Oberfeldwebel Olena Kushnir, Feldärztin der ukrainischen Streitkräfte, starb Mitte April 2022 in Mariupol. Kurz vor ihrem Tod wandte sie sich mit einem Videoappell an die Öffentlichkeit. Man müsse über die Aufhebung der Blockade der Stadt sprechen, um tausende Schwerverletzte zu retten und die Verstorbenen anständig beizusetzen. „Wir wollen nicht postum Helden und Märtyrer sein. Die Menschen wollen leben und die zerstörte Ukraine wiederaufbauen“, sagte sie mit leicht zitternder Stimme. Schon zu Beginn dieses Krieges verlor Kushnir ihren Geliebten. Nun fiel auch sie in der umkämpften Hafenstadt. Zurück bleiben ein kleiner Sohn und dieses Video einer verzweifelten Feldärztin, die den Verletzten nicht mehr helfen kann.
Nach Angaben ukrainischer Journalist*innen befinden sich in Mariupol nur noch circa 100 Kombattantinnen (Stand 17.04.22). Insgesamt kämpfen mehrere zehntausend Frauen in den Streitkräften der Ukraine. Seit den Ereignissen auf dem Majdan und dem Krieg im Donbass ist die Zahl der Soldatinnen deutlich gestiegen. Im Jahr 2021 waren mehr als 30.000 Frauen in der ukrainischen Armee. Offiziell liegt der Frauenanteil somit bei circa 15 Prozent. Eine solch hohe Beteiligung von Frauen ist einerseits mit der wachsenden Militarisierung der ukrainischen Gesellschaft und dem Aufbau der professionellen Armee in den letzten Jahren zu erklären. Andererseits spielt sicherlich die historische Erfahrung der Involvierung von Ukrainerinnen in militärische Auseinandersetzungen eine gewichtige Rolle.
Zu einer Schnittstelle der Orientierung an der Vergangenheit wurden die Majdan-Proteste. Während der Ereignisse im Winter 2013/2014 engagierten sich Frauen stark: Von der Verteidigung der Barrikaden bis zur Verpflegung der Protestierenden wurden sie in der Öffentlichkeit als aktive politische Akteurinnen zunehmend sichtbar. Dieses Agieren wie auch die Majdan-Ereignisse insgesamt lösten einen Paradigmenwechsel weiblicher Identitäten aus: Die „alten“ sowjetischen Heldinnen hatten endgültig ausgedient. Stattdessen galten nun Ukrainerinnen, die im Ersten Weltkrieg in Militäreinheiten gedient oder Teil der ukrainischen nationalistischen Bewegung der 1920er bis 1950er Jahre gewesen waren, als Vorbild und zur Vergleichsprojektion.
Für die Beteiligung ukrainischer Frauen im Ersten Weltkrieg ist wohl der Fall von Olena Stepaniv, einer Historikerin und Geographin, die als eine der ersten Frauen in den Krieg zog, das prominenteste Beispiel. Die Mobilisierung von Stepaniv ist auf die Entstehung mehrerer paramilitärischer Organisationen in Galizien zurückzuführen. Bereits vor dem Krieg schloss sie sich der Fraueneinheit des ukrainischen Militärverbands „Sičer Schützen“ an, dessen Mitglieder an der Seite Österreich-Ungarns kämpften. Nach mehreren Absagen gelang es ihr schließlich, den Truppen der österreich-ungarischen Armee zugewiesen zu werden, wo sie als reguläre Soldatin diente und kurz darauf den Grad eines Fähnrichs verliehen bekam. Stepaniv war dabei keine Ausnahme. Mehrere ukrainischen Frauen dienten als Kurierinnen, Sanitäterinnen oder Infanteristinnen. Meistens kleideten sie sich als Männer und gaben falsche (männliche) Namen an, um mit der Waffe kämpfen zu dürfen.
Das Beispiel von Stepaniv und anderer Soldatinnen des Ersten Weltkriegs sollte später im Kontext der ukrainischen nationalistischen Bewegung in Ostgalizien[1] als eines der Vorbilder für die historische Stärke ukrainischer Frauen gelten. Generell setzte sich die Erinnerung an die ukrainischen Kämpfer*innen kontinuierlich nach dem Krieg fort und wurde zum integralen Teil der politischen Kultur der ukrainischen Öffentlichkeit in Galizien in der Zwischenkriegszeit. Die Gedenktage an den Gräbern der Sič-Schützen oder der Soldaten der nach dem Ersten Weltkrieg rasch formierten Ukrainischen Galizischen Armee (UGA), waren bald mehr als reine Gedenkveranstaltungen, sondern dienten verstärkt dem Zweck der Vereinigung der ukrainischen national gesinnten Gemeinschaft mit immer vehementeren Forderungen, den Kampf um die Unabhängigkeit der Ukraine zu intensivieren und auch zu radikalisieren.
Seit den 1920er Jahren, nach dem Scheitern aller Versuche zur Bildung eines unabhängigen ukrainischen Staates in Ostgalizien, formierte sich rasch Widerstand gegen die polnische Politik. Diese nationale Bewegung war prägend für die Entstehung und Orientierung der Organisation der ukrainischen Nationalisten (OUN) und ihres Militärflügels, der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), die auch nach der in Jalta von den Alliierten vereinbarten Zuschlagung Ostgaliziens zur ukrainischen Sowjetrepublik bis in die 1950er Jahre gegen die sowjetische Staatsmacht (überwiegend in Ostgalizien, Westwolhynien und der Nordbukowina) kämpfte.
Die Geschichte der OUN und der UPA bleibt eines der umstrittensten Felder der Erinnerungskultur. Die zentrale Problematik betrifft dabei die Prinzipien der OUN, die Beteiligung von OUN und UPA an antijüdischer Gewalt, gewalttätigen Handlungen gegenüber der sowjetischen Obrigkeit sowie die partielle Kollaboration der OUN mit der deutschen Okkupationsmacht während des Zweiten Weltkriegs.[2] Im Fokus dieser Erinnerungskämpfe stehen nach wie vor die Akteure im Untergrund, die einerseits als Held*innen und Kämpfer*innen gegen den sowjetischen Machtapparat dargestellt, andererseits als Helfershelfer*innen des Nazi-Regimes stigmatisiert werden.
Auch die namhafte Beteiligung von Frauen an dieser Untergrundbewegung wirft viele Fragen nach Beitrittsmotiven, politischem Agieren, Partizipationsräumen und Darstellungsmodi auf. Dabei lassen sich sehr unterschiedliche Grade der Einbeziehung und des Mittuns feststellen. Die Teilnahme an Untergrundaktivitäten beinhaltete auch den Besitz von Waffen, was u.a. die unmittelbare Involvierung in das Kampfgeschehen bedeutete. Die meisten Frauen waren allerdings traditionell im Sanitäts- und Meldedienst tätig oder für die Lebensmittel- und Medikamentenversorgung sowie für die Aufrechterhaltung der logistischen Strukturen zuständig. Oft gingen verschiedene Funktionen ineinander über. Allerdings wurden dennoch, wie auch in anderen gewaltsam ausgetragenen Konflikten und Kriegen, die Bereiche des Privaten und des Öffentlichen zwischen den Geschlechtern neu definiert. Der Mangel an Kadern und die schwierigen Kampfbedingungen veranlassten die männliche Leitung des Untergrunds, eine stärkere Einbeziehung von Frauen zu fördern. Insgesamt ist es kaum möglich, die genaue Zahl der im ukrainischen nationalistischen Untergrund aktiven Frauen zu ermitteln. Den ausgewerteten Untergrunddokumenten, Diaspora-Nachschlagewerken und sowjetischen Verhörprotokollen zufolge müssten es mehrere Tausend gewesen sein.
Frauen kämpften aber nicht nur in der OUN und UPA, sondern auch in der Roten Armee. Unter den Rotarmistinnen, deren Zahl auf 800 000 geschätzt wird, stammten zahlreiche Kombattantinnen aus der Ukraine. Bereits in den 1930er Jahren erhielten Frauen in der ukrainischen Sowjetrepublik eine paramilitärische Ausbildung oder wurden in den damals populären Aeroklubs zu Fallschirmspringerinnen oder Pilotinnen ausgebildet. Daher waren Frauen mit Gewehr und in Militärkleidung nicht nur ein fester Teil der sowjetischen Presselandschaft, sondern auch unmittelbar der Militäreinheiten. Neben der in den Medien stark gefeierten Scharfschützin Ljudmila Pavličenko (geb. in Bila Cerkva) oder der Fliegerin Polina Osipenko (geb. nahe Berdjansk) waren mehrere tausend als Krankenschwestern, Verbindungsfrauen, Panzerfahrerinnen, Kampfpilotinnen und in anderen Funktionen in die sowjetische Armee eingebunden.
Wie im ukrainischen Untergrund verlor hier das strikt binäre Geschlechterkonzept, in dem Männer als Krieger und Frauen ausschließlich als Unterstützerinnen im Kriegsalltag erscheinen, seinen existenziellen Platz. Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten die weibliche Kriegsteilnahme in der öffentlichen Erinnerungskultur weitgehend tabuisiert wurde, kann man davon sprechen, dass sich damals die Partizipationsräume sichtlich erweiterten.
In diesem Sinne stellt sich die Präsenz von Frauen im Donbass-Krieg oder auch aktuell im Krieg in der Ukraine kein radikal neues Phänomen dar. Man kann davon ausgehen, dass die historischen Kontinuitäten in der öffentlichen Erinnerungskultur bald stärker unterstrichen werden. Vermutlich wird insbesondere eine Rückbesinnung auf die Frauen in der OUN und UPA einsetzen, deren Tätigkeit sich im Vergleich zu den Rotarmistinnen von dem sowjetischem Narrativ klar abheben lässt.
Nun gehören die historischen Abbildungen von Frauen oder auch Männern mit Gewehren und Granaten, die noch vor kurzem weit von der Realität entfernt waren, in der Ukraine heute zur traurigen Alltäglichkeit. Die Metastasen dieses Krieges breiten sich immer weiter aus. Für viele verschwanden bereits jegliche Hoffnungen. Viele Menschen verloren ihre Familienangehörigen, ihr Zuhause, erlitten physische und psychische Gewalt in den durch die russische Armee okkupierten Gebieten. Immer mehr Frauen entscheiden sich, ihr Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen.
(Anmerkung der Redaktion: Auf der Website des Verteidigungsministeriums der Ukraine finden sich Kurzporträts von Frauen in der ukrainischen Armee)
[1] In Ostgalizien wie auch in der östlichen Ukraine scheiterten alle Aktivitäten zur Bildung eines unabhängigen ukrainischen Staates. Ähnlich wie in Kyiv wurde in Lemberg im Oktober 1918 ein Nationalrat einberufen, der einen Monat später die Westukrainische Volksrepublik ausrief. Der wiedererrichtete polnische Staat aber betrachtete Ostgalizien als legitimes polnisches Territorium und erkannte die Volksrepublik nicht an. Auch die schnell gebildete Ukrainische Galizische Armee hatte den gut ausgerüsteten polnischen Militäreinheiten nichts entgegenzusetzen. Schon im Juli 1919 besetzte Polen vollständig das Territorium der Westukrainischen Volksrepublik. Die Ausdehnung der polnischen Staatsgrenzen erfolgte außerdem durch den sowjetisch-polnischen Krieg und den darauf folgenden Frieden von Riga im März 1921, in dem Sowjetrussland die Zugehörigkeit von Ostgalizien und dem westlichen Wolhynien zum polnischen Staat anerkannte. Somit gewannen in der Westukraine die neuen nach dem Zerfall Österreich-Ungarns entstandenen Nationalstaaten die Oberhand.
[2] Die OUN, die sich von Anfang an vor allem als antisowjetische Kraft sah, orientierte sich zuerst am national-sozialistischen Deutschland. Die ukrainischen Nationalist*innen hofften, mit Hilfe der deutschen Armee die territoriale Unabhängigkeit zu erkämpfen, und begrüßten den deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Die gegenseitige Loyalität hielt jedoch nicht lange an. Die Zusammenarbeit endete bald nach dem Angriff auf die Sowjetunion. Als Hauptfeind sah die OUN nach wie vor die sowjetische Macht an. Siehe dazu Frank Golczewski: Deutsche und Ukrainer 1914–1939, Paderborn 2010. Zu Thema der antijüdischen Gewalt siehe Kai Struve: Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine, München u. a. 2015. Unter den Neuerscheinungen: John-Paul Himka: Nationalists and the Holocaust OUN and UPA’s Participation in the Destruction of Ukrainian Jewry, 1941–1944, Stuttgart 2021.