltkrieges tausende Wehrmachtssoldaten durch das Land gezogen und haben deutsche Nationalsozialist*innen gerade in Belarus unzählige Gräueltaten verübt. Zum anderen nahmen in den 1990er und 2000er Jahren deutsche Familien mehrere hunderttausend belarusische „Tschernobylkinder“ auf. Dass sich der Sprachgebrauch dennoch nicht wandelte, belegt einmal mehr die Beharrungskraft von einmal gesetzten Begriffen.
Seit einigen Monaten ist „Belarus“ auch in den deutschen Medien angekommen. Zurückzuführen ist das auf eine Initiative der Belarusisch-Deutschen Geschichtskommission, die im Juli 2020 diese Bezeichnung empfahl.
z|o: Die belarusische Geschichte ist wechselvoll und blutig. Seit den frühen zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts war Belarus sowjetische Teilrepublik. Ab 1941 von der Wehrmacht besetzt, wurden 25 Prozent der belarusischen Bevölkerung von den Deutschen Besatzer*innen ermordet, das Land zerstört. Etwa neun Prozent der ermordeten europäischen Juden*Jüdinnen stammt aus Belarus. Wie geht man dort mit dieser Geschichte um? Wie ist das Verhältnis zu Deutschland?
M.A.: Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg – beziehungsweise den Großen Vaterländischen Krieg, wie er in der ehemaligen Sowjetunion genannt wird – ist bis heute sehr präsent und reicht in den Alltag hinein. Im Mittelpunkt der staatlichen Erinnerungspolitik steht noch immer das Heldengedenken, das sich stark an sowjetische Erinnerungspraktiken anlehnt. Besonders gut nachvollziehen kann man das im neuen, erst im Sommer 2014 eröffneten Belarusischen Staatlichen Museum der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges. Gleichzeitig existieren sowjetische Gedenkorte wie die Gedenkstätte für die ausgelöschten Dörfer Chatyn weiter, die das Leid der belarusischen Bevölkerung in den Vordergrund stellen. Daneben steht Histotainment hoch im Kurs: Seit 2006 kann man im „Historisch-kulturellen Komplex ‚Stalin-Linie‘“ nicht nur Panzer fahren, schießen und der Nachstellung verschiedener Kriegsszenen beiwohnen, sondern auch Blumen an einer Stalin-Büste ablegen, die auf einem Hügel an einer viel befahrenen Straße thront.
Die Aufarbeitung der Geschichte des Holocausts in Belarus haben vor allem zivilgesellschaftliche Initiativen vorangetrieben, oft in enger Zusammenarbeit mit ausländischen Partner*innen. Herausragendes Beispiel einer solchen Zusammenarbeit ist die Gedenkstätte Trostenez, die vor zwei Jahren im Beisein des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, des österreichischen Bundespräsidenten Alexander van der Bellen und des belarusischen Präsidenten Alexander Lukaschenko eröffnet wurde.
Die Sprache der aktuellen Proteste rekurriert in sehr starkem Maße auf Kriegserinnerungen und Begriffe des Zweiten Weltkrieges. Auf beiden Seiten ist von „Faschisten“ die Rede: Lukaschenko nutzt damit ein altbewährtes Muster zur Diffamierung der Opposition, indem er sie in die Nähe von nationalistischen Kollaborateur*innen während des Nationalsozialismus rückt. Seine Gegner*innen reagieren, indem sie die Unterstützer*innen des Präsidenten und insbesondere die Spezialeinheiten OMON als „Faschisten“ bezeichnen und beispielsweise zum „Marsch gegen den Faschismus“ aufrufen. Auf Plakaten der Demonstrierenden wird das Minsker Gefängnis Okrestin, das durch Folterungen in den Tagen nach der Wahl am 9. August 2020 traurige Berühmtheit erlangte, mit dem Konzentrationslager Auschwitz gleichgesetzt. Aus deutscher Perspektive mag das befremdlich klingen, für viele Akteur*innen vor Ort ist es das nicht.
z|o: Durch die Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 wurde die Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik unabhängig.
Wurde sie unabhängig? Das Verhältnis der Regierungschefs beziehungsweise die Reaktionen Putins auf die Proteste der Opposition widersprechen der These von der Unabhängigkeit.
M.A.: Seit der Auflösung der Sowjetunion sind knapp dreißig Jahre vergangen, in dieser Zeit ist viel passiert. Die Beziehung zwischen Belarus und der Russischen Föderation wandelte sich häufig. Nach einer kurzen Phase der Demokratisierung unter Stanislau Schuschkewitsch und einer klaren Ausrichtung gen (West-)Europa Anfang der 1990er Jahre übernahm im Juli 1994 Alexander Lukaschenko (belar.: Aljaksandr Lukaschenka) die Macht im Land. Kurz nach seinem Amtsantritt setzte er nicht nur Staatssymbole ein, die nostalgisch auf die Sowjetunion verweisen, etwa die rot-grüne Fahne, die die weiß-rot-weiße ersetzte, die zu dem Symbol der Opposition geworden ist. Er forcierte außerdem eine Annäherung an Russland, von dem das Land in vielerlei Hinsicht auch abhängig war, vor allem im Energiesektor. Doch, selbst wenn offiziell ein Unionsstaat besteht, herrscht längst keine harmonische Einigkeit mit klarer Perspektive. Stattdessen überwiegt ein Zick-Zack-Kurs. Je nach politischer Wetterlage, die vor allem anhand aktueller Befindlichkeiten gegenüber „dem Westen“ bestimmt wird – überwiegen öffentliches Schulterklopfen und Pläneschmieden oder vorsichtige bis deutliche Distanz. Ambitionierte Pläne wie eine gemeinsame Währung scheiterten, weil Putin auf den russischen Rubel (natürlich!) nicht verzichten wollte. Zwar sicherte der russische Präsident Unterstützung in der aktuellen Situation zu, die er als vom Ausland geschürt interpretiert. Ganz will Putin offenbar aber nicht auf seinen unberechenbaren Partner setzen.
z|o: Die gegenwärtigen Demonstrationen zeugen von großem Widerwillen, offenbar in allen Schichten der Bevölkerung, gegen die autoritäre Herrschaft des Präsidenten. Wie verhält sich die akademische Elite in diesem Prozess, wie groß ist die Rolle von Akademiker*innen bei der Organisation und Durchführung der Proteste?
M.A.: Akademiker*innen aller Karrierestufen beteiligen sich maßgeblich an den Protesten, sowohl an deren Organisation als auch an deren Durchführung. An allen Universitäten des Landes protestieren Studierende. Aber auch Professor*innen sind aktiv. Manche Dozent*innen stellten sich buchstäblich zwischen ihre Studierenden und die Spezialkräfte, wenn diese anrückten, um Studierende zu verhaften, so etwa der Archäologe der Minsker Staatlichen Universität Wadim Belewez. Andere, wie die Dekanin der Fakultät für Computersysteme und –netzwerke der Belarusischen Staatlichen Universität für Informatik und Radioelektronik (BGUIR), Marina Lukaschewitsch, kündigten, weil sie keine Säuberungen innerhalb der Studierendenschaft vornehmen wollte. Lehrende der Minsker Linguistischen Universität veröffentlichten eine bewegende Videobotschaft, „Wir sind mit Euch solidarisch“, zur Unterstützung der protestierenden und verhafteten Studierenden. Im Süden des Landes, in der Gebietshauptstadt Homel, protestierten wiederum Studierende gegen die Verhaftung des Ökonomie-Professors Wadim Belskij.
z|o: Führende Intellektuelle wie Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch protestieren heftig gegen das Regime und werden entsprechend bedroht. Was berichten Kolleg*innen, mit denen Sie in Kontakt stehen, über Schikane und Angst im (kritischen) Wissenschaftsbetrieb?
M.A.: Schikanen – vor allem Kündigungen und Drohungen – sind weit verbreitet. Und natürlich auch Angst. Schließlich scheint niemand vor einer Verhaftung gefeit. Gleichzeitig herrscht noch immer eine außerordentliche und bewundernswerte Bereitschaft, für den Wandel des politischen Systems einzutreten, sich einem abermaligen Scheitern von Reformen zu widersetzen. Olga Shparaga, Philosophieprofessorin und Mitbegründerin des European College of Liberal Arts in Belarus, einer unabhängigen Bildungseinrichtung, berichtete von ihrer Haft, dass sie die Angst verlor, als sie beobachtete, dass die Sicherheitskräfte selbst im Gefängnis die Sturmhauben nicht auszogen. Wer hat hier mehr Angst?, habe sie sich gefragt.
Doch selbstverständlich gelingt es bei weitem nicht allen, die allgegenwärtige Menschenverachtung im Umgang mit den Andersdenkenden auf diese Weise zu reflektieren, zumal auch Angehörige von den Schikanen betroffen sind: Kinder, andere Familienmitglieder. Die international agierende Umweltaktivistin Irina Sukhy wurde ohne Vorwarnung von Männern in zivil aus ihrer Wohnung geholt, weil sie auf Facebook ein Foto ihrer Teilnahme an einer Demonstration gepostet hatte. Ihre 90-jährige Mutter musste die Verhaftung mitansehen.
z|o: Welche Rolle spielt das Exil? Einerseits: Denken Kolleg*innen und ihr Umfeld darüber nach, ins Ausland zu gehen? Andererseits: Wie wird die Entscheidung führender Oppositionspolitiker*innen/prominenter kritischer Stimmen, sich ins Ausland abzusetzen, bewertet, als notwendiges Mittel zur eigenen Sicherheit, oder vielleicht auch als Im-Stich-Lassen der Bevölkerung? Bleibt die Solidarität durch einen solchen Schritt ungebrochen?
M.A.: Das Ausland, vor allem die Nachbarländer Litauen und Polen, aber auch Deutschland ist schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, Zufluchtsort für Akademiker*innen und Andersdenkende. Viele akademische Biographien sind längst im wortwörtlichen Sinne transnational: Sie spielen sich zwischen Belarus und dem Ausland ab. Zwei Wohnsitze und Pendeln gehören zur Normalität für kritische Wissenschaftler*innen. Die Philosophin Tatiana Shchyttsova, Professorin an der belarusischen Exil-Universität Europäische Humanistische Universität (EHU) in Vilnius, beispielsweise unterrichtet in Litauen und lebt sowohl in Vilnius als auch in Minsk. Bisher war das weitgehend problemlos möglich. Bei ihrem letzten Grenzübertritt wurde sie zum ersten Mal aufgehalten.
Mit dem Gang ins Ausland ist oft keine oder nur selten eine komplette Abkehr von Belarus verbunden. Deshalb, und weil dieser Weg längst als „normal“ gilt, wird er auch kaum kritisch gesehen. Mit der Debatte um Ausreisewillige aus der DDR etwa ist das nicht vergleichbar. Das trifft auch weitgehend auf die Flucht der Mitglieder der Opposition zu, die das Land aus Angst vor Verhaftung und Repression verlassen haben, beispielsweise Swetlana Tichanowskaja oder Olga Shparaga, die auch Mitglied des Koordinationsrates der Opposition ist und einer weiteren Verhaftung entgehen wollte. Im Ausland können sie weiter aktiv sein. Ihre Möglichkeiten erweitern sich sogar – etwa auf die Situation in der europäischen und internationalen Öffentlichkeit aufmerksam zu machen, politisch Einfluss zu nehmen, aber auch nach Belarus hineinzuwirken, beispielsweise über Social-Media-Kanäle. Facebook, Telegram u.a. sind die zentralen Kommunikationsformen des belarusischen Protestes. Über sie werden Nachrichten verbreitet, Versammlungsorte und –routen bekannt gegeben, Sicherheitstipps versendet, Hilfsaktionen organisiert, Informationen über den Verbleib von Verhafteten ausgetauscht und Solidarität geübt. Eine belarusische Politologin im litauischen Exil machte so etwa auf den Fall ihres ehemaligen Studenten Mikola Dziadok aufmerksam, von dem ein abscheuliches Video kursiert, in dem er – offensichtlich nach Folterung – gezwungen wurde, seine Heimatliebe zu beschwören.
z|o: Welche Rolle spielen Weiblichkeit und das Bild der Frau in der Gesellschaft während dieser Massenproteste? Die führenden Köpfe der Oppositionsbewegung sind recht junge Frauen, die sich neben ihrer Kompetenz in dieser Ausnahmesituation durch Stärke, Mut und Hartnäckigkeit auszeichnen. Gleichzeitig suggeriert die visuelle Darstellung der Demonstrationen in westlichen Medien oft, dass der Widerstand von jungen, schönen Frauen ausgeht: Hat der „Westen“ ein romantisches Bild vom gegenwärtigen Widerstand im Land?
M.A.: Ja, es ist ein Protest der Frauen, auch der jungen und schönen. Aber es ist auch ein Protest der Babuschki, der Großmütter, der LGBTQI*-Gemeinde, der Menschen mit Beeinträchtigungen, der IT-Fachleute, der einfachen Werkarbeiter*innen und der Ärzt*innen. Gerade seine Inklusivität macht den Protest so einzigartig in der belarusischen Geschichte. In den letzten Jahren ist sehr viel passiert in Belarus. Vor zwanzig Jahren wurden Menschen mit Behinderungen noch in Heimen weggeschlossen, weil sie als Schande für die Familie galten und Integrationsmöglichkeiten nicht existierten. Zudem spottete ein Reiseführer, dass der Kleidungsstil der Frauen auf den Minsker Straßen für westeuropäische Maßstäbe manchmal jenem von Prostituierten gliche. Der Heiratsmarkt mit belarusischen Frauen boomte in den 1990er Jahren in Westeuropa, weil sie als schöne und gleichzeitig ergebene Hausfrauen galten. Damit ist Schluss. Das zeigt dieser Protest so deutlich wie nie zuvor. Frauen treten darin als starke, selbstbestimmte Akteur*innen auf, Menschen mit Behinderungen beteiligen sich wie selbstverständlich an den Demonstrationszügen. Und die Protestgemeinde setzt auch ein deutliches Zeichen gegen die in Belarus – wie in Osteuropa allgemein – weit verbreitete Homophobie.
Revolution ohne Romantik gibt es nicht. In Belarus sind es neben den gut gekleideten blumenverteilenden Frauen, mehr oder weniger spontane Konzerte in den kargen Höfen der Hochhaussiedlungen, das gemeinsame Singen und Essen in den Höfen, die Solidarität, wenn einem Viertel das Wasser abgedreht wird und alle anderen Kanister herbeischleppen oder der Rollstuhl mit der weiß-rot-weißen Fahne, der an einer Mauer aus Mitgliedern der OMON-Spezialeinheiten vorbeigeschoben wird.
z|o: Wir erinnern Belarus vor allem durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, bei der große Gebiete des Landes kontaminiert wurden. Formierte sich damals schon so etwas wie eine oppositionelle Umweltbewegung?
M.A.: Mehr als zwanzig Prozent der Fläche von Belarus sind seit der Reaktorexplosion vom 26. April 1986 radioaktiv kontaminiert, siebzig Prozent des gesamten radioaktiven Fallouts ging über der Republik nieder. Es dauerte fast drei Jahre, bis die Führung der Sowjetunion das Ausmaß der Katastrophe eingestand, erste Strahlenkarten veröffentlicht wurden. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich regional schon erste Protestgruppierungen formiert. Sie wählten damals ein Mittel, das auch in der aktuellen Situation wieder große Bedeutung erlangte: die Streiks. In den am meisten betroffenen Gebieten im Süden des Landes verweigerten Tausende die Arbeit, forderten Aufklärung und Unterstützung für sich und ihre Familien.
Der Aufhebung der Zensur im Frühjahr 1989 folgte ein wahrer Informationsboom. Er forcierte die Herausbildung der Umweltbewegung – in Belarus wie in anderen Sowjetrepubliken. Allein konnte sie die lebensweltlichen Wirren und sozio-ökonomischen Härten der Transformationszeit kaum überstehen. Was aber blieb, waren die zahlreichen Tschernobyl-Hilfsorganisationen, die sich Anfang der 1990er Jahre mit ausländischer Hilfe herausgebildet hatten. Mehr als eine Million belarusischer Kinder und Jugendliche reisten über sie zur Erholung oder zur medizinischen Behandlung ins Ausland. Sie alle wurden dort mit einer anderen Kultur, einer fremden Sprache, anderen Werten und Normen konfrontiert. Viele pflegten die Kontakte ins Ausland jahrelang.
Unter den führenden Akteur*innen heute sind viele ehemalige „Tschernobylkinder“. Sowohl Maria Kolesnikowa als auch Swetlana Tichanowskaja hatten enge Kontakte zu Tschernobylhilfsorganisationen. Vielleicht zeigen sich jetzt die Spätfolgen dieses Engagements, der unweigerlichen Öffnung des Landes.
Die Interviewfragen wurden von Sophie Genske und Annette Schuhmann schriftlich gestellt und von Melanie Arndt ebenso beantwortet.