von Jens Gieseke

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16. Dezember 2022

Laudatio für Rüdiger Bergien aus Anlass der Verleihung des Zeitgeschichte digital-Preises am 24. November 2022.  

 

Docupedia-Zeitgeschichte ist ein Format, das einerseits Überblicke zu grundlegenden Fragen der Fach- und Methodendebatte bietet und damit das liefert, was früher in mehr oder minder dicken Handbuchartikeln präsentiert wurde, die im Rhythmus von Jahrzehnten entstanden. Das Online-Format schafft andererseits eine Chance auf Aktualität. Es lassen sich neue Versionen schreiben, Ergänzungen, sogar zweite Meinungen (was bislang kaum genutzt wird). Ein Docupedia-Artikel gibt mithin, soviel wird von Autor:innen und Redaktion garantiert, einen möglichst umfassenden Überblick über die prägenden Begriffe, die maßgebliche Literatur und den Stand der Fachdiskussion über Theorie und Methode.

Manchmal gehen Docupedia-Artikel jedoch darüber hinaus und entstehen in einer fluiden Situation der Fachdebatte, im Moment der Neuformierung eines Themas, eines Begriffs oder einer Subdisziplin. Dann dient ein solcher Text nicht nur der zusammenfassenden Orientierung, sondern er entfaltet selbst eine formierende Wirkung im Fach.

Rüdiger Bergiens Text über die Geschichte der Nachrichtendienste, oder wie es geläufiger ist: intelligence history, hat das Potential für eine solche Wirkung. 

Geheimdienstgeschichte befasst sich, so Bergien, mit der „Beschaffung geheimen Wissens für Entscheidungsträger“. Sie hat sich in den letzten Jahrzehnten von einem Metier für „Spiogenten“-Freaks vor allem im anglo-amerikanischen Raum zu einem konstitutiven Teil der Geschichte der internationalen Beziehungen sowie der Geschichte der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts entwickelt. Bergien greift diesen Trend auf. Nicht zuletzt aufgrund der Öffnungspolitik der CIA mit ihrem „electronic reading room“, aber auch dem Bedürfnis der verschiedenen Geheimdienste und ihrer Mitarbeiter, ihre Rolle im Kalten Krieg ins rechte Licht zu rücken, entstand so ein breites Forschungsfeld, das zwischen der Etablierung gängiger Fachstandards und der Abhängigkeit von den Torwächtern vormals geheimen Materials oszillierte.

Rüdiger Bergien nimmt zwei weitere historiografische Stränge hinzu, um Geheimdienstgeschichte als Subdisziplin in einem breiteren Rahmen zu denken: dies ist zum einen die Geschichte moderner Staatlichkeit, zu der jenseits der eng mit Militär und internationaler Diplomatie verknüpften Spionage vor allem die Schaffung von innenpolitischen Überwachungsinstitutionen gehört. Hierzu ist mittlerweile ein breiter Wissensfundus entstanden, nicht zuletzt, weil die Öffnung der Hinterlassenschaften kommunistischer Geheimpolizeien tiefe Einblicke in Arbeits- und Denkweisen ermöglichen. Die Informantenarbeit und ihre gesellschaftlichen Folgen, die Ausdehnung opulenter Sicherheitsbürokratien oder die Methoden des geheimpolizeilichen Verhörs lassen sich verstehen als extreme, aber keineswegs auf die Gegenwelt des Ostblocks beschränkte Aspekte der Geschichte von Institutionen, die Aufgaben von politischer Kontrolle und Disziplinierung mit verdeckten Mitteln wahrnehmen.

Als dritte Forschungstradition nimmt Bergien die Demokratiegeschichte hinzu, repräsentiert vor allem durch die Arbeiten der Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des Bundesnachrichtendienstes. Sie entstand im Kontext der so genannten Behördenforschung zu NS-Kontinuitäten in der jungen Bundesrepublik und liefert zugleich eine kritische Analyse der Spionageleistungen mit dem Blick auf die rechtsstaatliche und demokratische Umhegung des geheimen Operationsraums des BND.

Die drei Perspektiven konstituieren, so Bergien, gemeinsam den Untersuchungsraum der „intelligence history“ als Subdisziplin einer Kultur- und Politikgeschichte staatlichen Handelns in Krieg und Frieden. Er plädiert dafür, sich nicht auf das westliche Modell des Nachrichtendienstes zu fixieren, sondern „alle Formen geheimer Wissensproduktion bzw. verdeckter Einflussnahme auf Staaten und Gruppen ein[zu]beziehen, unabhängig davon, ob es sich bei dem Akteur um einen westlichen Nachrichtendienst, eine kommunistische Geheimpolizei oder auch um einen privatwirtschaftlichen Nachrichtendienst handelt.“

Die Herausforderung, Geheimdienstgeschichte zu schreiben, bleibt von der besonderen Problematik des Quellenzugangs geprägt. Die Forschung steht und fällt mit der Frage, ob und auf welche Weise das zeitgenössisch in aller Regel unzugängliche Schriftgut deklassifiziert und dem kontrollierenden Zugriff der Geheimdienste oder ihrer vorgesetzten Dienststellen für unabhängige Analysen entzogen werden kann. Diese Beschränkung, die wir – mutatis mutandis – auch auf anderen Feldern wie etwa der Unternehmensgeschichte kennen, hat eine positive Kehrseite: Der große Vorzug der Intelligence History gegenüber der Analyse geheimdienstlichen Handelns in der Gegenwart liegt – im Idealfall – darin, dass sie mit zuvor geheimen Quellen arbeitet und auf diesem Wege Einblicke und Einsichten in die Arbeit von Geheimdiensten und ihre Rolle im politischen und historischen Prozess gewinnen kann, die über die tagespolitischen Muster von Skandalisierung und Wagenburgmentalität hinausgehen.
Das neue Fach hat mittlerweile auf brutale Weise eine zusätzliche Bedeutung bekommen. Ob es das Selbstverständnis der früheren KGB-Tschekisten an der Spitze Russlands ist oder der Stellenwert der technischen Spionage mit Funk, Satellitenfotos und dem Abschöpfen von digitalen Massendaten für die Selbstverteidigung der Ukraine – viele Entwicklungen lassen sich mit Kenntnissen aus der Zeit des Kalten Krieges besser nachzeichnen.

Wie Bergien herausarbeitet, ist es die Vielfalt der mittlerweile erreichten Aktenzugänge und der historiografischen Perspektiven, die sowohl ein genaueres Wissen darüber ermöglicht, was die Historiker:innen (noch) nicht kennen, als auch durchaus so etwas wie ein übergreifendes Gesamtbild einer Zeitgeschichte der Spionage und Geheimdienstarbeit ermöglicht.