In diesem Jahr, am 22. Juni, jährte sich der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zum 80. Mal. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hielt wenige Tage zuvor eine vielbeachtete Rede, die man durchaus als Meilenstein im deutschen Gedenken an den Beginn des Vernichtungskriegs gegen den sowjetischen Vielvölkerstaat sehen kann. Steinmeier war nicht das erste Staatsoberhaupt, das für den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion deutliche Worte fand. Ein Blick auf die Reden seiner Vorgänger an geschichtsträchtigen Jubiläen des Zweiten Weltkriegs seit dem 8. Mai 1985, als Richard von Weizsäcker das Kriegsende wegweisend als „Befreiung“ deklarierte, bezeugt, dass auch sie die deutsche Verantwortung für das Grauen des Krieges anerkannten und über die Rolle der Wehrmacht nicht mehr schwiegen. Steinmeiers Rede war trotzdem bemerkenswert für ihre präzise und ausführliche Darlegung der deutschen Vernichtungsmaschinerie, die von Berlin aus geplant und dann auf sowjetischem Boden von SS-Leuten, Sicherheitsdienst, Polizei und Wehrmachtssoldaten umgesetzt wurde. Steinmeier nannte eine ganze Reihe zentraler Orte des Kriegsgeschehens und der Schoah im östlichen Europa, die in Deutschland noch immer erinnerungskulturell ein Schattendasein führen. Zugleich zeigen zwei im letzten Jahr beschlossene Initiativen des Deutschen Bundestags zur Errichtung eines Polen-Denkmals und eines Dokumentations- und Bildungszentrums zur deutschen Besatzung im östlichen Europa, dass die Erinnerungskultur in dieser Hinsicht in Bewegung ist. Es gibt parteiübergreifend den politischen Willen, die Erinnerungslücken der Deutschen durch Aufklärung und Gedenken zu schließen.
Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion in der deutschen Erinnerung
Dafür, dass viele Orte und Ereignisse des Zweiten Weltkrieges noch immer Leerstellen sind, gibt es mehrere Gründe: die Stimmen von jüdisch-sowjetischen Überlebenden von Krieg, Gewaltherrschaft und Schoah drangen im Verlauf des Kalten Krieges kaum in die deutschen Öffentlichkeiten der Bundesrepublik und der DDR, weil die jüdische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg dort wie hier aus unterschiedlichen Gründen marginalisiert wurde. Stalinistischer Antisemitismus und die Erzählung vom „Großen Vaterländischen Krieg“, in dem alle Völker der Sowjetunion gemeinsam heroisch gegen den deutschen Faschismus gekämpft hätten, ließen für die jüdischen Erfahrungen wenig Raum.[1] Dies prägte auch die Geschichtspolitik in der DDR, wo der kommunistische Kampf im Mittelpunkt stand und nicht die Ermordung des europäischen Judentums. In der Bundesrepublik war ausschlaggebend, dass das „Unternehmen Barbarossa“ in den Jahren nach 1945 lange als „Russland-Feldzug“ galt, in dem anständige Soldaten sich tapfer gegen den russischen Feind behaupteten, bevor sie von den Generälen der Wehrmacht verraten worden seien. Die Vorstellung eines letztlich „gerechten Kriegs“ gegen die Sowjetunion konnte in die anti-kommunistische Einstellungen bundesrepublikanischer Eliten übernommen werden.[2] Die Partizipation der Wehrmacht an Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung und sowjetischen Zivilist:innen verdrängten oder negierten sie dagegen genauso wie es die Veteranen taten. Noch Ende der 1990er Jahre und zu Beginn der 2000er Jahre lösten die Wehrmachtsausstellungen, die die Mittäterschaft der Wehrmacht an den Verbrechen im östlichen Europa in den Mittelpunkt stellten, emotionale und politische Abwehrreflexe aus.[3]
Steinmeiers Rede und die Reaktionen der etablierten Medien verweisen darauf, dass sich seitdem vieles geändert hat. Viele Redaktionen der deutschen Tages- und Wochenzeitungen veröffentlichten fundierte Beiträge anlässlich des Jubiläumsjahrs. Die tageszeitung wartete mit einem mehrseitigen Dossier auf, in dem sie die vielen Facetten des Kriegs aufgriff und Bezüge zu den politischen Kämpfen der Gegenwart herstellte.[4] In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kam der Osteuropa-Historiker Jochen Hellbeck zu Wort, der den eliminatorischen und totalen Charakter des Feldzugs gegen die Sowjetunion hervorhob und die Folgen für die Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt stellte.[5] Reinhard Veser wies in derselben Zeitung darauf hin, dass angesichts der Dimensionen der deutschen Verbrechen, der Krieg in der deutschen Erinnerungslandschaft einen viel größeren Raum bekommen sollte.[6] Eine ähnliche Richtung hatte der Kommentar von Joachim Käppner über den „Vergessenen Krieg“ in der Süddeutschen Zeitung.[7] In der Presse herrschte somit ein recht breiter Konsens darüber, dass die viel gerühmte deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ in Bezug auf den Kriegsverlauf noch einiges nachzuholen habe und viele Zeitungsredaktionen hatten sich des Themas mit großer Ernsthaftigkeit angenommen. Der Kommentar von Maximilian Terhalle im Cicero, der Steinmeier anlässlich seiner Rede einen „Russland-Komplex“ und ein „pathetisches Russlandbild“ unterstellte, das symptomatisch und ursächlich für die zu Putin-freundliche deutsche Außenpolitik insgesamt sei, war in diesem Zusammenhang eher ungewöhnlich.[8]
Geschichtspolitische Kontroversen
Dennoch verlief auch dieser Jahrestag nicht ohne Kontroversen. Für die vielleicht größte sorgte Die ZEIT, die einen Aufsatz des russischen Präsidenten Wladimir Putin veröffentlichte, der erwartungsgemäß seine eigene Interpretation von Geschichte und Gegenwart vorlegte: er reklamierte die sowjetischen Entbehrungen und Leistungen des Krieges allein für „Russland“ und konzentrierte sich dann vor allem darauf, für eine intensivere wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland zu werben. Für die derzeit angespannten Beziehungen machte er eine verfehlte Politik Europas verantwortlich, deren „aggressive Politik“ vor allem durch die Osterweiterung der NATO zur „ukrainischen Trägodie von 2014“ geführt habe – über den zivilgesellschaftlichen Aufbruch in der Ukraine und den russischen Angriff verlor er indes kein Wort.[9] Die tagespolitische Instrumentalisierung der Geschichte durch Putin hätte für die Redaktion der Wochenzeitung absehbar sein müssen – möglicherweise war sie es auch, wurde aber bewusst in Kauf genommen. Sollte es der Zeitung um das wichtige Anliegen gegangen sein, die deutsche Öffentlichkeit für russische Perspektiven auf den Krieg zu sensibilisieren, wären Personen wie etwa der Petersburger Historiker Alexey Miller die bessere Wahl gewesen.
Der russisch-ukrainische Krieg überschattete auch in anderer Hinsicht das Gedenken in Deutschland: Steinmeier hatte sich mit dem Deutsch-Russischen Museum Karlshorst für seine Rede einen historischen Ort ausgesucht, denn hier hatte Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, die zweite, ratifizierende Kapitulationsurkunde in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 unterzeichnet. Hierhin hatte Steinmeier Vertreter:innen aller post-sowjetischen Staaten eingeladen. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, äußerte in seiner öffentlichen Absage deutliche Kritik an Steinmeiers Ortswahl: das Museum in Karlshorst sei ein russisch konnotierter Ort und dadurch unterstütze der Bundespräsident letztlich Moskaus Versuche, den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und die sowjetischen Opfer allein für Russland zu vereinnahmen. Dabei handele es sich um eine „gezielte russische Geschichtsumdeutung.“[10] Unterstützung erhielt Melnyk von der Grünen-Politikerin Marieluise Beck, die die Rede Steinmeiers dennoch sehr positiv würdigte.[11] Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist eine rückwirkende eindeutige Nationalisierung der sowjetischen Opfer als „belarussisch“, „russisch“ oder „ukrainisch“ in vielen Fällen problematisch. In gewisser Weise schreibt dies die vermeintliche Eindeutigkeit sowjetischer Nationalitätenpolitik fort, der zu Folge eine Person nur eine einzige Nationalität haben konnte und die damit die multiplen und teilweise auch supranationalen Identitäten vieler sowjetischer Bürger:innen negierte. Angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine in der Gegenwart und die kontinuierlichen Versuche der russischen Führung der Ukraine eine eigene Identität abzusprechen ist es verständlich, dass Ukrainer:innen auf eine Abgrenzung gegenüber Russland bedacht sind und entsprechend darauf reagieren, wenn gerade aus deutscher Perspektive ukrainische Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges nicht in den Blick genommen werden. Fraglich bleibt trotzdem, ob es dem Andenken der Kriegsopfer angemessen ist, das Leid entlang heutiger nationaler Grenzen zu quantifizieren und gegeneinander aufzurechnen.
Der 80. Jahrestag und die deutsche Politik
Dass sich in der Gegenwart politische Präferenzen auch in der Gedenkpolitik niederschlagen, konnte man an der Einladungspolitik der einzelnen Parteien beobachten: Die Fraktion der Grünen hatten mit Katja Petrowskaja und Serhij Zhadan zwei Personen aus der ukrainischen Zivilgesellschaft eingeladen und mit der russischen Historikerin Irina Scherbakowa außerdem eine Wissenschaftlerin, die sich kritisch mit der gegenwärtigen russischen Geschichtspolitik auseinandersetzt.[12] Anders entschieden sich Die Linke, deren Gäste u.a. der russische Botschafter, zwei Abgeordnete der de facto Kremlnahen Partei „Gerechtes Russland“ und die als vehemente Putin-Verteidigerin bekannte ehemalige Journalistin Gabriele Krone-Schmalz waren.[13] Zugleich war Die Linke die einzige Partei, die erfolglos eine offizielle Gedenkstunde im Bundestag gefordert hatte.
Dass auch in Berlin das Gedenken an den Überfall auf die Sowjetunion von politischen Konflikten der Gegenwart zumindest mitbestimmt war, hatte sich bereits im deutschen Bundestag am 9. Juni 2021 gezeigt. Redner:innen aller Parteien betonten in ihren Beiträgen den verbrecherischen Charakter des Angriffskriegs und viele von ihnen hoben Aspekte des Krieges hervor, die in Deutschland immer noch „blinde Flecken“ seien: so etwa der „Holocaust durch Kugeln“, das Schicksal der Kriegsgefangenen oder die Blockade von Leningrad. Besonders Vertreter:innen von SPD, CDU und der FDP nutzten die Gelegenheit dazu, das Recht der Ukraine auf territoriale Integrität zu bekräftigen.[14] Anders positionierten sich in dieser Frage die Redner:innen der AfD: Der Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland, der den Krieg ebenfalls als „Vernichtungskrieg im Osten“ verurteilte und die „tiefe Schuld“ der Deutschen betonte, nahm ihn zugleich zum Ausgangspunkt, um für „Nachsicht und Toleranz“ für Russland zu werben. Auch die Kritik aus dem „Westen“ am Hitler-Stalin Pakt im Sommer 1939 wies er als unangemessen zurück. Dabei ließ er es sich allerdings nicht nehmen, diesen Krieg aus der Tradition deutscher Geschichte herauszulösen, indem er darauf bestand, dass der Krieg den „preußischen Militärtraditionen der Wehrmacht“ widersprochen habe. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD, Tino Chrupalla, folgte der politischen Linie seines Parteikollegen. Zum Zeitpunkt des eigentlichen Jahrestags, am 22. Juni 2021, weilte Chrupalla als einziger deutscher Politiker zu einem Besuch in Moskau und legte einen Kranz am Grab des unbekannten Soldaten nieder.[15]
Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion und die „Neue Rechte“
Auf den ersten Blick scheint das Agieren der AfD Beleg dafür zu sein, was der Partei und ihren Anhänger:innen oftmals bescheinigt worden ist: eine Affinität zu Russland und die Bereitschaft, die aggressive Außenpolitik unter Wladimir Putin zu legitimieren. Im Falle Russlands (bezeichnenderweise aber nicht im Falle der Ukraine und Belarus) ist die AfD zumindest in Teilen und in einem gewissem Rahmen bereit, eine deutsche Verantwortung für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs zu akzeptieren und rückt damit zumindest punktuell davon ab, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit als deutschen „Schuldkult“ zu diffamieren. Schließlich ist es die rechtsextreme AfD, die einzige der im Bundestag vertretenen Parteien, die einen grundsätzlichen Kurswechsel der deutschen Gedenkpolitik fordert und den bundesrepublikanischen politischen Konsens der eindeutigen Abgrenzung vom nationalsozialistischen Deutschland nicht mitträgt. Björn Höcke, der Fraktionsvorsitzende der AfD im Thüringer Landtag und Sprecher der Thüringer AfD, ist in diesem Zusammenhang das prominenteste Beispiel. In einer Rede Anfang 2017 nannte Höcke das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin ein „Denkmal der Schande“ und forderte eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, die Auseinandersetzung mit der NS-Politik und die Anerkennung deutscher Schuld bezeichnete er als „dämliche Bewältigungspolitik“.[16] Rückendeckung dafür erhielt er unter anderem von Alexander Gauland, der im darauffolgenden Jahr den Nationalsozialismus bekanntermaßen als „Vogelschiss in 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ bagatellisierte.[17]
Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, das Agieren von Gauland und Chrupalla im Zusammenhang mit dem Gedenktag am 22. Juni als ein strategisches, situatives Abrücken von den Grundsätzen der „Neuen Rechten“ zu sehen, um durch die Anerkennung der deutschen Aggression im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion ab 1941 nicht die eigentlich guten Beziehungen zur russischen Regierung zu gefährden. Schaut man sich den Diskurs der „Neuen Rechten“ und unterschiedlicher AfD-Politiker:innen jedoch genauer an, so zeigt sich, dass hier tatsächlich kein Konsens herrscht. Vielmehr manifestiert sich in der Haltung rechtsextremer Politiker:innen und Vordenker:innen zum 22. Juni 1941 ein erinnerungspolitischer Konflikt innerhalb der „Neuen Rechten“, der wiederum mit Vorstellungen über die Rolle Russlands im Verhältnis zur AfD zusammenhängt. Gaulands Auftritt im Bundestag sorgte nämlich in den Netzwerken der „Neuen Rechten“ für harsche Kritik, denn hier wird nach wie vor der Mythos eines „Präventivkriegs“ Deutschlands gegen die Sowjetunion gepflegt. Diese These, deren Ursprünge auf nationalsozialistische Propaganda zurückgehen, die auch in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit von einflussreichen Publizist:innen und rechten Intellektuellen bis in die 1980er Jahre offensiv vertreten wurde, ist bis heute Grundsatz rechter Ideologen. Wissenschaftlich ist sie freilich längst widerlegt.[18]
Heute ist es in der neurechten Szene vor allem Stefan Scheil, Historiker, Politiker der AfD und regelmäßiger Autor in den einschlägigen Publikationen der „Neuen Rechten“, der die diese These mit Verve kultiviert und aus Anlass des diesjährigen Gedenktages wiederholte.[19] Entsprechend empört zeigte sich Scheil gegenüber den Einlassungen Gaulands im Bundestag: zwar äußerte er Verständnis, dass Gauland sich nicht öffentlich zur These des Präventivkrieges bekannte, aber zumindest hätte er den „den russisch-deutschen Krieg etwa als Tragödie zweier Völker“ bezeichnen können.[20] Stattdessen sei er „komplett den Vorgaben aus Moskau“ gefolgt und habe dabei „zugleich den Deutschen auf eine wirklich spektakuläre Art eine Kollektivschuldschelle verpaßt [sic!] und einen historischen Maulkorb umgehängt. Das läßt [sic!] sich kaum anders denn als unnötig, peinlich und politisch schädlich bezeichnen.“ Die AfD laufe damit Gefahr „sich dauerhaft als die ,russische Partei’ in Deutschland [zu] inszenieren.“[21] Scheil störte sich also an zweierlei: zum einen, dass die Fraktion im Bundestag sich Vorgaben von Seiten Russlands ihren geschichtspolitischen Kurs betreffend habe machen lassen und zum anderen – und hier befand er sich im Grunde ganz auf Höckes Linie – dass die Anerkennung deutscher Verantwortung für Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs den Deutschen schade. Ganz ähnlich argumentierte Erik Lehnert, der die geschichtspolitische Positionierung der AfD in Moskau und Berlin als Signal interpretierte, dass „außenpolitisch im Sinne deutscher Interessen nicht mehr [mit der AfD] zu rechnen“ sei. Selbst „Teile der Rechten“ hätten nunmehr das Geschichtsnarrativ der „BRD-Eliten“ übernommen.[22] Götz Kubitschek, eine Schlüsselfigur der neurechten Szene, äußerte sich nur in Nuancen zurückhaltender. Auch er übernahm die These eines Präventivkrieges und stufte die Verbrechen des „roten Terrors“ als ungleich höher ein als jene NS-Deutschlands, plädierte aber angesichts von „heutigen bündnisstrategischen Erwägungen“ dafür, in dieser Frage einfach zu schweigen.[23] In gewisser Weise war dies die Strategie, die Björn Höcke verfolgte; von ihm sind keine Äußerungen zum Jahrestag zu finden.[24] Trotzdem war der Dissens in der rechten Szene über die richtige geschichtspolitische Positionierung nun offenkundig und führte zu einer Veranstaltung in dem u.a. von Götz Kubitschek gegründeten Institut für Staatspolitik in Schnellroda, bei der die AfD-Europaabgeordneten Maximilian Krah und Scheil aufeinandertrafen. Ersterer vertrat die These, dass es sich in der Tat 1941-1945 um einen deutschen Angriffskrieg gehandelt habe. Vor allem ging es ihm aber um die politische Konsequenz einer bestimmten historischen Erzählung. Man befinde sich heute, so Krah, in einem „weltanschaulichen Kampf“, der Gegner sei dabei nicht mehr der Kommunismus, sondern der „Globohomo“. Dieser verfüge über eine „in sich kohärente Geschichts- und Welterklärung“ des „unbegrenzten Individualismus […] frei von jedweder geographischer, nationaler, kultureller, biologischer Bindung“. Die internationale Rechte, die dagegen aufstehe, brauche ihrerseits eine „einheitliche, geschichtliche kulturelle Erzählung“ und genau diese habe Chrupalla in Moskau bedient. Russland sei eines „der großen Zentren gegen den Globohomo“, insofern sei der „Brückenschlag“ absolut richtig gewesen.[25] Krah offenbarte damit einen instrumentellen Zugang zur Vergangenheit: es ging ihm nicht etwa um eine konsequente Aufarbeitung deutscher Verbrechen, sondern um die Möglichkeit eines Schulterschlusses mit Moskau. Scheil dagegen wiederholte seine absurde These des eindeutigen „Präventivkrieges“ durch das nationalsozialistische Deutschland, was bei einem erheblichen Teil des Publikums auf deutliche Zustimmung stieß.
Der lange Schatten der Relativierung
Dabei ist es nicht nur die eindeutig rechtsradikale Szene der „Neuen Rechten“, die hochproblematische Geschichtsbilder transportiert. Im Zuge des 22. Juni 2021 publizierte auch das sich liberal-konservative gebende Medium Tichys Einblick ein Interview mit dem Historiker und Schriftsteller Christian Hardinghaus über die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Zwar stellte Hardinghaus fest, dass es sich um einen Vernichtungskrieg gegen die Völker der Sowjetunion gehandelt habe, begründete dies aber allein mit den Verbrechen den Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes (SD) und der Sicherheitspolizei (Sipo).[26] Darüber, dass die Wehrmacht schon vor dem Angriff dessen eliminatorische Zielsetzung mitgetragen hatte und an vielen Mordtaten beteiligt war, schwieg er. Die Belagerung Leningrads, eines der größten Verbrechen der Wehrmacht während des Krieges, wurde bei Hardinghaus zu einem Beispiel für den Widerstreit „zweier hässlicher Ideologien: Hakenkreuz und Sowjetstern“.[27] Den Plan Hitlers, die Bevölkerung der Stadt auszuhungern, erklärt er mit der strategischen Überlegung Hitlers, dass man die Stadt ja auch kampflos einnehmen könne. Davon, dass die Stadt der Oktoberrevolution von 1917 für die Nationalsozialisten die Wiege des „jüdischen Bolschewismus“ war, die vernichtet werden müsse, dass das Aushungern der Zivilbevölkerung ein im Vorfeld geplantes Wesensmerkmal des Besatzungsregimes im östlichen Europa insgesamt war, ist in diesem Interview nichts zu lesen.[28] Stattdessen machte Hardinghaus die Belagerung Leningrads zum Wendepunkt des Kriegsverlaufs, „von nun an war der weitere Krieg geprägt von gegenseitiger Grausamkeit. Meine Zeitzeugen haben immer wieder auch von beobachteten Kriegsverbrechen auf beiden Seiten berichtet.“[29] Die mindestens problematische Behauptung, dass die Rote Armee sich dort besonders "unzivilisiert" gezeigt habe, wo schlecht ausgebildet Soldaten aus der Mongolei im Einsatz waren, blieb unwidersprochen."[30] Ein zweiter Artikel, publiziert von Rainer Zittelmann am 22. Juni 2021, diskutierte ausschließlich ökonomische Motive Hitlers für die Eroberung der Sowjetunion, kein Wort fiel über Antisemitismus, Anti-Bolschewismus und Slawenhass.[31]
Die Herausforderung für Historiker:innen
Die Äußerungen von Gauland und Chruppalla sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter Neurechten und Rechtskonservativen die These des Präventivkrieges, die Relativierung deutscher Verbrechen auf sowjetischem Boden sowie die Überzeugung, dass die eigentlichen Verbrecher der Geschichte Kommunisten gewesen seien, nach wie vor großen Zulauf haben. Die politische Heimat dieser Personen ist trotz geschichtspolitischer Differenzen die AfD. So hoffnungsvoll Steinmeiers Rede und ihr mediales Echo stimmen mag, darf nicht vergessen werden, dass über achtzig Jahre nach dem deutschen Vernichtungskrieg gegen Polen und die Sowjetunion eine Partei im Bundestag und in vielen Landesparlamenten sitzt, zu deren Markenkern geschichtsrevisionistische Thesen zählen. In manchen Regionen Deutschlands kann diese Partei mehr als ein Viertel der Wähler:innenstimmen auf sich vereinen. Das ist ein Warnsignal und dem muss durch eine Bildungspolitik, die auf historische Aufklärung und intensive Zusammenarbeit mit Gedenkstätten an Krieg und Schoah im In- und Ausland setzt, offensiv begegnet werden. Historiker:innen, die zukünftige Lehrer:innen ausbilden, sind in diesem Zusammenhang besonders gefragt. Regelmäßige Fachexkursionen an Orte des Vernichtungskrieges sowohl „vor der Haustür“ in Deutschland als auch im östlichen Europa sind hier von besonderer Bedeutung.[32] Historiker:innen müssen die gesellschaftliche Debatte kontinuierlich mitprägen und historisches Wissen in eine breitere Öffentlichkeit tragen, um fortgesetzter Mythenbildung über den Zweiten Weltkrieg entschieden entgegenzutreten.
[1] Siehe beispielhaft dazu: Jeff Mankoff, Babi Yar and the Struggle for Memory, 1944-2004, in: Ab Imperio (2004) H. 2, S. 393-415.
[2] Christina Morina, Legacies of Stalingrad. Remembering the Eastern Front in Germany since 1945, Cambridge 2011.
[3] Christian Hartmann, Johannes Hürter und Ulrike Jureit (Hg.), Verbrechen der Wehrmacht: Bilanz einer Debatte, München 2014.
[4] Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren, in: die tageszeitung, 21.6.2021, S. 2-9.
[5] Jochen Hellbeck, Ein Vernichtungskrieg gegen die Bevölkerung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.6.2021, letzter Zugriff am 24.9.2021.
[6] Reinhard Veser, Die langen Nachwirkungen des Vernichtungskriegs, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.6.2021, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[7] Joachim Käppner, Der vergessene Krieg, in: Süddeutsche Zeitung, 22.6.2021, letzter Zugriff am 24.9.2021.
[8] Maximilian Terhalle: Steinmeiers Russland-Komplex, in: Cicero Online, 21.6.2021, letzter Zugriff am 22.9.2021.
[9] Wladimir Putin, Offen sein, trotz der Vergangenheit, in: Die Zeit, 22.6.2021, URL: <>, letzter Zugriff am 23.9.2021. Die ZEIT publizierte eine Reihe von Antworten auf Putins Artikel, siehe z.B.: Martin Schulze Wessel, Putins Mythen, in: Die Zeit, 25.6.2021, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[10] Ukrainischer Botschafter boykottiert Gedenken mit Steinmeier, in: Süddeutsche Zeitung, 16.6.2021, letzter Zugriff am 22.9.2021.
[11] „Für Steinmeiers Rede hätte ich mir einen anderen Ort gewünscht“, Marie-Luise Beck im Gespräch mit Jasper Barenberg, Deutschlandfunk, 18.6.2021, letzter Zugriff am 22.9.2021.
[12] Bündnis 90. Die Grünen. Bundestagsfraktion: Online-Fachgespräch Gedenken und Verantwortung, letzter Zugriff am 22.9.2021.
[13] Die Linke. Landesverband Berlin, Gedenkveranstaltung am 21.6.2021: Vor 80 Jahren: Überfall auf die Sowjetunion, letzter Zugriff am 22.9.2021.
[14] Alle Reden sind einsehbar: Fraktionen gedenken des Überfalls auf die Sowjetunion vor 80 Jahren, 9.6.2021.
[15] AfD-Co-Parteichef auf Mission in Moskau, in: Stuttgarter Zeitung, 24.6.2021, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[16] Die Rede ist online zu finden: Rede von Björn Höcke live bei der Jungen Alternative AfD - Dresdner Gespräche, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[17] Gauland: Hitler nur „Vogelschiss“ in deutscher Geschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.6.2018, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[18] Siehe dazu z.B.: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Präventivkrieg?: Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt a. M. 2011.
[19] Stefan Scheil, Annäherung an die historische Wahrheit, in: Junge Freiheit. Wochenzeitung für Debatte, 22.6.2021, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[20] Götz Kubitschek, Der deutsche Angriff, Gauland und Scheil, in: Sezession, 22.6.2021, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[21] Ebd.
[22] Erik Lehnert, Steinmeier in Berlin, Chrupalla in Moskau, in: Sezession, 23.6.2021, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[23] Kubitschek, Der deutsche Angriff.
[24] Höckes Werben um einen russischen Bündnispartner konnte man bei einem Auftritt am 3. März 2016 in Sonnenberg beobachten. Dabei bemühte der ehemalige Geschichtslehrer Höcke auch die gemeinsame Geschichte – freilich mit einer eigenen Interpretation und Selektion einer romantisierten deutsch-preußischen Geschichte, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[25] Eine Aufzeichnung der Veranstaltung ist online einsehbar, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[26] Josef Kraus, Vor 80 Jahren begann „Operation Barbarossa“ – Angriff auf die UdSSR, in: Tichys Einblick, 20.6.2021, URL, letzter Zugriff am 23.9.2021. Ähnliches war bei Jürgen Elsässer zu lesen: Jürgen Elsässer, 80 Jahre Unternehmen Barbarossa: Warum die Wehrmacht in Russland geschlagen wurde, in: Compact, 22.6.2021, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[27] Josef Kraus, Vor 80 Jahren (Anm. 26).
[28] Zu Leningrad, siehe: Jörg Ganzenmüller, Das belagerte Leningrad. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern, Paderborn u.a. 2007. Zur Planung und Durchführung der Hungerpolitik in der Sowjetunion insgesamt, siehe: Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht: deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion, 1941-1944, München 2008, bes. S. 64-66, 183-200.
[29] Josef Kraus, Vor 80 Jahren (Anm. 26).
[30] Kraus, Vor 80 Jahren (Anm. 26).
[31] Rainer Zittelmann, 22. Juni 1941 – Warum Hitler Russland erobern wollte, in: Tichys Einlbick, 22. 6.2021, letzter Zugriff am 23.9.2021.
[32] Ekaterina Makhotina hat mehrere Projekte zu Orten des Zweiten Weltkriegs „vor der Haustür“ mit Studierenden ins Leben gerufen: "Bonner Leerstellen, Lehrstätten" und "Münchner Leerstellen", letzter Zugriff am 23.9.2021.